Kunst und Krieg als Heilsgeschichte
Die Metaphysik der Avantgarde
Im Rückblick ist die ästhetische Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts häufig verklärt worden. Ein genauerer Blick zeigt dagegen, wie verbreitet irrationale, rassistische und frauenfeindliche Tendenzen in der Avantgarde waren.
Das schillernde Phänomen der Abstraktion besass für Klee und Marc geradezu magische Anziehungskraft. «Abstraktion» eignet sich Klee in ähnlicher Weise an wie die Farbe («Ich und die Farbe sind eins», 1914): Er selbst ist nunmehr «abstract mit Erinnerungen» (1915). «Abstraktion» ist für Klee wie für Marc mehr als eine ästhetisches Formel: Sie ist ein metaphysisches Prinzip, die Suche nach dem «eigentlichen Sein», dem «Absoluten». Im Abstrakten, so Marc, kommt der «tiefe Hang der modernen Sucher» nach dem «allgemein Gültige(n)» zum Ausdruck. Einer der Vordenker dieses neoplatonischen Verständnisses von Abstraktion war Wilhelm Worringer, dessen 1908 erschienene Schrift «Abstraktion und Einfühlung» vor allem im Kreis des Blauen Reiters begeistert aufgenommen wurde.
Werben um Freundschaft
Als Klee und Marc sich 1912 im Umkreis des Blauen Reiters kennenlernten, war Marc künstlerisch weiter entwickelt, insbesondere was den Umgang mit der Farbe anbelangt, und zweifellos auch der weitaus Bekanntere. So mag es Klee geschmeichelt haben, dass Marc, als prominentes Mitglied des Blauen Reiters, geradezu um seine Freundschaft warb. Es gab wechselseitige Besuche der Ehepaare Klee und Marc, und Maria Marc nahm regelmässig Klavierstunden bei Lily Klee. Zugleich gab es eine weitgehende Übereinstimmung in der spirituellen Orientierung beider Künstler. Otto Karl Werckmeister spricht 2008 bei Marc von einer «metaphysischen Erfahrung der Natur», bei Klee von einer «parareligiösen Metaphysik». Die geistige Übereinstimmung mit Marc hinderte Klee freilich nicht daran, Marc nach dessen Tod 1916 in seinen Tagebucheintragungen in einer Weise zu schildern, die geradezu als Entwertung gelten darf und die zeigt, dass Klee die geistige Haltung und die theoretische Position Marcs in seinem Sinne umdeutete. Während er für sich den «Weltgedanken» in Anspruch nimmt, reduziert er Marc auf den «Erdgedanken». Klees Hang zu Selbststilisierung war offenbar stärker als Freundschaft und Pietät.
Franz Marc
Verborgene Differenzen
Der Blick auf Klee und Marc verdeutlicht zugleich theoretische Positionen der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Neben libertär-anarchistischen waren auch irrationale Tendenzen weit verbreitet, wie die Untersuchungen von Beymes gezeigt haben. Nicht zuletzt waren die esoterisch-theosophischen Ideen Helena Blavatskys von erheblichem Einfluss (etwa auf Kandinsky und Mondrian). So wie Klee Marcs – von Blavatsky beeinflussten – okkultistische Phantasien, seine teilweise verworrene und widersprüchliche Rezeption der Naturwissenschaften – seine Frau schrieb ihm, dass er davon eigentlich nichts verstehe – und seine seit Kriegsbeginn nationalistischen und teilweise rassistischen Tendenzen mehr oder weniger ignorierte, so störte sich Marc auch nur am Rande an der elitär-apolitischen Einstellung Klees, allenfalls an dessen individualistischem Geniekult. Differenzen blieben hinter dem Nebel einer diffusen Metaphysik verborgen. Lediglich in der Frage des Krieges gab es Meinungsverschiedenheiten.
