Samstag, 9. August 2014

Neurologie des Dichtens.

aus NZZ, 31. 8. 2013

Nervöse Vorgänge 
Über kreative Prozesse, über Schreiben und Lesen sowie andere Hirnaktivitäten

von Arnaldo Benini 

Die kognitiven Neurowissenschaften haben Grenzen, aber sie versuchen sich auf ihre Weise der Frage zu nähern, wie Denken und Sprechen, wie Dichtung und Musik im Lichte von neuronalen Aktivitäten zu begreifen wären.

Schreiben und Lesen sind nervöse Vorgänge, die einen grossen Teil der Hirnrinde beanspruchen. Vor etwa zwei Millionen Jahren sind Primaten durch die Evolution der präfrontalen Hirnrinde und der zerebralen Sprachzentren selbstbewusst geworden. Aus dem «wilden und staunenden Ungeheuer», von dem der Philosoph Giambattista Vico gesprochen hat, hat sich die menschliche Spezies entwickelt. Dank dem präfrontalen Gehirn denkt das menschliche Bewusstsein über sich selbst und die Welt mittels der «inneren» Sprache nach. Seither gibt es die kulturelle Evolution, zu der auch die Dichtung gehört. Die Reflexion ist ein linguistischer Vorgang, der sich in Arealen der präfrontalen Hirnrinde abspielt. 

Schönheit und Schrecken

Die Sprachzentren verleihen nicht nur dem Denken eine Stimme, sondern auch den Gefühlen und den Phantasien. Das emotionale Leben in all seinen Ausprägungen ist beiden limbischen Systemen, die sich in der Mitte des Gehirns auf der Höhe der Schläfen befinden, zugeordnet. Sie sind mit den Zentren der Erinnerung, der Rationalität, der Sprache, des Zeitsinnes und der Raumwahrnehmung verbunden. Was diese Zentren «ausarbeiten», wird zur bewussten Erfahrung, wenn es in Form von elektrochemischen Informationen zur präfrontalen Hirnrinde gelangt. Die Informationen, welche die präfrontale Hirnrinde nicht erreichen, beeinflussen den Gemütszustand und die Reflexion, selbst wenn sie unbewusst bleiben. Die Mechanismen der Emotivität im limbischen System sind für den Sinn des Lebens und für das Verhalten ebenso wichtig wie jene der Rationalität, mit denen sie verknüpft sind.

Indem es sich zum Objekt des eigenen Nachdenkens macht, nimmt das Selbstbewusstsein die Komplexität, die Ambiguität, die Widersprüche, die Unsicherheiten, Schönheiten und Schrecken der Existenz wahr. Die Wechselfälle der Existenz wurden zuerst mündlich, dann, vor etwa viertausend Jahren, auch schriftlich erzählt. Aus den nervösen Mechanismen des Selbstbewusstseins entstanden Literatur und Poesie. Das Erschaffen und Erzählen von Geschichten und das Vergnügen, sie als Märchen, Erzählungen, Gedichte, Tragödien oder Dialoge zu hören oder zu lesen, entsprechen einer fundamentalen menschlichen Neigung. Literatur und Poesie oder auch die Musik sind nicht der Wahrheit verpflichtet. Das Gefühl, das die Kunst vermittelt, ist eine von der Rationalität und Moral ihres Inhalts unabhängige Erfahrung. Elegische und tragische Komponisten, witzelte Descartes, hatten desto mehr Erfolg, je mehr Tränen sie uns entlockten. Gelesene oder gehörte Gedanken können eine Biografie ändern. Ein Gedicht oder ein Musikstück kann ausdrücken, was man auf andere Weise nicht vermitteln kann. Eine Novelle oder ein Roman können mehr über das Leben sagen als ein Tatsachenbericht. 

