Le Corbusier und Chandigarh
Baukunst, Industrie und Staatsräson
Macht ist unerlässlich für die Realisierung grosser Pläne. Entsprechend unbekümmert suchten manche Architekten deren Nähe. Gilt das auch noch für Le Corbusier als Städteplaner von Chandigarh?
von Stanislaus von Moos
Die «Offene Hand» war, wie man weiss, als eine Art Logo der 1950 gegründeten indischen Stadt Chandigarh gedacht gewesen und sollte dort auch als Monument aufgestellt werden. Es liegt also nahe, in dem Zeichen mehr als nur einen riesenhaften Baseball-Handschuh, eine Art Pokal, oder den Fetisch einer Architekten-Sekte zu erkennen. Sie war auch so etwas wie das Wahlversprechen seitens der Regierung, die Gaben des Fortschritts im Sinne des modernen Sozialstaats an das Volk weiterzugeben. So zumindest wollte es der Architekt von seinem Bauherrn verstanden wissen – obzwar Aussprüche wie «pleine main j'ai reçu, pleine main je donne» deutlich machen, dass es bei dem Motiv, so, wie es inzwischen auf Buchdeckeln, Ausstellungskatalogen, sogar Münzen erscheint, am Ende dann doch vor allem um die Signatur des Architekten geht, also um Selbstinszenierung im mythopoetischen Irgendwo zwischen Rudolf Steiner und Joseph Beuys. Man muss nicht lange raten, wer das Samenkorn gelegt haben könnte – es war Nietzsche: «Ich möchte verschenken und austeilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Torheit und die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh geworden sind.» Und ausserdem: «Was sprach ich von Liebe! Ich bringe den Menschen ein Geschenk.» Die Passagen sind in Le Corbusiers zerlesenem Exemplar von «Ainsi parla Zarathustra» ausdrücklich markiert.
Skizze für den Justizpalast
Das Kapitol
Gab es eine stille Übereinkunft darüber, dass das Kapitol von Chandigarh, jener Teil der neuen Stadt in Nordindien, für den Le Corbusier selbst die volle architektonische Verantwortung trug, so etwas wie eine zeitgenössische Antwort auf die unter der britischen Kolonialregierung entstandenen Regierungsbauten in Neu Delhi werden müsse? – In einer Notiz im «Œuvre complète» bekundet der Architekt jedenfalls seinen ungeteilten «Respekt» für die Prachtentfaltung der früheren Kolonialherrschaft: «New Delhi (...), la capitale de l'Inde impériale, fut bâtie par Lutyens il y a plus de trente années, avec un soin extrême, avec un grand talent, avec un véritable succès. Que les critiques crient à volonté: faire quelque chose, arrache le respect (du moins m'arrache le respect).» Klar, dass es für ihn als Übervater der modernen Architektur und seinen Partner und Vetter Pierre Jeanneret nicht darum gehen konnte, die aristokratischen und höfischen Kulturen Englands und Indiens zu einer Synthese zusammenzuführen, wie das Lutyens etwa im Falle des majestätischen Viceroy's House gelungen war. Doch bei welchem Kulturmodell sollte man jetzt im Falle von Chandigarh anknüpfen? Bei Gandhi, dem Landesvater, dessen gewaltfreie Revolution und dessen Windmühlenkampf gegen die Industrie dem Land die Unabhängigkeit gebracht hatten (man erinnert sich: «Destroy industry at any cost», hatte der Ruskinianer Gandhi 1926 verkündet)? Oder sollte man Nehru folgen, der die massive Industrialisierung für unabdingbar hielt, um der kolonialen Ausbeutung den Boden zu entziehen, mit allen Konsequenzen der Arbeitsteilung und der Urbanisierung und der Entfremdung vom einfachen Leben, die das bedeutete? – «We cannot even maintain our freedom without the big factory and all that it represents», so Nehru.
