Montag, 1. Juni 2015

Zeichnen im digitalen Zeitalter.

aus beta.nzz.ch, 29.5.2015, 13:47 Uhr                                                                             Carsten Nicolai, Unidisplay

Zeichnung in der Gegenwartskunst in Wolfsburg
Auf die Maus gekommen
Nach wie vor kommt die Kunst nicht ohne die Zeichnung aus. Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt derzeit in einer kontraststarken Schau, was und wie Künstler heute zeichnen.

Am Anfang standen Schatten: der des Geliebten, dessen Kopfpartie die Tochter des Töpfers Butades in Korinth bei Lampenschein direkt auf der Wand im Profil nachzeichnete. Dann der eigene Schatten, den der in seinem Haus am Feuer sinnierende Lyder Gyges mit einem Stück Kohle umriss. Oder der Schatten eines Schafes, dessen Konturen der Schäfer mithilfe seines Hirtenstabs draussen im Gelände festhielt. Seit der Antike würzen solche Anekdoten über den Ursprung der Zeichnung die Kunstliteratur. Wohl jeder Künstler kannte sie einst, galt doch die Zeichnung seit der Renaissance und mindestens noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts unbestritten als das vornehmste Gebiet der Kunst. Einerseits, so meinten die damaligen Theoretiker nämlich, könnten allein Linien und Konturen die nötige Klarheit über die dargestellten Themen schaffen. Und andererseits verstanden sie unter dem Begriff «Disegno» nicht nur eine Zeichnung auf Papier, sondern auch das Vorstellungsbild im Kopf des Künstlers, ohne das in der bildenden Kunst nachgerade gar nichts geht.

links Alison Moffett Shelter (2009); rechts Awst & Walther  Politics of Space (2014)

Und heute? Während des Siegeszuges neuer Kunstgattungen wie der Installation oder der Performance geriet die Zeichnung selbst in den Schatten. Aber passé ist sie deshalb noch lange nicht. Das Kunstmuseum Wolfsburg beweist das derzeit mit seiner Ausstellung «Walk the Line», die mit rund 100 Werken von 37 internationalen Künstlern der Jahrgänge 1951 bis 1988 eine repräsentative Übersicht über die Zeichenkunst der letzten zwei Jahrzehnte bieten will. Anders als etwa bei der Wanderausstellung «Linie Line Linea» des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart (ab 2010) liegt der Wolfsburger Schau ein erweiterter Begriff von Zeichnung zugrunde. So bilden Werke, die – wie etwa die atemberaubend fein detaillierten Struktur-Erkundungen von Christian Pilz oder die Schwalbenflug-Protokolle von Karoline Bröckel – ganz klassisch mit Bleistift oder Feder geschaffen wurden, nur einen begrenzten Teil der Exponate. Mit ihnen kontra- 

stiert zum Beispiel Katharina Hinsbergs Installation «Spatien» – eine Art Zeichnung im Raum, deren Linien aus dünnen roten, von der Decke abgehängten Seidenpapierstreifen gebildet werden – oder Mariana Vassilevas Lichtinstallation «In Between» (2015), aus der heraus grellweisse Neonröhren ihre Nachbilder direkt ins Auge des Betrachters zeichnen. Über solche Experimente hinaus geht die Schau natürlich auch neuen Wegen der Zeichnung im digitalen Zeitalter nach.

Pia Linz Gehäusegravur - Atelier (2015, Gravur auf Acrylglas, mit Tiefdruckfarbe getönt)

Nun kann man sich fragen, ob es etwas anderes als nur Verwirrung bringt, den Begriff «Zeichnung» so auszuweiten, wie es in Wolfsburg geschehen ist. Doch das Ausstellungskonzept zielt nicht einfach auf eine Brechung definitorischer Traditionen, sondern auf Impulse, die von einem neuen Verständnis der Zeichenkunst auf das Kunstschaffen der Gegenwart ausstrahlen könnten. Den gemeinsamen Nenner nahezu aller Arbeiten bildet die Linie. Zwangsläufig spielen dabei Echos dessen mit, was die Zeichnung früher geleistet hat: So lebt etwa das Liniengefüge traditioneller Architekturzeichnungen in den filigranen Cut-outs aus Tonpapier von Mario BieRende weiter, von denen einer den Chor der gotischen Kathedrale von Beauvais grossformatig im Aufriss zeigt. Das hauchzarte Gebilde ist so an der Wand befestigt, dass es sich leicht wellt; einzelne Stege haben sich wie widerspenstiger Zwirn aus dem Linienverband gelöst. So wird die bei Perspektivzeichnungen übliche objektivierende Vereinfachung zugunsten einer leisen Intensivierung ästhetischer Werte unterminiert. In eine ähnliche Richtung zielen die Faden-Bilder von Keita Mori, die noch freier an perspektivische Architekturzeichnungen anknüpfen.


Christian Jankowski, Was geht Leute? aus der Serie Visitors, 2014,

Linien im Raum

Ebenfalls in neuer Weise auf den Raum bezogen ist die Linie in der Installation «Politics of Space» von Awst & Walther (2014), die das Abbild eines stellenweise beschädigten Maschendrahtzauns per Sandstrahl auf eine übermannshohe Spiegelwand eingraviert haben. Vor diesem Zaun stehen wir nun in Person, dahinter steht klipp und klar unser Spiegelbild. Im Kontrast zu dieser politisch hochaktuellen Arbeit spricht die interaktive Installation «A falling line» von Byungjoo Lee (2013) vordringlich formale und konzeptuelle Interessen an: Mit der Maus gezeichnet und an die Wand projiziert, ist diese abstrakte Linie immateriell und theoretisch endlos.
Blick in die Austellung

Daneben übt sich die Zeichenkunst nach wie vor in der Darstellung phantastischer Welten (Jen Ray, Ralf Ziervogel) oder kommt in Bilderzählungen und Bild-Text-Kombinationen zum Einsatz, etwa bei Nedko Solakov oder Raymond Pettibon; in die bewährte Kategorie des Narrativen gehört aber auch William Kentridges herzzerreissender Animationsfilm «Felix in Exile» (1994). Einer der spannendsten Abschnitte in der nach Themenfeldern gegliederten Schau betrifft schliesslich die Übersetzung von Musik in Zeichnung. Jorinde Voigt hat ihre subjektiv gestischen, an wehende Schleier erinnernden Visualisierungen der Sonaten Beethovens per Hand mit der Feder realisiert, während Angela Bulloch eine eigene musikalische Komposition von einer Zeichenmaschine in ein gleichförmiger ornamentales, scharlachrotes Liniengebilde übertragen liess.
Angela Bulloch, Drawing machine

Es stimmt also, was im knappen Katalogtext steht: Die Zeichnung wird immer komplexer und ist über ihre klassischen Materialien und Techniken hinausgewachsen. Allerdings kann die weitgehende Ausklammerung einer historischen Dimension in dieser qualitativ so überwiegend schön bestückten Schau dazu verführen, das zeichnerische Spektrum früherer Künstler zu unterschätzen. Denken wir zurück an den Anfang der Zeichenkunst: Schon der legendäre Schäfer zeichnete nicht mit einem Stift auf Papier, sondern mit seinem Hirtenstab direkt in den weiten Landschaftsraum.

Walk the Line. Neue Wege der Zeichnung, Kunstmuseum Wolfsburg. Bis 16. August 2015. Katalog € 9.–.


Walk The Line. Neue Wege der Zeichnung 
im Kunstmuseum Wolfsburg

Zeichnen gilt als „Denken mit dem Stift“. Gerade in den letzten zehn Jahren ist bei vielen jungen Künstlerinnen und Künstlern international eine Wiederentdeckung der Zeichnung zu beobachten. Die Ausstellung "Walk The Line" lotet die Artikulationsmöglichkeiten zwischen Bild und Schrift, zwischen Linie, Fläche und Raum aus und findet mit vielfach installativen Werken neue Wege der Zeichnung. Das Kunstmuseum Wolfsburg präsentiert mit 104 Werken eine Überblicksschau von Text-Bild-Kombinationen (Marcel Dzama, Nedko Solakov, Raymond Pettibon), Animationssequenzen (William Kentridge, Katie Armstrong), Cut-Outs und Gravuren (Mario BieRende, Pia Linz, Awst & Walther), Adaptionen musikalischer Strukturen (Jorinde Voigt, Angela Bulloch, Gregor Hildebrandt) hin zu raumfüllenden Lichtinstallationen (Mariana Vassileva, Carsten Nicolai). 10 der insgesamt 37 Künstlerinnen und Künstler schufen eigens für diese Ausstellung neue Arbeiten, die vom 26.04. bis 16.08.2015 zu sehen ist.



Giotto, Josephs Traum

Nota. - Es hängt ja die Gegenständlichkeit des Gegenstands an der Linie: Eingangs, zu Beginn der abendländischen Kunst, war sie Kontur, wie die Anekdoten am Anfang des Artikels belegen, die die Res extensa umreißt, sie situiert die Dinge im Raum, ohne Linie keine realistische Perspektive. Und keine 'naturgetreue' Malerei; doch naturgetreu (und schön) sollte die Kunst seit der Renaissance sein, siehe obigen Artikel.
G. Lange, Der junge Giotto zeichnet einen Widder

Diese Bedeutung hat die Linie freilich erst für die mimetische - abbildende, nachbildende, wiedergebende - Kunst der europäischen Antike, muss man einschränkend hinzufügen. Die bloß vorstellende oder repräsentative Kunst der Vor- und Frühzeit war noch (oder schon) rein symbolisch, da können Linien auch ganz eigene 'Bedeutungen' haben, die mit der Stellung der Dinge im Raum gar nichts zu tun hat.

chinesich, frühzeitlich

Der Schritt zu einer reinen, nicht an die Gegenstände gebundenen, ästhetischen Kunst (pulchritudo vaga) verlangte den Verzicht auf die Kontur, und das Übungsfeld war, wie ich gezeigt habe, die Landschaftsmalerei von den Alten Holländern über Turner und die Impressionisten bis hin zur Abstraktion des 20. Jahrhunderts: Formen können die Farben ganz alleine haben, sie brauchen dafür keine Ränder: Die Zeichnung tritt allenthalben in den Hintergrund. 
Kandinsky, Binz auf Rügen, 1901

Im selben Maße aber, wie die Linie für die Gegenstände entbehrlich wurde, weil die Gegenstände entbehrlich geworden waren, war sie nun ihrerseits von den Gegenständen befreit. Sie konnte selbst zum - ästhetischen - Gegenstand werden, und folgerichtig haben Kunsthistoriker die Linie als Mutter der Abstraktion erkennen wollen - nicht die Farbe! Der springende Punkt sei die Entdeckung der japanischen Kunst für Europa gewesen: Im Jugendstil habe die Linie sich verselbständigt.
Obrist, Alpenveilchen - Peitschenhieb

Nachdem aber die Scheidung einmal eingetreten und die Kunst reinästhetisch geworden war, konnten die Linien und die Farben ganz unbefangen wieder zusammenfinden; von den Fauves über die Kubisten bis zum deutschen Expressionismus. 

Kandinsky, Bei Murnau

Den Höhe-, allerdings auch Schlusspunkt dieser Geschichte hat Malewitch gesetzt.



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