Franz Marc, Postkarte an Paul Klee, 1913
Klee hat versucht, sich als als «jenseitiger», dem Kosmos und dem «Urgrund» naher Künstler, als «kosmischer Anhaltspunkt» zu legitimieren. Er sah sich Gott näher als andere Sterbliche. In der Renaissance-Manier des «divino artista» setzt er gleichsam gottgleich die Schöpfung, die «Genesis», fort. Klees genialischer Gestus wird bereits ab 1920 von seinen ersten Biografen Zahn und Hausenstein übernommen, von Klees Galeristen Goltz und Walden gefördert und nach 1945 zur charismatischen Aura des weltentrückten, asketischen Künstlers verklärt – ein Prozess der «Heiligsprechung», wie spätere Biografen süffisant anmerkten. Der Krieg geht Klee «innerlich nichts an» (Tagebuch 952), und geradezu provokant schreibt er 1915 an Marc: «Für mich ist der Krieg eigentlich nicht mehr notwendig gewesen, aber vielleicht für die Anderen alle, die noch so zurück sind» (3. Februar 1915). Marc dagegen geisselt in seinen Aphorismen «die Eckensteher des europäischen Dramas», die sich in die «Ruinen der Erinnerung» flüchten (Nr. 25).
Den «Stall des Augias» reinigen
Marc hat sein Verständnis des Krieges und seine Vorstellung eines «neuen Europa» zunehmend metaphysisch interpretiert, als Suche nach dem «eigentlichen Sein jenseits aller Sinnestäuschungen», bis hin zu der Vorstellung, dass dieses eigentliche Sein erst im Tode erreichbar ist, mit der Loslösung von jeder Form von Materialität: «Mit dem Tode beginnt das eigentliche Sein, das wir Lebende unruhvoll umschwärmen wie der Falter das Licht» («Zur Kritik der Vergangenheit», 1914). Diese gleichsam metaphysische Todessehnsucht prägt Marcs Gedanken zum Krieg.
Franz Marc, Vögel, 1914
Konkret geht es Marc um die «Reinigung» Europas vom Geist des Materialismus, Utilitarismus und der «Individualitätskultur», um einen «Geisteskampf», was die Frage aufwirft, warum dazu der Krieg erforderlich ist. Es ist geradezu beklemmend, wie Marc mit immer neuen Gedanken versucht, die Realisierung dieser Ziele durch den Krieg zu rechtfertigen. Das «neue Europa», könne nur dadurch erreicht werden, dass der «Stall des Augias» gereinigt wird und der «unsichtbare(n) Feind des europäischen Geistes» besiegt wird: «Um Reinigung wird der Krieg geführt und das kranke Blut vergossen» («Das geheime Europa», 1914). Wir erfahren nicht, wer der Feind des europäischen Geistes ist, da er ja «unsichtbar» ist, allenfalls dass es ein auch «innerer Feind» ist. Offen bleibt auch, wessen «krankes Blut» vergossen werden muss: das des Feindes, der eigenen Landsleute oder beider. Marc greift hier auf Gedanken zurück, auf eine Metaphysik des «reinen» Blutes, die zum geistigen Repertoire des Faschismus gehören.
Später versucht Marc, die «exakte», «weltunbefleckte Reinheit der Wissenschaft» zur Grundlage des «neuen Europa» zu machen, wobei er seine Reinheitsphantasien auf eine anthropomorphe Vorstellung von Wissenschaft projiziert. «Physik» müsse sich in «Psyche» auflösen, Natur überwunden werden. «Darum war der Krieg» («Der hohe Typus», 1914/15). In seinen Briefen aus dem Feld (1914–1916) treten Gedanken von Sünde, Opfer und Sühne in den Vordergrund. An seine Frau schreibt er, das «sündliche» Leben und Streben aller «hat diesen Weltenbrand erzeugt – Ich finde, du redest dich in deiner Trauer und deinem Zorn in einen ganz falschen Demokratismus hinein» (9. Oktober 1915). Ebenfalls an Maria Marc schreibt er über den Krieg: «Keiner fasst das Thema so an, dass man den Fluch urältester Gewissensverfehlung über sich ergehen lassen muss» (21. Juli 1915).
Paul Klee 1916
Schliesslich gelangt Marc wieder an den Punkt, an dem er begonnen hat: an ein mystisch-metaphysisches Verständnis der Geschichte und des Krieges. Da die Geschichte «ihre immanenten, vor dem Menschenauge sorglich verheimlichten Gesetze» habe, wir zudem den «stummen Willen des wahren Seins» nicht erkennen könnten, ergebe sich die paradoxe Konsequenz, dass der Krieg gleichsam blind, «in einer Art Dämmerzustand», geführt werde. Wir sind dabei lediglich «Handlanger grosser Gesetze» (Aphorismen, Nr. 15). Dass das Telos des Krieges letztlich nicht das Heil war, sondern Tod und Vernichtung, war Marcs im wörtlichen Sinne fatales Missverständnis.