noch ganz brut: Justizpalast
Fabriken waren in der Regierungs- und Beamtenstadt nicht vorgesehen. Umso naheliegender der Anspruch, die Logik der Fabrik bei der Produktion der Bauten und insbesondere jener, in denen sich die Institutionen der jungen Demokratie verkörperten, ins Werk zu setzen. «Giedion, schauen Sie mal zu: das ist der zurückgelegte Weg . . .», schreibt der Architekt 1953 in einem seiner kinderbuchartig illustrierten Briefe an den Generalsekretär der CIAM (er nennt ihn freundschaftlich: «Capitaine»): Früher («Palais de pierres») war das Bauen von Palästen teuer – die Gewinnung des Baumaterials, dann der Transport, dann die Rohbearbeitung auf dem Bauplatz: «Der Steinbruch, die Lastwagen, die Eisenbahn, das Zuschneiden der Steine, das Aufmauern, die Bildhauerarbeit . . . (usw.)». Und das Resultat sei entsprechend «une opération du tonnère de Dieu, immense, et couteuse, et méticuleuse». Gut denkbar, dass er dabei an die Palastanlagen des Red Fort in Delhi aus dem 16. Jahrhundert gedacht hat, an Fatehpur Sikhri, oder an die Paläste von Jaipur aus dem 18. Jahrhundert – alles Denkmäler, die er im Verlauf der insgesamt immerhin 23 Monate seines Indienaufenthalts aufgesucht und in wunderbaren Skizzen festgehalten hat.
Parlament
Und heute («Palais de béton brut»)? Man stellt ein Stahlskelett auf, zu Füssen des Eisenbetonskeletts verlegt man die glatt gehobelten Bretter und die Bleche für die Schalungen. Dann, Tag für Tag, giesst man den Beton in die Schalungen mit einem elektrischen Vibrator, zehn Tage später ist der Palast «fini, terminé, formidable»: So klärt der Architekt den Historiker darüber auf, wie man es fertigbringe, Paläste für das Volk zu bauen, die einerseits die Erinnerung an das jahrhundertealte, in den Palästen von Fatehpur Sikhri, Agra und Jaipur überlieferte Bauerbe verkörpern und andererseits wenig kosten – da sie nur so von den Budgets heutiger Regierungen auch bezahlt werden können. Der Historiker Giedion wird es ihm etwas später mit einer prägnanten Formel danken: «Morgenland und Eisenbeton finden zueinander.»
Parlament, Modell
Das Paradox des Kolossalen
Die Paläste des Regierungsbezirks sind ins Grosse, ja teilweise sogar ins Kolossale projizierte Variationen zu all diesen Themen. Doch auf wessen Konto muss man die Weiträumigkeit der ganzen Anlage abbuchen, die schiere Grösse der Betonpaläste, das Pathos der Inszenierung der staatlichen Gewalten? Auf das Konto der unbelehrbaren Hybris eines Architekten, der bis ans Ende seines Lebens unter dem Zwang zu stehen scheint, sein im engen La Chaux-de-Fonds verinnerlichtes, nagendes «Unbehagen im Kleinstaat» in zyklopischen Bauträumen abzureagieren (nach dem Motto: «Je suis, depuis des années, persécuté par l'ombre de Colbert»)?
Gouverneurspalast
Das ist nur ein Teil der Geschichte. Hätte Nehrus Regierung nicht einen Drittel der geschätzten Baukosten übernommen, würde es dieses Chandigarh nicht geben. Denn die Stadt sollte neben all ihren anderen Funktionen auch zum Denkmal für die 500 000 Menschen werden, die im Krieg mit Pakistan gefallen waren. Und mindestens einem Teil der 12 Millionen Menschen, die durch den Krieg obdachlos geworden waren, zunächst Arbeit bieten und später auch ein Dach. Und darüber hinaus, und vielleicht vor allem, den Willen des Landes nach einem eigenen Weg in die Modernisierung wirkungsvoll zur Darstellung bringen. Von der Grosswetterlage des Kräfteverhältnisses Moskau-Washington ganz zu schweigen: Es genügt, daran zu denken, wie eng der Gegner Pakistan damals mit den USA verbunden war (und auch heute ist) – im Gegensatz zu Indien, das alles tat, den Eindruck einer solchen Bindung zu vermeiden.
Justizpalast, Detail
Kunst-Diplomatie auf höchster Ebene
Man versteht vor diesem Hintergrund, wieso Nehru, der ein paar Jahre später zusammen mit anderen an der Konferenz von Bandung den Zusammenschluss der blockfreien Staaten bewerkstelligen wird, die Überlegungen Le Corbusiers zum Thema Neutralität oder genauer: «Neutralismus» mit einem vielsagenden Lächeln beantwortete, nachdem dieser jene seinem Bauherrn am 22. November 1951 in einem Gespräch unter vier Augen dargelegt hatte. Wie man längst weiss, mündeten diese Überlegungen schliesslich in den Vorschlag, in Chandigarh ein «Monument der offenen Hand» zu errichten.
Sekretariat
Die Idee der «offenen Hand» habe er von einer 1943 entstandenen Skizze übernommen, so belehrt uns Le Corbusier. Dass er das Motiv schon 1938, also vor dem Krieg, in einem weitherum publizierten Denkmalentwurf eingesetzt hatte, bleibt unerwähnt; so auch, dass das Denkmal Paul Vaillant-Couturier gegolten hatte, einem exponierten französischen Volksfrontpolitiker und Antifaschisten. Der Hintergrund, das durch die Friedenstaube stillschweigend Implizierte und Verneinte, war aber ohne Zweifel die Friedenstaube Picassos – wenn nicht geradewegs Picasso selbst. Es war ein offenes Geheimnis, dass die Friedensbewegung (Mouvement des partisans de la paix) Stalins Segen hatte; Mitte-Rechts-Europa ging davon aus, dass sie zum grossen Teil von der Kominform gesteuert und finanziert war. Wir können nur darüber spekulieren, was den Architekten mehr irritiert haben mag: die Couleur der Bewegung oder die weltweite Resonanz, die der Grosskünstler Picasso mit seinem auf Plakaten, Transparenten, Briefmarken, Tellern und Foulards millionenfach vervielfältigten Motiv im Herzen der friedliebenden Massen der Welt gefunden hatte. Le Corbusier, dem ein ähnlicher Zuspruch der Menge bisher versagt geblieben war, liess es sich jedenfalls nicht nehmen, Nehru anlässlich des erwähnten Gesprächs die Kopie des Schreibens zu unterbreiten, mit dem er sich 1949 von der Friedensbewegung distanziert hatte: «On veut nous renfermer dans un dilemme: USA - URSS» – heisst es in dem Schreiben, doch für jemanden, der die Welt und die Logik der Entwicklung des «phénomène machiniste en pleine évolution» so genau kenne wie er, ergebe eine solche Unterscheidung «keinerlei Sinn».
Museum
Nehrus Interesse an diesem Versuch seines Gastes, seinen «Neutralismus» unter Beweis zu stellen, dürfte sich in Grenzen gehalten haben. Was die Realisierung des vorgeschlagenen Monuments anbelangt, so schob er finanzielle Engpässe vor. Als Politiker wusste er wohl nur zu gut, dass die Wirkung öffentlicher Gesten und Symbole allzu leicht mit dem, was damit gemeint gewesen sein mochte, in Konflikt geraten kann. Was, zum Beispiel, wenn die «Offene Hand» von der weiten Welt einfach als Geste der «hohlen Hand» missverstanden würde? – In der Tat ein lästiger Gedanke, in Anbetracht der Hungersnot, die damals weite Teile Indiens im Griff hatte. Der Fotograf Werner Bischof hat «die zerschlagene, krumme Hand, die offene Hand, Indiens zweites Gesicht», wie Adolf Muschg einmal schrieb, in unvergesslichen Bildern festgehalten (übrigens ebenfalls im Jahre 1951). Dass der Bau eines Monuments, das in so naheliegender Weise missverstanden werden kann, nicht im Staatsinteresse liegt, dürfte jedenfalls einleuchten.
