«Philosophie des Jazz» von Daniel Martin Feige
Die retroaktive Logik
«Jazz»
zählt nicht zum traditionellen Set kulturphilosophischer Begriffe.
Seine relativ junge Geschichte ist in Traditionen verstrickt, für die
sich philosophische Lehren und Lehrer bisher wenig zu interessieren
schienen. Und wenn sich ein Kulturkritiker wie Adorno doch des Jazz
glaubte annehmen zu müssen, dann verfehlte er prompt den eigentlichen
Gegenstand. So galten seine umstrittenen Aussagen einem musikalischen
Gemenge zwischen Schlager und Musical, zwischen Dixieland und Swing. Von
der eigentlichen Tradition und Funktionsweise des Jazz hatte er kaum
eine Ahnung.
Wer heute auf der Basis der Adornoschen Kulturkritik einen neuen Anlauf nimmt, um den Jazz kritisch auf einen allfälligen emanzipatorischen Gehalt abzuklopfen, riskiert noch immer, über alte Fallstricke zu stolpern. Diederich Diederichsen widmet dem Jazz in seinem Grosswerk «Über Pop-Musik» ein ausführliches Kapitel, in dem er Adorno für diese Musik scheinbar zu retten versucht. Zwar zeigt er, wie das Subjekt im Zeichen der Improvisation fremdem Material einen eigenen Stempel aufdrückt, um sich so kultureller Entfremdung zu widersetzten. Doch missversteht Diederichsen die Funktionsweise des Jazz, wenn er das Solo als «Wegrennen» vor «läppischen» Standardmelodien betrachtet und soziologisch als Befreiung des Solisten vom Kollektiv interpretiert.
Da beweist der Jazzmusiker und Philosophie-Spezialist Daniel Martin Feige in seinem neuen Bändchen «Philosophie des Jazz» mehr musiktheoretische Kompetenz. Ohne ins Detail einer musikologischen Analyse zu gehen, macht er klar, wie es in der Improvisation ebenso wie im Zusammenspiel des Jazz darum geht, stets neue Funken aus den harmonischen, melodischen, rhythmischen Vorgaben von Standards und Originals zu schlagen. Die Solisten flüchten nicht, sie entfalten ein Potenzial und erhöhen die Spannung durch melodische Abstraktion und harmonische Dehnung. Im Sinne Feiges muss der Gehalt des Jazz in der musikalischen Praxis stets neu verhandelt, aufgefrischt und und ergänzt werden. Er spricht dabei von neuen «Verkörperungen» der Tradition.
Geschult in Phänomenologie und Hermeneutik, geht er in seiner Argumentationsweise möglichst systematisch vor – zum Preis gewisser Redundanzen und eines Formalismus, der philosophisch weniger affine Leser abschrecken dürfte. Feige vergleicht die «Kunstmusik» Jazz mit klassischer Musik, um in diesem kontrastiven Verfahren Eigenheiten beider Traditionen herauszuarbeiten. Improvisation und Komposition ebenso wie Improvisation und Interpretation werden einander gegenübergestellt. Im Jazz sei die (interpretatorische) Freiheit zwar grösser; das improvisierende Subjekt offenbart sich im Moment der Performance, indem es selber bestimmt, auf welche Momente der Vorgaben (idealtypisch sind es sogenannte Standards) es sich bezieht. Dennoch scheinen die Unterschiede der musikalischen Praxis eher graduell als essenziell. Jedenfalls soll Feiges Jazz-Philosophie Parallelen offenbaren, die von grösserer Tragweite sind als die Unterschiede.
Das zeigt sich in Feiges dynamischem Traditionsbegriff: Tradition ist für ihn ein Bezugsrahmen, der bestimmt, was als Klassik oder Jazz gelten darf. Im Sinne Feiges erlaubt Tradition durchaus Negationen gewisser Verfahren und Bestände. Hauptsache, sie bleibt so offen und dynamisch, dass junge Musiker sich immer wieder «dialogisch» an sie anschliessen können. Jazz-Dissidenz und Jazz-Traditionalismus scheinen sich beide zu täuschen: Ohne Tradition wäre das musikalische Tun der Dissidenten praktisch sinn- und bedeutungslos; ohne dynamische Erneuerungen verkäme Jazz zum starren Signet einer abgeschlossenen Epoche. Hier schliesst Feige auf andere Traditionen und Künste, das zeigt sein Werkbegriff: Das Werk klassischer Musik sieht er nicht durch eine Partitur definiert oder durch eine letztlich verborgene, im kompositorischen Notat bloss angedeutete Idee des Komponisten. Vielmehr ergibt sich das Werk in der Gesamtheit tatsächlicher Interpretationen, die in einem quasi intertextuellen Kontext stehend sich gegenseitig bedingen. Die Interpreten komponieren also quasi weiter an einer Komposition. So gibt es keine einzig wahre Interpretation – etwa in einer historischen Aufführungspraxis. Ein zu enger Begriff von Werktreue brächte ein Werk um den Dialog mit der Gegenwart – es verdiente nur noch das Prädikat «Kunsthistorisch interessant».
