Freitag, 10. Juli 2015

William Morris.

aus beta.nzz.ch, 27.6.2015, 05:30 Uhr                                                    Woodpecker tapistry

Der britische Designer William Morris
Schönheit als Grundbedürfnis
Über England hinaus wird der Künstler, Schriftsteller, Entrepreneur und Aktivist William Morris bis heute geehrt. In und um London ist sein Erbe in Wohnhäusern, Museen und einer Galerie lebendig.

Von Marion Lönhoff

William Morris war unermüdlich. In der Arbeit, beim Reden, Tun und Denken. Eine Karikatur zeigt ihn beim Vorlesen aus einem seiner Werke, während sein Freund Edward Burne-Jones auf einem Stuhl einnickt. Burne-Jones hatte die Karikatur gezeichnet, aber Morris nahm es ihm nicht übel. Als Morris 1896 mit 62 Jahren starb, diagnostizierte ein Arzt, dass William Morris an seinem eigenen Enthusiasmus gestorben sei. In den Nachrufen wurde er vor allem für seine Arbeit als Dichter, Übersetzer, Architekt und Entwerfer gepriesen. Die sozialistische Presse hingegen konzentrierte sich auf seinen Einsatz als Aktivist der sozialistischen Bewegung in Grossbritannien.

Morris und Warhol

William Morris gehörte mit seinen Talenten zu den Stars der Bewegung des Ästhetizismus, zu deren Kennzeichen die wechselseitige Durchdringung der Künste und das Ineinandergreifen von Kunst und Kunsthandwerk gehörten. Dabei lehnte sie sich gegen den Wildwuchs des Materialismus und die Hässlichkeit des Industriezeitalters mit seinen maschinell gefertigten Produkten und niedrigen Design-Standards auf. Morris war den Präraffaeliten eng verbunden, wirkte als Triebfeder der britischen Arts-and-Crafts-Bewegung und beeinflusste – im Zuge der Mittelalternostalgie seiner Zeit – die Wiederbelebung traditioneller Methoden der Stoffherstellung. Sogar das Tapetendesign revolutionierte er und befand, dass die Tapete integraler Bestandteil der Einrichtung sei. Morris gab die Stilregel aus: «Think first of your walls.» Seine Entwürfe sind immer noch erhältlich und zieren wie zu seinen Lebzeiten die Wände der Häuser von Künstlern – etwa desjenigen der Schriftstellerin A. S. Byatt – und von gutbürgerlichen Liebhabern von Kunsthandwerk und Mustern aus Flora und Fauna.
 Acanthus Wallpaper 1875

Doch Morris besass auch eine andere Seite. Er verschrieb sich mit 49 Jahren der Idee des revolutionären Sozialismus, nahm an Protestmärschen und Zeitungsgründungen teil und verlieh seiner politischen Überzeugung in Vorträgen Ausdruck, die er im ganzen Land hielt. In seinem utopischen Roman «News from Nowhere» (1893) entwarf er das Bild eines Lebens ohne soziale Unterschiede, im Grünen, inmitten handgefertigter Waren. Das Buch galt als erste «Ecotopie», eine ökologische Utopie. Kein Wunder, dass Morris später zu den gedanklichen Vätern der Gartenstadtbewegung gezählt wurde, die im ausgehenden 19. Jahrhundert als Antwort auf die graue Reaktion Londons und anderer Städte von Sozialreformern proklamiert wurde: Statt eines unkontrollierten Wachstums der Grossstädte forderten sie Neugründungen von Städten im Umland, die durch Landwirtschaftsgürtel voneinander getrennt sein sollten. Einem der einflussreichsten englischen Designer, Möbelhersteller und Unternehmer, Terence Conran, wurde Morris zum Vorbild. Auch Künstler, Schriftsteller und Filmemacher wie Byatt, Edmund de Waal und Ken Loach bekunden ihre geistige oder politische Verwandtschaft mit ihm.
 St. George's cabinet

Überhaupt erlebt William Morris derzeit eine Renaissance. Der Turner-Prize-Gewinner Jeremy Deller eröffnete im Dezember eine Ausstellung über Morris und Andy Warhol in Oxford, die noch bis zum 6. September in Birmingham (Museum & Art Gallery) zu bewundern ist. Zwischen Morris und Warhol zieht Deller – mässig tragfähige – geistige Verbindungslinien. Die Morris Gallery in London ist stolz darauf, mit einer Sonderausstellung von Yinka Shonibare, einem ebenfalls international bekannten Künstler, ihr Profil zu heben. Doch nicht nur in England ist Morris lebendig: Der New Yorker Modedesigner Marc Jacobs, dessen Interesse am Schaffen von Morris weit zurückreicht, verwendete dessen Muster für seine Herbst/Winter-Kollektion 2015/16. Dabei werden Morris' florale Motive mit Streetwear-Schnitten und seinen politischen Slogans kontrastiert.
Brombeerranken, Tapete 1915