Parlament, Rückansicht
«Ni de gauche, ni de droite»
1928 war Le Corbusier noch überzeugt gewesen, in der jungen Sowjetunion die Voraussetzungen für den Durchbruch der «temps nouveaux» erfüllt zu sehen, womit er sich direkt ins Schussfeld jener begab, für die die Moderne schon immer bolschewistisch war. Die entsprechenden Verleumdungen fanden herzhaften Anklang, gerade auch in der Schweiz. Wer den Plan Voisin von 1925 näher studiert, merkt jedoch bald, dass dieser Architekt nicht viel mit dem Kommunismus am Hut hatte, dafür umso mehr mit gewissen dumpfen Ordnungsphantasien der Banker, die seine engsten Freunde waren. «Ni de gauche, ni de droite», im Sinne von Georges Valois (Le Fascisme, 1927), war Le Corbusier denn auch seit den Tagen des Esprit Nouveau (1920–1925) in weitverzweigten intellektuellen, kulturpolitischen und politischen Seilschaften engagiert gewesen, die bis weit nach rechts aussen reichten. Deklarierter Faschist war er nie; Zeev Sternhell zählte ihn bereits 1986 eher zu den unbekümmerteren Fellow-Travellers der Bewegung. In deren Mitte (doch nicht nur dort; immerhin gab es auch die von Zürich aus operierenden CIAM) baute er über die Jahre ein personelles Netzwerk auf, schrieb zahlreiche Bücher und schuf sich so ein Fundament für die eigene spätere Arbeit am Wiederaufbau. Dieses erwies sich nach 1945 als umso brauchbarer, als der «reale» Faschismus der Jahre 1940–1945 für die vom Architekten entwickelte und propagierte Städtebau- und Architekturkonzeption auch nicht das geringste Interesse aufbrachte. In der Tat: «Grossbaumeister des Faschismus», wie die «Weltwoche» im Jahr 2009 titelte, wäre er vielleicht gern geworden (wie übrigens manche andere auch), aber es kam nicht dazu.
Justizpalast: nur noch zum Teil brut.
Rechtzeitig zum 50. Todestag des Architekten sind drei Bücher erschienen, die alle das Vorhaben zum Gegenstand haben, Le Corbusiers Verwicklungen mit französischen Ideologen des Faschismus und der «Droite autoritaire» (René Rémond) auszuleuchten (NZZ 27. 5. 15). Nur eines davon versucht, neben der ideologischen auch die psychologische und künstlerische Komplexheit der Frage in den Griff zu bekommen: François Chaslins «Un Corbusier». Es ist interessant, dass auch er, wie die anderen zwei Autoren, das Kapitel Nehru ausblendet, und übrigens auch die CIAM (Congrès Internationaux d'architecture moderne). Als wäre die Full Story geeignet, der Plausibilität der Faschismus-These den Boden zu entziehen. Oder ist etwa genau das der Fall? – In der Tat will im einen wie im anderen Fall weder das Profil des Faschismus noch jenes des Diktators oder Tyrannen so richtig passen, nicht einmal dasjenige des Despoten. Es wäre denn, man setze das «Projekt der Moderne» der Einfachheit halber überhaupt mit Faschismus gleich, eine Idee, mit der mindestens zwei der erwähnten Autoren, Marc Perelman und Xavier de Jourcy, offen liebäugeln. Ihre Vorurteile müsste man haben, um die Frage beantworten zu können, ob der Architekt in Chandigarh seine «dunklen» politischen Neigungen einmal mehr bestätigt, raffiniert verdrängt oder definitiv überwunden habe.
Beim vorliegenden Text handelt es sich um die Überarbeitung eines Vortrags, der Ende Mai anlässlich der Eröffnung einer Veranstaltungsreihe über Chandigarh an der ETH Zürich gehalten wurde.
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