Dass künstlerisches Profil eine relationale Angelegenheit ist, zeigt sich im Jazz in verschiedener Hinsicht: zum Beispiel in der Struktur der Improvisation, in der wie bei Brettspielen jeder Zug die Bedeutung des vorausgegangenen Zugs neu bestimmt. «Das, was der Improvisierende tut, erhält seinen spezifischen Sinn erst im Lichte dessen, was er später getan haben wird.» Diese «retroaktive Logik» gilt für die Jazztradition im Allgemeinen: Jeder spätere Bezug auf eine frühere Aufnahme wird diese mit neuer Bedeutung einfärben. Im Speziellen ist sie sodann bestimmend für das dialogische Prinzip, das Feige im Jazz wirken sieht. Im Idealfall gestaltet sich das Jazz-Interplay wie ein Gespräch, das man führt, bei dem man aber auch geführt wird – weil man nicht Monologe von sich gibt, sondern auf Antworten eingeht und bessere Argumente gelten lässt. Deshalb sieht Feige auch eine «ethische Valenz» im Jazz: Es handelt sich um eine Musik, die sich trotz einem [soll heißen: durch den...] Streit der Improvisatoren als kollaborative Kunstform bewährt.
Wer heute auf der Basis der Adornoschen Kulturkritik einen neuen Anlauf nimmt, um den Jazz kritisch auf einen allfälligen emanzipatorischen Gehalt abzuklopfen, riskiert noch immer, über alte Fallstricke zu stolpern. Diederich Diederichsen widmet dem Jazz in seinem Grosswerk «Über Pop-Musik» ein ausführliches Kapitel, in dem er Adorno für diese Musik scheinbar zu retten versucht. Zwar zeigt er, wie das Subjekt im Zeichen der Improvisation fremdem Material einen eigenen Stempel aufdrückt, um sich so kultureller Entfremdung zu widersetzten. Doch missversteht Diederichsen die Funktionsweise des Jazz, wenn er das Solo als «Wegrennen» vor «läppischen» Standardmelodien betrachtet und soziologisch als Befreiung des Solisten vom Kollektiv interpretiert.
Da beweist der Jazzmusiker und Philosophie-Spezialist Daniel Martin Feige in seinem neuen Bändchen «Philosophie des Jazz» mehr musiktheoretische Kompetenz. Ohne ins Detail einer musikologischen Analyse zu gehen, macht er klar, wie es in der Improvisation ebenso wie im Zusammenspiel des Jazz darum geht, stets neue Funken aus den harmonischen, melodischen, rhythmischen Vorgaben von Standards und Originals zu schlagen. Die Solisten flüchten nicht, sie entfalten ein Potenzial und erhöhen die Spannung durch melodische Abstraktion und harmonische Dehnung. Im Sinne Feiges muss der Gehalt des Jazz in der musikalischen Praxis stets neu verhandelt, aufgefrischt und und ergänzt werden. Er spricht dabei von neuen «Verkörperungen» der Tradition.
Geschult in Phänomenologie und Hermeneutik, geht er in seiner Argumentationsweise möglichst systematisch vor – zum Preis gewisser Redundanzen und eines Formalismus, der philosophisch weniger affine Leser abschrecken dürfte. Feige vergleicht die «Kunstmusik» Jazz mit klassischer Musik, um in diesem kontrastiven Verfahren Eigenheiten beider Traditionen herauszuarbeiten. Improvisation und Komposition ebenso wie Improvisation und Interpretation werden einander gegenübergestellt. Im Jazz sei die (interpretatorische) Freiheit zwar grösser; das improvisierende Subjekt offenbart sich im Moment der Performance, indem es selber bestimmt, auf welche Momente der Vorgaben (idealtypisch sind es sogenannte Standards) es sich bezieht. Dennoch scheinen die Unterschiede der musikalischen Praxis eher graduell als essenziell. Jedenfalls soll Feiges Jazz-Philosophie Parallelen offenbaren, die von grösserer Tragweite sind als die Unterschiede.