Im vergangenen Jahr trat eine Ausstellung in der National Portrait Gallery an, Morris' radikale politische Ideen zu erkunden. Sie tat dies, indem sie Weggefährten, Freunde und Mitstreiter in Wort und Bild auftreten liess, darunter viele längst vergessene Marxisten und Anarchisten. In England begann ein breiteres Publikum sich erst in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren an Morris als linken Politiker zu erinnern, wie Anna Mason weiss, die Direktorin der Morris Gallery in London: Diese Entwicklung nahm im Fahrwasser seines 100. Geburtstags im Jahr 1996 ihren Anfang – mit zunehmendem journalistischem Interesse, einer vielbeachteten Biografie von Fiona McCarthy und mit einer grossen Ausstellung im Victoria & Albert Museum. Zuvor hatte man den vielseitig Begabten in England vor allem als Künstler, Designer und höchst erfolgreichen Unternehmer einer Firma betrachtet, die gefällige Luxusprodukte herstellte und weltweit – auch nach Kanada, Amerika und Australien – verkaufte.
Davids Auftrag an Salomon, Trinity Church, Boston, Mass., USA (gemeinsam mit Burne-Jones)

«Morris & Co.» produzierten unter anderem Möbel, Schnitzereien, Metallarbeiten, Tapeten und Stoffe. Besonders populär waren auch farbige, bleiverglaste Fenster, die zur neogotischen Architektur passten. Die Firma zählte zu den einflussreichsten Herstellern von Möbeln und Einrichtungsgegenständen ihrer Zeit, mit einem Geschäft in der Oxford Street, unweit von ihrem Konkurrenten Liberty's. Selbst in den Luxuskabinen der «Titanic» waren Morris-Wandbespannungen anzutreffen. En vogue waren auch seine eigenen, von ihm selbst gestalteten Wohnhäuser, in denen er als grosszügiger Gastgeber residierte. Dabei eiferte das zeitgenössische Publikum dem Geschmack der exquisit ausgestatteten Künstlerhäuser nach.
Stoffmuster Strawberry Thief 1883

Kunst und Sozialismus

Die Aristokratie, Künstler und das gehobene Bürgertum begeisterten sich gleichermassen für den Stil der Arts-and-Crafts-Firma. Zugleich begannen sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Klassenstrukturen bereits zu verschieben, ebenso wie die Rolle des einst als Bohémien und Aussenseiter wahrgenommenen Künstlers, der nun zum Trendsetter wurde. Die Mittelklasse wuchs und wollte sich ebenfalls stilvoll einrichten. Dabei passte die fashionable Klientel nicht zu den sozialistischen Überzeugungen des Designers, der Schönheit für ein Grundbedürfnis hielt und Kunst und Bildung jedermann zugänglich machen wollte.
Bis heute fasziniere und irritiere dieser Widerspruch in seinem Wirken, betont die Direktorin der William Morris Gallery in Walthamstow, Anna Mason. War seine sozialistische Vision mehr als eine nostalgische Sehnsucht nach mittelalterlicher Handwerkskunst? Liess sich die Fabrikation von Luxuswaren mit seinem Einsatz für die einfachen Arbeiter verbinden? Und wie ist Morris' Selbstverständnis als Advokat eines einfachen und – aus heutiger Sicht – politisch korrekten Lebens zu lesen unter Berücksichtigung der opulenten Ambiente, die er schuf? Morris, selbst in Herrenhäusern aufgewachsen, beklagte diesen Umstand in derben Worten: «It's only that I spend my life in ministering to the swinish luxury of the rich.»
alles Handarbeit

Für Anna Mason sind diese Zusammenhänge ganz einfach: Morris kam durch die Kunst zum Sozialismus. Er strebte an, für jedermann erschwingliche Waren von höchster Qualität, Schönheit und Langlebigkeit herzustellen. Die Frustration über die scheinbare Unmöglichkeit, diese Idee in die Tat umzusetzen, habe ihn politisiert. Doch damals wie heute waren exklusive, handgefertigte Waren teuer, und Morris war nicht in der Lage, die Preise zu senken. Einer Form des Sozialismus, wie er Friedrich Engels vorschwebte, der ihn als «sentimentalen Sozialisten» bezeichnete, war der individualistische Morris sicher nicht zugeneigt.
Fliesen, 1876

Vollständig lösen sich die Widersprüche und Reibungsflächen in Morris' Leben und Werk nicht auf, wie sein Ausspruch über den «schweinischen Luxus der Reichen» zeigt. Denn der clevere Geschäftsmann mit starkem Sinn für das Branding seiner Marke war nicht nur ein frommer Weltverbesserer der Linken, sondern auch Ausstatter luxuriöser Wohnräume. Doch strebte er danach, die Welt zu verändern, und dies, so Anna Mason, in sehr tatkräftiger, praktischer Weise.
Einige der von ihm selbst bewohnten und gestalteten Häuser können übrigens noch heute besichtigt werden: etwa das Red House in Bexleyheath südlich von London, Kelmscott Manor in Gloucestershire oder das Kelmscott House in London, in dessen Kellergeschoss Morris allwöchentlich sozialistische Versammlungen abhielt. An diesen nahmen Prominente wie Oscar Wilde und der Komponist Gustav Holst teil.
Red House

