Die Stadt Mardin ist ein Meisterwerk
Kleinod weit hinten in der Türkei
Die Stadt Mardin, am Nordrand des Zweistromlandes und nahe der syrischen Grenze gelegen, hat viele Völker kommen und gehen sehen. Sie ist ein architektonisches Kleinod, das in der Region seinesgleichen sucht. Nun hofft Mardin auf Anerkennung als Unesco-Weltkulturerbe.
Ein kleiner Knabe hockt in einem aus ockerfarbenen Steinblöcken gemauerten Fenster. Hier und da ragt ein Kirchturm empor. Auf der Kuppel einer Moschee sitzen Tauben. Die Wände sind vielerorts mit geometrischen Motiven versehen und mit anderen, die Pflanzen, Tieren oder Wassertropfen nachempfunden sind. Arabische Schriftzüge finden sich auf Haustüren und Keramikschildern. Komplexe Ornamente zieren Torbögen. Da ist Şahmaran, die Schlangenkönigin – für die Kurden ist sie ein Symbol der Weisheit und Fruchtbarkeit. Das Bunte, Laute und Kitschige, das man sonst mit der Türkei in Verbindung bringt, fehlt in Mardin fast völlig. Werbeschilder weisen den Weg in eine andere Wirklichkeit. Istanbul mit seinen politischen Turbulenzen ist mehr als tausend Kilometer Luftlinie entfernt. Nach Bagdad ist es halb so weit.
Ortstypischer Baustil
Am Nordrand des historischen Zweistromlands gelegen, schmiegt sich die Altstadt von Mardin in tausend Meter Höhe an einen Bergrücken, den letzten markanten Ausläufer des Kalksteingebirges Tur Abdin – aramäisch für «Berg der Knechte». Eine «Adlernest» genannte Burg, die in ihren Mauern eine 900 Jahre alte Moschee beherbergt, thront über der Stadt und soll nach der kürzlich begonnenen Restaurierung öffentlich zugänglich gemacht werden. Die alten Häuser befinden sich von der Festung an abwärts. Jedes besitzt einen Brunnen, und sie sind so gebaut, dass kaum ein Sonnenstrahl eindringen kann und man sogar tagsüber das Licht anmachen muss. Der verwendete Stein sorgt im Sommer für Kühle und im Winter für relative Wärme. Einige Häuser besitzen sogenannte Abbaras, Durchgänge, die Abkürzungen ermöglichen. Der legendäre Reisende Ibn Battuta, der 1327 von seiner Reise nach Iran und in den Irak zurückkehrte und durch das Tigris-Tal kam, soll Mardin «als eine der schönsten islamischen Städte» bezeichnet haben. Damals entwickelte sich der ortstypische Baustil, der konsequent auf Moscheen, Kirchen und Bürgerhäuser angewandt wurde.
Die rund dreissig Kilometer von der syrischen und zweihundert Kilometer von der irakischen Grenze entfernt gelegene Stadt hat etliche Völker und Machthaber kommen und gehen sehen. Frühe Zeugnisse reichen siebentausend Jahre zurück. Mardin lag an der historischen Seidenstrasse. Bis 1408 hatten die Ortokiden die Macht über die Stadt inne. Während dieser Zeit entstanden Koranschulen und Hamams, auch die Grosse Moschee Ulu Cami. 1507 schliesslich eroberten die Osmanen die Stadt. Lange war Mardin ein Knotenpunkt für den Handel, hier kreuzten sich die Strassen vom Mittelmeer nach Mesopotamien und vom Schwarzen Meer nach Syrien. Mardin war für seine Pflaumen und Galläpfel, sein Manna und seine Edelsteine bekannt. Das weite Umland galt als Kornkammer. Im 19. Jahrhundert begannen die Karawanenrouten wegen der beschwerlichen Bergpfade einen Bogen um die Stadt zu machen. Die Bevölkerung bestand aus Muslimen und syrisch-orthodoxen Christen, doch im frühen 20. Jahrhundert wurden viele Christen vertrieben und getötet. Mit dem 1923 unterzeichneten Frieden von Lausanne war Mardin auf einmal Grenzstadt und von der Hälfte seines Hinterlandes abgeschnitten. In den 1980er und 1990er Jahren gab es eine Auswanderungswelle. Christen und Kurden zog es nach Europa. Doch nun sind vereinzelt Christen zurückgekehrt.
Blick nach Syrien
Auf der Hauptstrasse trifft man auf Läden, die mit ihrem Angebot Besucher ansprechen. Mardin ist bekannt für seine aus diversen Ölen und Duftstoffen zusammengesetzten Seifen. Ein paar von Christen betriebene Geschäfte bieten Rotwein aus der Region an. Hier und da gibt es Handwerker, die Silber und Kupfer bearbeiten, Armreife und Schmuckkästchen fertigen. Der zentrale Basar zweigt von der Hauptstrasse ab. Der Gang mäandert abschüssig, nur wenig Licht dringt hinein, der Sandboden ist uneben. Das Angebot der Geschäfte ist hauptsächlich auf die Dinge des täglichen Bedarfs beschränkt. Hier befindet sich auch der Zugang zum prächtigen Emir Haman, dessen Ursprünge sieben Jahrhunderte zurückreichen.
Basar
Aufwendige Restaurierungen
Wenige Kilometer entfernt von Mardin liegt das aufwendig restaurierte Kloster Dayrulzafaran der syrisch-orthodoxen Christen, dessen Geschichte bis in das fünfte Jahrhundert zurückreicht. Hier ist auch der Erzbischof von Mardin zu Hause. Führungen werden angeboten. Bei den interessierten Teilnehmern handelt es sich nicht etwa um Besucher auf der Suche nach ihren christlichen Wurzeln, sondern um Muslime. Einige der Frauen tragen einen «türban», die Kopfbedeckung der türkischen Konservativen. – Bis vor zehn Jahren war Mardin in Reiseführern nur als Randnotiz zu finden – wegen der häufigen Konfrontationen zwischen der kurdischen PKK und dem türkischen Militär. Danach bemühte sich Mardin aufgrund seiner historischen und städtebaulichen Besonderheit um die Anerkennung als Unesco-Weltkulturerbe, zog den Antrag dann aber wieder zurück. Nun soll es einen neuen Anlauf geben. Betont wird die ethnische und religiöse Vielfalt der Stadt, in der arabisch, kurdisch, türkisch und aramäisch gesprochen wird. «Die Weltstadt Mardin soll wie ein Stern strahlen», sagt Ahmet Cengiz, der Gouverneur von Mardin. Aber es gibt ein Problem: Neue Betonbauten beeinträchtigen das historische Stadtbild. 150 Neubauten aus Beton sind schon abgerissen worden, weitere 400 sollen folgen. Doch in manchen dieser Gebäude wohnen geflohene Syrer, die hier bei türkischen Verwandten untergekommen sind, wie ein Professor erklärt, der an der Universität unterrichtet, seinen Namen aber lieber nicht in der Zeitung lesen möchte. Die AKP, Erdogans Partei, die in der Stadt das Sagen hat, muss behutsam vorgehen, weil sie keine Wähler verlieren möchte.
Der Anspruch einer «Unversehrtheit» des historischen
Stadtbildes kann nicht leicht erfüllt werden. Dennoch ist der
«aussergewöhnliche universelle Wert», das wichtigste Kriterium der
Unesco, mit dem Hinweis auf die Geschichte gegeben, und die imposante
städtebauliche Anlage der Stadt ist bis heute erkennbar. Einige der
Ladenfassaden an der Hauptstrasse werden, dem im vergangenen Jahr
zwischen der Türkei und der EU unterzeichneten «Mardin Sustainable
Tourism Project» folgend, ausgetauscht – Metallverschlagungen sollen aus
Holz gefertigten Fensterläden weichen.
Lebendige Kultur
Die Vorbereitung auf neue Zeiten ist vielerorts im Gange. Vor drei Jahren hat die Unternehmerdynastie Sabancı ein ehemaliges Armeegebäude restauriert und darin ein Museum eröffnet, das die vielschichtige Historie der Region vermittelt und zeigt, wie sehr sich die kulturellen Bräuche von Muslimen und Christen durch die jahrhundertelange Koexistenz angenähert haben. Kürzlich wurden die ersten Absolventen der Mardin-Artuklu-Universität verabschiedet. Schon zweimal gab es die Mardin-Kunstbiennale, und im vergangenen Mai fand zum mittlerweile neunten Mal das Filmfestival Sine Mardin statt. Inzwischen trifft man auf Boutique-Hotels in alten, aufwendig restaurierten Bauten der Altstadt, die gehobene Gastlichkeit anbieten. Das neue Flughafengebäude an der Verbindungsstrasse zum weiter östlich gelegenen Kiziltepe ist so gut wie fertiggestellt. Obwohl immer mehr Touristen – meist türkische – nach Mardin kommen, widersetzt sich die Stadt jener geruhsamen Musealisierung, die man aus vielen europäischen Altstädten kennt. Dennoch ahnt man, dass Mardin sehr bald aus seinem Schlaf erwachen wird, ob mit oder ohne Segen der Unesco.
Nota. Die obigen Fotos gehören mir nicht, ich habe sie im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
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