Das zeigt sich in Feiges dynamischem Traditionsbegriff: Tradition ist für ihn ein Bezugsrahmen, der bestimmt, was als Klassik oder Jazz gelten darf. Im Sinne Feiges erlaubt Tradition durchaus Negationen gewisser Verfahren und Bestände. Hauptsache, sie bleibt so offen und dynamisch, dass junge Musiker sich immer wieder «dialogisch» an sie anschliessen können. Jazz-Dissidenz und Jazz-Traditionalismus scheinen sich beide zu täuschen: Ohne Tradition wäre das musikalische Tun der Dissidenten praktisch sinn- und bedeutungslos; ohne dynamische Erneuerungen verkäme Jazz zum starren Signet einer abgeschlossenen Epoche. Hier schliesst Feige auf andere Traditionen und Künste, das zeigt sein Werkbegriff: Das Werk klassischer Musik sieht er nicht durch eine Partitur definiert oder durch eine letztlich verborgene, im kompositorischen Notat bloss angedeutete Idee des Komponisten. Vielmehr ergibt sich das Werk in der Gesamtheit tatsächlicher Interpretationen, die in einem quasi intertextuellen Kontext stehend sich gegenseitig bedingen. Die Interpreten komponieren also quasi weiter an einer Komposition. So gibt es keine einzig wahre Interpretation – etwa in einer historischen Aufführungspraxis. Ein zu enger Begriff von Werktreue brächte ein Werk um den Dialog mit der Gegenwart – es verdiente nur noch das Prädikat «Kunsthistorisch interessant».
Dass künstlerisches Profil eine relationale Angelegenheit ist, zeigt sich im Jazz in verschiedener Hinsicht: zum Beispiel in der Struktur der Improvisation, in der wie bei Brettspielen jeder Zug die Bedeutung des vorausgegangenen Zugs neu bestimmt. «Das, was der Improvisierende tut, erhält seinen spezifischen Sinn erst im Lichte dessen, was er später getan haben wird.» Diese «retroaktive Logik» gilt für die Jazztradition im Allgemeinen: Jeder spätere Bezug auf eine frühere Aufnahme wird diese mit neuer Bedeutung einfärben. Im Speziellen ist sie sodann bestimmend für das dialogische Prinzip, das Feige im Jazz wirken sieht. Im Idealfall gestaltet sich das Jazz-Interplay wie ein Gespräch, das man führt, bei dem man aber auch geführt wird – weil man nicht Monologe von sich gibt, sondern auf Antworten eingeht und bessere Argumente gelten lässt. Deshalb sieht Feige auch eine «ethische Valenz» im Jazz: Es handelt sich um eine Musik, die sich trotz einem [soll heißen: durch den...] Streit der Improvisatoren als kollaborative Kunstform bewährt.
Daniel Martin Feige: Philosophie des Jazz. Suhrkamp, Taschenbuch Wissenschaft, Berlin 2014. 142 S., Fr. 24.90.
Nota.
Kann das sein, dass der Philosoph die Herkunft des Jazz aus der schwarzamerikanischen Musik überhört hat? Wenn es ihm zu trivial war, sollte er wissen, dass eine Binsenwahrheit doch immer noch eine Wahrheit ist, die man immer wieder mal aussprechen muss, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.
Und nachdem ich sie also ausgesprochen habe, spefiziere ich dahingehend, dass die auskomponierte, 'vertextete' Musik des weißen Europa naturgemäß eine Schlagseite nach Struktur und Harmonie entwickeln musste, die dem Interpreten als eher konservative Momente begegnen, während sich unter den amerikanischen Negersklaven der afrikanische Hang zum tänzerischen Rhythmus und tänzerischem Ausdruck weiter zu melancholischem Blues und exaltiertem Gospel verdichtete. Beide sind die populären und lebendigen Quellen, aus denen sich der Jazz jeder Richtung immer wieder verjüngen kann, weil der Interpret stets zum Spielen angehalten bleibt, während die europäische Kunstmusik längst in einem esoterisch-akademischen Schmollwinkel verklungen ist, weil der Interpret vom Entziffern ganz in Anspruch genommen wird.
JE
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