Vor zwei Jahren wurde die William Morris Gallery in Walthamstow im Nordosten Londons restauriert – alle Morris-Häuser kooperieren übrigens eng miteinander und verstehen sich als «William Morris Network». Die grosszügige, um 1750 erbaute Villa, in der Morris seine Jugend verbrachte, ist mit einer umfangreichen Bibliothek, ansprechend präsentierten Ausstellungsstücken und einem Archivbestand von mehreren tausend Objekten einen Besuch wert: Sie vermittelt ein ausgewogenes Bild von Morris, dessen Verdienste sie umfassend zu würdigen anstrebt. «Die William Morris Gallery ist ein idealer Ausgangspunkt für alle, die sich für Morris interessieren. Sie bietet den grossen Überblick über sein Werk und besitzt weltweit die umfassendste und grösste Sammlung seiner Arbeiten in allen Medien», so ist die Direktorin der Galerie überzeugt.
Kohl und Wein, Wandstoff, 1879

Weitere Morris-Originale – deren Echos noch Generationen später in der Innenausstattung vieler Bürgerhäuser vernehmbar waren – finden sich auch in Kirchen und an öffentlichen Orten in England. Einer davon sind die Armoury and Tapestry Rooms in St James's Palace: ein besonders prestigeträchtiger Auftrag für die damals noch junge Designfirma. Und noch heute kann sich jeder in dem von Morris gestalteten grünen Dining-Room des Victoria & Albert Museum von Morris' grosszügigem Geschmack und seiner Neigung zur Üppigkeit überzeugen. Der Dining-Room war das erste Museumsrestaurant der Stadt, ein herrlicher Raum, der immer noch genutzt wird. Auch im Museumsshop des V&A hat man ihn nicht vergessen. Der bietet gar eine Gipsbüste des Meisters feil.

Die William Morris Gallery in Walthamstow ist mittwochs bis sonntags von 10 bis 17 Uhr geöffnet. Red House in Bexleyheath ist vom 18. Februar bis zum 20. Dezember geöffnet, mit einzelnen Schliessungstagen. Kelmscott Manor in Gloucestershire ist von April bis Oktober mittwochs bis samstags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. The William Morris Society at Kelmscott House in Hammersmith ist donnerstags und samstags von 14 bis 17 Uhr geöffnet.
Tulip and willow, Entwurf, 1873

Nota. - In meiner Jugend - das war in den 50er, 60er Jahren - kam uns der Jugendstil als nicht zu überbietender Kitsch vor, aber wir begannen schon, gelegentlich mit ihm zu kokettieren, bis uns, erwachsen, klar wurde: Gegen den maßlosen Protz der wilhelminischen Gründerzeit war der Jugendstil eine Erfrischung, Erleichterung, Vereinfachung; fast ein stilistischer Purismus.

Eine Verschönerung wollte der Victorian Aestheticism jedenfalls auch sein gegenüber der geschmacklichen Verelendung seines Zeitalters. Das kann man sich kaum vorstellen, wenn man sich die Sachen ansieht. Ich habe im Internet gesucht, und am Ende habe ich dieses Bild repräsentativ gefunden für den damals herrschenden Geschmack:



Und es ist wahr, das ist von erschütternder Hässlichkeit und Trivialität. Trivial jedoch kann man die Sachen von Morris & Co. wirklich nicht nennen! Das hat aber auch einen Nachteil: Man kann sie nicht für einen Moment ignorieren. In obigem viktorianischem Ambiente würde ich's nicht eine Woche aushalten; in einer von Morris gestalteten Wohnung keine drei Tage.

Nun im Ernst: Das hat es in der Geschichte wohl kein zweites Mal gegeben: eine ästhetische Bewegung, die ausdrücklich und ausschließlich rückwärts schaut. Die deutschen Nazarener waren nur ein kleiner Teil der romantischen Bewegung, die andern hielten sich für die Vorreiter des neunen Jahrhunderts. Natürlich ist die industrielle Massenfertigung eine Herausforderung an den guten Geschmack, sei's viktorianischer Neorokkoko oder Gelsenkirchener Barock.  Eine Arts&Crafts-Bewegung war ja das Bauhaus auch, aber die wollten das Ästhetische der Industrie aufdrücken, und so richtig billig und massenverträglich waren deren Sachen auch nicht, aber: Sie haben Schule gemacht, auf der ganzen Welt. Das konnten Morris und die Präraffaeliten nicht: Irgendwann war alles gesagt, was sie zu sagen hatten, und dann sind sie verstummt. Das Beste, was man von ihnen sagen kann, ist, dass einige von ihnen dem Jugendstil das Feld bereitet haben. JE


James McNeill Whistler, Caprice in purple and gold (The golden screen) 1864

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