Marc selbst hat den Krieg in einer Art «Dämmerzustand», in einer «Spaltung», in einer Art dissoziativem Zustand erlebt, in dem ihm der Krieg immer gleichgültiger wird. Zugleich wird der Tod als «Erlöser» stilisiert, Marc spricht von der «Sterbelust» der Soldaten, dass die Toten «unsagbar glücklich» sind: «Die Verwundungen sind die Enttäuschungen» (13. April 1915). In einem Brief an seine Mutter, kurz vor seinem Tod (17. Februar 1916), bemerkt er, dass er früher «des öfteren» den Tod gesucht habe (er spielt auf seine depressiven Phasen an), nichts sei «beruhigender als die Aussicht auf Todesruhe». Allerdings suche er den Tod jetzt nicht, da sein Werk erst «halbfertig» sei. Seine Haltung zum Tod bleibt freilich unverändert: «Wer aber nach Reinheit und Erkenntnis strebt, dem kommt der Tod immer als Erlöser.» Marcs metaphysische Todessehnsucht bleibt ohne seine persönliche Todessehnsucht unverständlich.
Paul Klee Der Polizeihund wird in Wut versetzt, 26.9.1913., Postkarte an Franz Marc
Dass es Marc nicht nur um einen «inneren», «unsichtbaren», sondern auch um einen ganz konkreten «äusseren Feind» geht, macht er an anderen Stellen deutlich. Der Krieg wird auch mit dem Ziel einer «Wiedervereinigung der germanischen Rasse unter deutscher Führung» und gegen den Antipoden des «deutschen Typs», den Engländer, geführt. Der Kampf um die neue «Geistesherrschaft» in Europa, «der noch mehr Opfer und Tode fordern wird als der blutige Krieg», findet unter deutscher Führung statt. «Bis dahin wird Krieg sein und soll Krieg sein und darf kein Friede über uns Deutsche kommen; denn wir halten das Schicksal Europas in der Hand» («Das geheime Europa», 1914). Erst 1916 verändert sich Marcs Einstellung zum Krieg und weicht einer kritischeren Haltung. Marc muss nunmehr erkennen, dass seine Projektionen von Reinheit, Schuld und Sühne auf den Krieg gescheitert sind. Ihm dämmert, dass der Krieg «sinnlos» geworden ist, Europa einem «Fiasko» entgegengeht (Briefe an Maria Marc 1. Dezember 1915, 15. Januar 1916). Der Krieg, so schreibt er – angesichts der Schlacht von Verdun, zwei Tage vor seinem Tod – ist «das Entsetzlichste, was sich Menschenhirne ausdenken können» (Brief an Maria Marc, 2. März 1916).
«Engländer im Europäer vernichten»
Was stellenweise wie ein sektiererisches Pamphlet über Sünde, Tod und Erlösung klingt, ist freilich nicht allein Marcs «Erfindung». In vielen Punkten gleichen seine Gedanken den Ideen von 1914, einem Konglomerat von antidemokratischen und nationalistischen Vorstellungen, wie sie von zahlreichen anderen deutschen Intellektuellen vor und nach 1914 verbreitet wurden. Ein zentrales Konzept dieser «Ideen» bestand darin, der deutschen «Kultur» entwertend die romanische und die englische Zivilisation gegenüberzustellen. Den antienglischen Affekt übernimmt Marc praktisch unmodifiziert: Es ist der «deutsche Typ», «der allein berufen ist, den Engländer im Europäer zu vernichten» (Aphorismen, Nr. 59). Ähnlich wie für Marc ist auch für den jungen Thomas Mann (in seinen «Betrachtungen eines Unpolitischen», 1914–1918) der Krieg eine «Veredelung» des Menschen. Die Ideen von 1914 entsprachen weitgehend der Agitation des von Hugenberg geförderten Alldeutschen Verbandes, der in Deutschland am lautesten die Kriegspropaganda betrieb. Sie wurden später Teil des nationalsozialistischen Gedankenguts. Dass die Kriegsbegeisterung nicht nur das Anliegen deutscher Intellektueller und Künstler war, sondern auch in der europäischen Avantgarde verbreitet war, zeigt etwa Marinettis futuristisches Manifest (1909): «Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt –, den Militarismus . . . und die Verachtung des Weibes.» Ähnliche, wenn auch weniger drastisch misogyne Äusserungen finden sich auch bei Klee und Marc. So schreibt etwa Marc: «Der wissende, strenge Typus des neuen Europäers wird ein männlicher Typus sein; er wird auch die Erotik, statt sie und sich dem Weibe zu überantworten, wieder seine Sache werden lassen» (Aphorismen, Nr. 91).
Paul Klee Formel eines Krieges 1936
Auf einer Postkarte schreibt Marc zu Beginn des Krieges (16. November 1914) an Kandinsky: «Mein Herz ist dem Krieg nicht böse, sondern aus tiefem Herzen dankbar, es gab keinen anderen Durchgang zur Zeit des Geistes, der Stall des Augias, das alte Europa, konnte nur so gereinigt werden.» Klee dagegen schreibt in einem Brief an Hermann Rupf, einen Berner Freund (14. Dezember 1914): «Was für ein Unglück für uns alle ist dieser Krieg und insbesondere für mich, der ich Paris so viel verdanke und geistige Freundschaft mit den dortigen Künstlern pflege. Wie wird man nachher sich gegenüberstehen.»
Klee vermag die Folgen des Krieges einigermassen realistisch einzuschätzen (er sieht unter anderem die künstlerische «Internationale» bedroht) und zieht sich auf seine Kunst zurück. Marc dagegen schliesst sich der allgemeine Kriegsbegeisterung an und sieht im Krieg den Weg zur geistigen Erneuerung Europas unter deutscher Führung. Erstaunlich ist dabei, dass diese Kontroverse nicht schon früher aufbrach, da Marc seine Gedanken schon 1912, wenn auch in abgeschwächter Form, als messianische Verkündigung einer neuen «geistigen» Religion in tendenziell aversiver Abgrenzung gegenüber der französischen Kunst im Almanach «Der Blaue Reiter» vortrug. Marc verkündete nichts Geringeres als die «Morgenröte» einer «neuen Zeit».
Krieg und Kunst als Heilswege
Am Beispiel von Klee und Marc lässt sich zeigen: Wichtige Repräsentanten der künstlerischen Avantgarde waren zumindest in der Zeit bis 1918 nicht in der Lage, den gesellschaftlichen Ort ihrer Künstlerexistenz zu reflektieren. An die Stelle von Aufklärung im Kantschen Sinne tritt der Nebel einer diffusen Metaphysik – Krieg und Kunst als Heilswege –, mit der die bestehenden Klassenstrukturen und die imperiale Rolle des Deutschen Reichs verschleiert werden. Marcs und Klees esoterische Philosophie zwischen 1912 und 1916 kann als Flucht vor der politischen Realität, der «vergifteten, verblödeten Atmosphäre von Anno Domini 1914» (Golo Mann) gesehen werden – psychoanalytisch als Abwehrmechanismus der Spaltung und Verdrängung. Das gesellschaftliche Interesse an der materiellen Hegemonie in Europa tritt als Interesse an einer geistigen Hegemonie in Erscheinung. Klee und Marc haben Kunstwerke von unvergänglichem Wert geschaffen, geistig indessen bleiben sie der Ideologie des Bürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts verhaftet.
Manfred
Clemenz ist Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, Psychotherapeut und
Gruppenanalytiker.
Paul Klee, Landschaft mit fliegenden Vögeln, einer v. Pfeil durchbohrt, 1918
Nota.
Zum Dünkel seichtlinker Selbtgefälligkeit gehört der Glaube, künstlerische Avantgarde sei eo ipso auch politisch "fortschrittlich", und gegen den Krieg waren sie natürlich alle. Wagner, Degas, Debussy? Ach, nur ein paar Ausnahmen...
Dahinter steckt nicht nur ein Unverständnis für das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, sondern eine saturierte Vorstellung von "links", die die Klassenkämpfe längst hinter sich hat und lediglich auf die kleine Eitelkeit baut, ein besserer Mensch zu sein als mein Nachbar.
Klee war ein elitärer Dunkelmann, und Marc hätte sich, wäre nicht seiner Todessehnsucht bei Zeiten Genüge geschehen, gut und gern mit Ernst Nolde und Franz Naziwill in derselben Partei wiederfinden können.
JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen