Mittwoch, 24. Mai 2017

Gibt es Farben wirklich?

 Braune Augen färbt das Pigment Melamin, die verschiedenen Blau-, Grün- und Grauschattierungen entstehen aus Streuung und Struktur.

Unter der Überschrift Zwischen Physik und Philosophie veröffentlichte die Neue Zürcher am 19. Mai einen Beitrag von Helga Rietz über "das Wesen der Farben".

Seit 1856, als der damals erst achtzehn Jahre alte William Henry Perkin mit dem Mauvein den ersten synthetischen Farbstoff entdeckte, habe die chemische Industrie mehrere zehntausend Farbstoffe und Pigmente herzustellen gelernt, die nicht nur einen gewaltigen Industriezweig begründet, sondern auch die Vorstellung verbretet hätten, bei den Farben handle es sich um eine rein sachliche und geradezu materielle Gegebenheit.


"Doch der Eindruck einer komplett verstandenen und durchregulierten Farbwelt täuscht. Die Physik scheitert daran, das Wesen der Farbe umfassend zu erklären. Und unter Philosophen herrscht längst noch keine Einigkeit darüber, was Farbe überhaupt ist.

Auf den ersten Blick scheint Farbe eine physikalische Eigenschaft von Gegenständen zu sein, genau wie ihre Form und ihre Oberflächenstruktur: Ein rot gefärbtes Sommerkleid absorbiert blaue und grüne Anteile des Lichts, der rote Rest wird reflektiert. Fangen die Rezeptoren in unserem Auge die reflektierten Lichtwellen auf, erkennt unser Gehirn: Dieses Kleid ist rot (auch wenn genaugenommen natürlich die roten Farbstoffe, die in den textilen Fasern hängen, für den Farbeindruck zuständig sind)."

Doch auch völlig farblose und durchsichtige Substanzen können weiß oder gar farbig erscheinen. Schnee ist weiß, weil er aus farblosen Eiskristallen besteht, die das Licht streuen und reflektieren. Auch Milch und Zucker, Papier, Nebel und wolken erschienen aus diesem Grund weiß.  

"Der wolkenlose Himmel ist tagsüber blau und am Abend rot, weil die (ebenfalls farblosen) Stickstoff- und Sauerstoffmoleküle in der Atmosphäre blaues Licht stärker streuen als rotes."



Auch an den prächtigen Farben der Pfauenfeder seien "außer ein bisschen Melanin" keinerlei Pigmente beteiligt. Es handle sich vielmehr um das Phänomen der Interferenz: Die Federn bilden "ein regelmässiges Gitter, in dem sich von Melanin dunkel gefärbte Zonen mit durchscheinendem Material und Lufteinschlüssen abwechseln. Fällt Sonnenlicht darauf, überlagern sich Reflexe von verschiedenen Ebenen des Gitters, wobei bestimmte Wellenlängen ausgelöscht, andere hingegen verstärkt werden – und die Pfauenfeder erscheint einmal rot, an anderen Stellen aber grün oder türkisblau."

Im organischen Bereich redet man von "Strukturfarben". Sie verleihent "nicht nur Federn, Schmetterlingsflügeln und den Panzern von Käfern", sondern auch blauen und grünen Augen ihren Glanz. Auch bei den rein physikalischen Farberscheinungen einer Seifenblase oder eines Ölflecks auf nasser Fahrbahn handelt es sich um Interferenz.

Mit Farbstoff, Pigment, Streuung und Struktur sind die Farben in der belebten Welt umfassend beschrieben, aber nicht die der unbelebten Natur - wie etwa der Regenbogen, ein Himmelskörper oder das Feuer. Nach einer Liste, die der österreichische Farbforscher und Chemiker Kurt Nassau 1983 zusammenstellte, gibt es fünfzehn verschiedene Mechanismen der Farbgebung.


"Bei der Beantwortung der Frage, was und warum Farbe eigentlich ist, helfen all die Details über Absorption und Reflexion an den elementaren Bausteinen der Materie freilich nicht weiter. Vielmehr erleben wir tagtäglich, dass unser Farbensehen keineswegs von der Physik determiniert ist. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür lieferte 2015 eine junge Britin, als sie die sozialen Netzwerke mit einer Fotografie ihres Kleides beglückte und dazu die simple Frage «Ist dieses Kleid blau oder weiss?» stellte – und damit eine weltumspannende, erbitterte Diskussion lostrat. Ein und dasselbe Bild löste bei der einen Hälfte der Betrachter die Wahrnehmung «blau» aus, die andere Hälfte sah «weiss»." 

Physik und Wahrnehmung sind nicht dasselbe. "Das liegt nicht etwa an der Unzulänglichkeit unserer Sehorgane, sondern vielmehr daran, dass unser Gehirn verblüffend geschickt darin ist, die von unseren Sinnen gelieferten Rohdaten sinnfällig zu ergänzen. Deswegen sehen wir den Baum vor unserem Fenster bei Morgendämmerung, Mittagssonne und bei bedecktem Himmel stets im gleichen Grünton – obwohl sich die Zusammensetzung des Sonnenlichts im Tagesverlauf derart ändert, dass das von den Blättern reflektierte Farbspektrum jeweils ein völlig anderes ist, denn unser Gehirn korrigiert Farbunterschiede, die sich aufgrund der veränderten Beleuchtung ergeben, automatisch und ohne unser bewusstes Zutun."




Dass eine bestimmte Mischung von Wellenlängen von unseren Sinnesorganen zu immer demselben eindeutigen Farbeindruck verarbeitet wird, sei offenbar ein Trugschluss.

"Kann man unter diesen Bedingungen überhaupt noch sinnvoll von einem grünen Baum, einem roten Kleid sprechen? Ist Farbe am Ende gar keine physikalische Eigenschaft, die dem Licht und den Dingen innewohnt, sondern vielmehr eine psychologische Kategorie, die ohne den (menschlichen) Beobachter gar nicht denkbar ist?"

Doch auch darüber herrscht unter den Physikeern keine Einigkeit. Alex Byrne und David R. Hilbert meinen, die Physik sei sehr wohl durchaus imstsnde, den grössten Teil der Phänomene rund um das Farbensehen zu beschreiben. Das sei "der Versuch, die Vorstellung zu retten, dass Gegenstände farbig sind."
 
Die grelle Färbung der Erdbeerfröschchen warnt vor deren Giftigkeit und soll Fressfeinde abschrecken. (Bild: Erik Joosten / Nature / Mauritius)

"Ein einheitliches Verständnis von Farbe sucht man in der Wissenschaft also auch heute noch vergeblich. Für den Alltagsgebrauch hat die Farbenindustrie derweil Normungen erfunden, die alle an die Wahrnehmung gekoppelten Probleme umgehen: 1931 machte das CIE-Normfarbsystem der Internationalen Beleuchtungskommission Farben erstmals zahlenmässig erfassbar und reproduzierbar – allerdings nur, solange die detailliert vorgeschriebenen Standards punkto Beleuchtung und Messung eingehalten werden. Ausserhalb der Colorimetrie-Labore bleibt das wahre Wesen der Farbe im Dunkeln."


Nota. - Dass Licht gewisser Wellenlängen überhaupt für uns sichtbar ist, gehört nicht zu seinen sachlichen Eigenschaften. Vielmehr hat uns die Evolution mit Sinnesorganen und den dazugehörigen Hirnregionen ausgestattet, die diese Wellen wahrnehmen können. Ultraviolett und Infrarot können wir nicht mehr sehen, aber Infrarot können wir mit technischen Hilfsmittel sichtbar machen; nur nicht als Farbe. Bienen können dagegen einen Teil der ultravioletten Wellen sehen - doch als welche "Farbe" wohl? Ob sich das Spektrum, das wir sehen, bei ihnen einfach ein bisschen nach oben verschiebt?

Doradus

Wir können überhaupt nicht wissen, wie sie das, was wir als Farben erleben, wahrnehmen. Wir können nur annehmen, dass auch sie die verschiedenen Lichtwellen unterschiedlich sehen, und nicht nur Hell und Dunkel. Ausschlaggebend ist immer, welche Wahrnehmungen für die biologische Selektion vorteilhaft sind. Ob wir die Ereignisse im tiefen Kosmos wahrnehmen, ist für die natürliche Auslese von Homo sapiens einstweilen ganz gleichgültig. Daher sehen wir dort auch keine Farben. Wir müssen die unterschiedlichen Lichtwellen hilfsweise in die Farben übersetzen, die wir aus unserm irdischen Mesokosmos gewöhnt sind - und da zeigen sie sich in einer Pracht, die sich niemand hätte vorstellen können.

Wenn irgendwo, dann ist der Streit von idealistischer oder realistischer Erkenntnislehre hier zweifelsfrei entschieden.
JE






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