Affektivität und Plastizität

Die Sprachzentren in der linken Hirnhälfte nehmen bis zum Alter von vierzehn Jahren mühelos Sprachen und Dialekte der Umgebung, in der man aufwächst, auf. Später benötigt das Erlernen einer Sprache Fleiss und Disziplin, und man beherrscht sie weniger gut als die Muttersprache. Eine Zweitsprache wird von Hirnzentren erworben, die hinter jenen für die Muttersprache liegen. Mehrsprachige Schriftsteller verwenden normalerweise nur eine Sprache für ihr literarisches Werk. Die nervösen Mechanismen der bevorzugten Sprache sind wahrscheinlich enger mit den Zentren der Affektivität und der Vernunft verknüpft als diejenigen anderer Sprachen, selbst wenn man diese perfekt spricht. Elias Canetti, der von den von ihm beherrschten Sprachen sowohl für die Belletristik als auch für die Essayistik Deutsch bevorzugte, erläutert die Gründe für seine Wahl in «Die gerettete Zunge», dem ersten Band seiner Autobiografie.
  
Beethoven, 1823.

Claudio Magris lässt die Figur einer seiner Erzählungen («Das andere Meer») sagen, Griechisch und Deutsch seien «die beiden unverzichtbaren Sprachen, vielleicht die einzigen, in denen sich fragen lässt, wie die Dinge entstehen und wie sie vergehen». Die Umstände des Lebens können eine Sprache zur Qual werden lassen. Georg Steiner bezeugt, wie verzweifelt Paul Celan darüber war, dass er nur mit Deutsch, seiner Muttersprache, in die Tiefe seiner Seele vorzudringen vermochte, mit der Sprache jener, die seine Familie vernichtet hatten.

Der Stimulus des Zuhörens, Lesens und Schreibens schafft Verbindungen zwischen den Gehirnregionen des Sehens, des Gehörs, der Bedeutungserkennung, des Inhalts und des emotionalen Beiklangs der Wörter und beim Schreiben auch zwischen den motorischen Zentren der Hand- und Armmuskulatur. Es ist nicht verwunderlich, dass sich Handschriften voneinander unterscheiden und es äusserst schwierig ist, sie zu fälschen, denn es gibt kein Hirn, das gleich ist wie ein anderes. Die Verbindungen zwischen den verschiedenen Regionen der Hirnrinde sind desto schneller und effizienter, je plastischer das Gehirn ist. Die Plastizität des Gehirns besteht in der Fähigkeit, sich aufgrund von Erfahrungen, Gedanken und Vorstellungen zu ändern. Wörter und Sätze, Bilder, Gestalten, Beziehungen, Gedanken und Emotionen werden elektrochemisch verarbeitet und die Impulse an die zuständigen Regionen der Hirnrinde weitergeleitet.

«Die Sprache ist bedeutungsvoll, weil sie Gedanken ausdrückt, die sich auf etwas beziehen», sagt der Philosoph Wilfrid Sellars. Mit der gesprochenen und geschriebenen Sprache besitzt das Selbstbewusstsein nach einer Entwicklung, die Jahrtausende gedauert hat, die Instrumente, um sich selbst zu erforschen. Literatur und Poesie sind eine modulierbare Vermittlung des Bewusstseins, von der wir mehr lernen, als was uns Psychologie und Soziologie vermitteln. Die Schrecken des Krieges in den Schützengräben drangen dank Werken wie «Im Westen nichts Neues» von Erich Maria Remarque oder «Heldenangst» von Gabriel Chevallier stärker ins Bewusstsein als durch jede historische oder militärmedizinische Abhandlung. Dickens, Balzac, Zola, De Roberto, Thomas Mann und andere Autoren haben die gesellschaftlichen Veränderungen, mit denen sich die Menschheit des 19. Jahrhunderts konfrontiert sah, auf eine Weise ausgeleuchtet, die sich dem kollektiven Bewusstsein deutlicher einprägte als historische oder soziologische Werke. Die Literatur erzählt die Odyssee des menschlichen Gehirns. 

Der Körper liest mit

Literatur beeinflusst den Gemütszustand und auch den Körper des Lesers. Die körperlichen Auswirkungen der Lektüre werfen ein neues Licht auf die Mechanismen, die dem Bewusstsein die von den Wörtern geschaffenen Stimuli übermitteln. Die Lektüre von Substantiven, Verben und Adjektiven mit negativem Inhalt (Krieg, Nazismus, foltern, zerstören, infam, tot . . .) und diejenige von Wörtern mit positivem Inhalt (Liebe, Freiheit, lachen, küssen, grossartig . . .) bewirken unterschiedliche Veränderungen der Pupillen, der Pulsfrequenz und der Färbung der Haut. Wörter mit starkem emotionalem Inhalt (die «Tabuwörter») verlangsamen die Lektüre, weil die nervösen Mechanismen ihre Wahrnehmung bremsen. Wenn man den Satz liest: «Der Dichter schrieb die Gedichte mit Tinte» ist die Gehirnaktivität anders als beim ähnlichen, aber sinnlosen Satz: «Der Dichter schrieb mit Butter.» 

Wenn wir in einem Sportbericht lesen, ein Fussballer habe mit dem rechten Fuss ein Tor erzielt, werden im Gehirn nicht nur die Sprachregionen, sondern auch die für den rechten Fuss zuständigen motorischen Zentren aktiviert, obwohl sich der Fuss nicht bewegt. Wenn wir nach mehrmaliger Lektüre des Fussballberichtes mit dem rechten Fuss einen Ball treten, tun wir es genauer als vorher. Lesen und Zuhören vermitteln den Hirnzentren visuelle oder akustische Signale, die das Bewusstsein als Wörter mit Bedeutung, Sinn, Ton, Rhythmus, Bild und Emotion erreichen. Ein Text ist nur ein Gekritzel, solange er von einem Gehirn nicht gelesen und verstanden wird.

Undurchdringliches Rätsel

Das Selbstbewusstsein erforscht durch die Poesie jene verborgenen und geheimen Winkel der Seele, die es in der Sprache der Prosa nicht beschreiben könnte. Das Rätsel der Poesie ist nicht nur für Ästhetikforscher und Literaturwissenschafter, sondern auch für Naturwissenschafter nahezu undurchdringlich. Warum stimulieren Wörter, die in einer bestimmten Reihenfolge stehen, das limbische System und einen Teil der vorderen Hirnrinde bis zu jenem Punkt, an dem die unaussprechliche Schönheit der poetischen Kunst erfasst wird, während dieselben Wörter nichts anderes als Bedeutungsträger sind, wenn sie in einer anderen Reihenfolge angeordnet sind? Warum wurde die Poesie erschaffen? Ist sie lediglich eine Zier des Lebens, oder hat sie eine existenzielle Bedeutung? Warum bestehen Verse aus kurzen Textzeilen, und warum bedient sich die Poesie oft des Reims?

Das sind alte Fragen, denen sich die kognitiven Neurowissenschaften vorsichtig nähern, wie stets, wenn es um die Tiefe des Geistes geht. Der Poet, Essayist und Übersetzer Raoul Schrott und der Neuropsychologe Arthur Jacobs erforschen die Poesie als Gehirnmechanismus. Dank den Methoden der kognitiven Neurowissenschaften ist es möglich, die Regionen des Gehirns auszumachen, die beim Erschaffen, Hören und Lesen von Poesie aktiv sind. Die Grenze der Methode liegt darin, dass man nicht weiss, was in den aktivierten Zentren geschieht. Raoul Schrott und Arthur Jacobs gemäss entstand die Poesie als Begleiterin der Musik, um das Gedächtnis zu stärken, in einer Zeit bis vor etwa 5000 Jahren, als es noch keine geschriebene Sprache gab. 

Die Verslänge und der Augenblick

Die Verbindung zwischen Poesie und Musik wird von den Analogien bestätigt, durch die sie Melodien, Töne und Rhythmen zu einem Ganzen vereinen. Störungen nach Hirnschädigungen weisen indes auf Unterschiede hin. Obwohl Maurice Ravel wegen eines Hirnschlages die Fähigkeit zu sprechen verloren hatte, hörte und liebte er weiterhin die Musik. Wissarion Schebalin brachte nach mehreren Hirnschlägen kaum mehr ein Wort heraus, komponierte jedoch Sonaten, Quartette und eine Symphonie, die Dmitri Schostakowitsch als wunderbar rühmte. Dass Musik das Gedächtnis verbessert, bestätigen neuropsychologische Experimente, wonach lange und komplizierte Wortfolgen mit einer dezenten Hintergrundmusik besser und dauerhafter gelernt werden.

Man erinnert sich länger an Verse als an Sätze. Ein Gedicht erkennt man auf den ersten Blick an der Verslänge, die in sämtlichen Sprachen normalerweise bei höchstens zehn Silben liegt. Gelesen werden sie in ungefähr drei Sekunden, was der Zeit entspricht, welche die Mechanismen des Bewusstseins brauchen, um zwei unterschiedliche Wahrnehmungen zu tätigen. Im Zeitintervall, den das Lesen eines Verses benötigt, kann sich das Gehirn also nur auf ein Ereignis konzentrieren - was es ermöglicht, bei der Lektüre eines Gedichts die Mechanismen der Affektivität stärker einzubeziehen als bei anderen kognitiven Erfahrungen. Der Reim wurde vermutlich im 2. Jahrhundert n. Chr. vom Kirchenvater Tertullian aus Karthago in die europäische Kultur eingeführt. Die akustische Ähnlichkeit zwischen zwei Reimen unterstreicht deren semantische Verbindung, die dem letzten Wort der Verse eine fast magische Kraft verleiht. In Analogie zur Musik drückt das Gehirn durch die Poesie aus, was sich der Sprache der Rationalität entzieht. Die überprüfbare Intensität der Auswirkung auf die Zentren der Affektivität liefert den Beweis.

Solche Betrachtungen und Forschungen helfen nicht, die Poesie zu verstehen oder zu lieben. Nach Kant führt uns die Kunst (und damit auch die Poesie) in das Spiel der verwandelten Realität ein. Die kognitiven Neurowissenschaften bestätigen die These, wonach dies durch die nervösen Netzwerke der Affektivität und Rationalität geschieht, die im Verlaufe der Evolution entstanden sind. 

Ist die Liebe zur Literatur angeboren?

Alle Kulturen pflegen und lieben künstlerische Ausdrucksformen der Sprache. Sind Literatur und Poesie an nervöse Strukturen und Mechanismen gebunden, die auf genetischem Weg von einer Generation zur nächsten vererbt werden? Die These von der angeborenen Liebe zur Literatur müsste man bekräftigen können, indem man den evolutionären Antrieb identifiziert, der ihre Mechanismen selektioniert hätte. Dieses Indiz fehlt. Der Neurowissenschafter V. S. Ramachandran erwidert auf die These, wonach die Literatur ein evolutionärer Faktor sei, weil es sie in sämtlichen Kulturen gibt: Dasselbe gilt auch für Gastronomie, ohne dass es deshalb im Gehirn ein angeborenes und genetisch vererbtes Modul gibt, das uns kochen lässt.

Wie Mathematik, Geometrie, Musik und das Schachspiel sind auch Literatur und Poesie Produkte bestimmter Hirnrindenregionen, also des Bewusstseins, auf die keine Kultur verzichtet. Das Gehirn schafft Literatur, Poesie und Musik wegen des Genusses, den sie bewirken, und nicht, weil sie die Fähigkeit zu überleben erhöhen würden. Mario Vargas Llosa hat behauptet, die «von guter Literatur imprägnierten» Gesellschaften seien weniger manipulierbar. Leider stimmt das nicht. Die Literatur ist kein Mittel gegen die Übel der Welt. Von guter Literatur «imprägnierte» Gesellschaften wie die deutsche, russische, italienische, französische, spanische und englische haben sich schrecklicher sozialer Perversionen fähig gezeigt.

Es fällt schwer, Literatur und Poesie als Produkte der Mechanismen von bestimmten Regionen der Hirnrinde anzusehen. Wie oft wird gefragt, ob ein literarisches Wunder wie die «Göttliche Komödie» tatsächlich das Erzeugnis von neuronalen Aktivitäten sein kann. Wovon denn sonst? Die naturalistische Konzeption des Geistes mindert den Genuss künstlerischer Werke keineswegs. Vielmehr versucht sie zu verstehen, wie das Gehirn Kunst erschafft, wie es sie geniesst und schätzt.

Prof. Dr. med. Arnaldo Benini arbeitete als Neurochirurg in St. Gallen und in Zürich.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen