G. von Max, Die Kunstrichter
aus nzz.ch, 21.5.2016, 07:30 Uhr
Denken in Freiheit
Wozu Kunst?
Gerade
weil die Kunst zu nichts zu gebrauchen ist, brauchen wir sie. Die
Freiheit von aller Zweckmässigkeit ist die grösste Herausforderung für
die Kunst – und ihre vornehmste Provokation.
Es
gibt in der ganzen Opernliteratur manche Albernheit, die sich die
Librettisten ausgedacht hatten. Nichts Menschliches war ihnen fremd,
keine Sentimentalität, auch keine abgefeimte Rohheit. Unübertroffen in
höherem Nonsens aber bleibt gewiss das Libretto der «Zauberflöte». Nie
hat ein Komponist schönere Musik geschrieben zu einem Text von solch
theatralischem Unfug und zauberischem Schabernack. Doch selbst hier,
zwischen Vogelfänger und Schlange, «sternflammender Königin der Nacht»
und priesterlich bewachtem Weisheitstempel, hören wir in einer Arie das
schönste, das genaueste Zeugnis von der Kraft und der Macht der Kunst.
Tamino hat gerade erst ein Porträtbild Paminas erhalten, der ihm bis
dahin unbekannten Tochter der Königin der Nacht. Sein Entzücken ist
augenblicklich grenzenlos: «Dies Bildnis ist bezaubernd schön / Wie noch
kein Auge je gesehn!» Tamino ist nicht etwa hingerissen von vielleicht
strahlenden Augen, nicht von einer schmucken Nase, auch nicht von
zierlichen Ohren. Das Bildnis selbst weckt seine Bewunderung. Die Kunst
allein also vollbringt, was sein Herz erschüttert und erzittern lässt.
Doch
Schikaneder hat sich für diese Arie noch eine zweite Pointe ausgedacht.
«Ich fühl' es», so lässt er Tamino singen, «wie dies Götterbild / Mein
Herz mit neuer Regung füllt.» Er könne zwar nicht nennen, was dieses
Etwas sei, er fühle es nur brennen, «hier», im Herzen, wie Feuer. Doch
der Jüngling lernt schnell, und schon im nächsten Vers ist das Wort
heraus: «Soll die Empfindung Liebe sein? / Ja, ja, die Liebe ist's
allein.» Zweierlei, so sollen wir verstehen, bewirke die Kunst des
Malers: dass Tamino zum einen die Welt erkennt. Das heisst für ihn, aus
hormonellen Gründen vielleicht, zunächst einmal: das andere Geschlecht.
Zum anderen lehrt ihn das Bildnis etwas über eine bisher vollends
unbekannte Empfindung, für die ihm darum auch noch das Wort fehlt.
Ein Akt der Freiheit
Beides
ist in der Kunst (und im Alltagsleben) zu einem häufigen – um nicht zu
sagen: zentralen Topos geworden. Liebende tragen mit sich das Bildnis
der oder des abwesenden Geliebten herum. Die Liebe soll nicht erlöschen,
auch in der Trennung nicht. Das Bildchen vergegenwärtigt das Fehlende
und richtet den Kompass der Sehnsucht auf ihre bleibende Bestimmung und
Richtung aus. Überdies öffnet uns die Kunst den Blick und die Sinne für
das, wofür uns noch die Worte und die Namen fehlen. Sie deutet die Welt
und entfaltet unsere Innenwelten gleichermassen. Dante und Petrarca
haben dieser neuzeitlichen Auffassung der Kunst das Fundament
geschaffen. Eine erleuchtende Aufgabe («illuminans») habe die Kunst,
schrieb Dante. Sie lichtet die Wirklichkeit.
War
Schikaneder am Ende doch nicht ganz so albern, wie es scheint? Denn
noch etwas lässt sich aus seiner Arie herauslesen – und dieses freilich
trifft nun in den Kern einer seit der Aufklärung wirksamen Kunsttheorie.
«Was bleibet aber, stiften die Dichter», heisst es bei Hölderlin. Damit
Taminos Liebe richtig – sprich: dauerhaft – entflamme, muss die Kunst
ihre Hand im Spiel haben, genauer: Sie muss sie gestiftet haben. Nach
Schiller gründet alle Kunst in der Freiheit. Sie wird hervorgebracht von
einem Menschen, der sich für den Augenblick aus allen Zwängen und aus
allen Zweckmässigkeiten befreit hat. Der schöpferisch tätige Mensch
vergegenwärtigt darum das aufgeklärte, zu sich selbst erlöste und nur
dem eigenen (kreativen) Zweck verpflichtete Subjekt. Und weil darum die
Kunst das vornehmste Abbild der Freiheit darstellt, ja, in sich selbst –
im geradezu spielerischen, von allen Ansprüchen entlasteten Umgang mit
der Wirklichkeit – einen Akt der Freiheit vollzieht, geht der Künstler
und gehen wir in der Begegnung mit der Kunst immer auch in eine
Vorschule der Freiheit.
Denn
in der Kunst erkannte Schiller, der ernüchterte, um nicht zu sagen
enttäuschte Revolutionär, jene Kraft, die den Menschen eine Anschauung
der Wirklichkeit in Freiheit ermöglichen soll. Sie sei Erziehung zur
Freiheit und zum Selbstdenken. Mehr noch, sie sollte, als freiheitliche
Praxis, den prekären Übergang sichern von vorrevolutionärer Herrschaft
zu den nachrevolutionären Gesetzen der Vernunft und den dazwischen
drohenden Absturz in den Terror verhindern, wie ihn Frankreich erlebt
hatte.
Unfug im Namen der Kunst
Schillers
freidenkerisches Pathos und geschichtsphilosophische Zuversicht
schrumpften seither zum pathetischen Missverständnis. Wer heute von der
Freiheit der Kunst spricht, meint nicht etwa die Einübung unabhängigen
Denkens und Wirkens, er versteift sich auf die angebliche Lizenz, im
Namen der Kunst alles tun zu dürfen und geradezu nichts lassen zu
sollen. Unter dem Rechtstitel einer von der Meinungsfreiheit
abgeleiteten Kunstfreiheit muss man sich heutzutage allerhand Unfug
anhören oder ansehen, der mit aufgeklärter Praxis nurmehr dem Schein
nach etwas gemein hat. Vielmehr verraten einschlägige Aktionen – Thomas Hirschhorn vor einiger Zeit in Paris, das Zentrum für politische Schönheit jüngst in Berlin und Zürich oder immer wieder der notorische Hitlergruss-Künstler Jonathan Meese
– in ihrer zwanghaften Anstössigkeit die offenkundigste Unfreiheit. Das
Mass der Unfreiheit solcher Kunst erkennt man indessen auch daran, dass
die Öffentlichkeit darauf mit immer gleichen stereotypen Reflexen der
Empörung reagiert – und damit gleichsam die Provokation zu legitimieren
scheint.
Ungeachtet des Geredes,
der Mensch sei dem Menschen ein Wolf, neigt die Kunstkritik eher zum
der Mensch sei dem Menschen ein Wolf, neigt die Kunstkritik eher zum
Weichzeichner als zum Weichklopfer.
Der
Staat aber tut gut daran, sich bei solchen Gelegenheiten in Toleranz zu
üben (und ein aufgeklärtes Staatswesen lässt sich darob auch nicht die
Einsicht in Sinn und Zweck einer massvollen Kunstförderung trüben, da
die Kunst doch gerade jene freiheitlichen Voraussetzungen abbildet, die
der liberal verfasste Staat nach einem Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde
nicht garantieren könne). Wo allerdings Rechtsgüter in Gefahr sind,
kommt die Rechtsprechung zum Zuge, nicht als Richterin über die Kunst,
sondern in Abwägung konkurrierender schützenswerter Rechte: vom
Urheberrecht etwa bis zum Persönlichkeitsrecht. Wenn nun aber dem Staat
bzw. der Politik diskrete Zurückhaltung empfohlen wird, so gilt für die
Kunstkritik genau das Gegenteil: Sie soll ohne falsche Rücksicht ihres
Amtes walten.
Am wenigsten in
Angelegenheiten der Kunst gilt wohl das maliziöse Bonmot, jede Zeit
erhalte, was sie auch verdiene. In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft
gehört es gerade zu den vornehmsten Aufgaben der Kunstkritik, das
Kunstschaffen an seinen eigenen Ansprüchen zu prüfen und weder
Mittelmass noch Meterware hinzunehmen. Wenn solches heute (wie
vielleicht zu den meisten Zeiten) manchen zu überwiegen scheint, dann
liegt es auch daran, dass die Kritik eher zum Weichzeichner als zum
Weichklopfer neigt. Ungeachtet des Geredes, dass der Mensch dem Menschen
ein Wolf sei, ziehen wir Kunstkritiker die Freundlichkeit der
Boshaftigkeit vor, eher beissen wir uns die Zunge ab, als einen Verriss
zu viel zu schreiben, eher verstecken wir uns hinter vagen Lobgesängen,
als uns mit einem präzisen Urteil zu exponieren. Das ist alles
menschlich und freundlich und nachvollziehbar – aber zutiefst
kunstfeindlich. Denn es missachtet oder, um es schärfer zu sagen:
verachtet das selbstbestimmte Fundament der Kunst.
Sich
mit der Kunst zu messen, und nichts anderes heisst Kunstkritik,
bedeutet auch und vor allem: ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Das wiederum
verlangt nicht weniger, als ein dem Kunstschaffen ebenbürtiges Wagnis
einzugehen: in Freiheit des Räsonierens und Argumentierens die kritische
Auseinandersetzung mit einem Werk auszuüben. Denn darin liegt der
grösste Respekt sowohl gegenüber den Künstlern und ihren Werken wie auch
gegenüber der Öffentlichkeit, vor der diese Reflexion geführt wird:
dass dem Abenteuer der Kunst mit der Kunst des freien Denkens begegnet
wird. Exponiert ist dieses wie jenes, das Risiko des Scheiterns wohnt
ihnen gleichermassen inne. Nur investiert der Kritiker weniger
Lebenszeit in sein Unterfangen. Das aber soll ihn nicht zu falscher
Rücksicht, doch zu höchster Redlichkeit anspornen.
Nota. - Was ist Kunst? Der phänomenale Ansatzpunkt für die Beantwortung dieser beliebten Frage ist ein doppelter; erstens hat sich in der bürgerlichen Gesellschaft in den letzten fünfhundert Jahren ein Stand ausgebildet, der für die und von der Kunst lebt und in einem spezifischen Gegensatz zum Arbeitnehmer steht; und zweitens, was freilich die Voraussetzunge des ersten ist: Die Kunst hat sich in der bürgerlichen Gesellschaft zu einer öffentlichen Instanz ausgebildet, die in Gegensatz und Widerspruch zu jener andern Instanz steht: der Wissenschaft, und beide rechtfertigen sich als Gegensatz zum Wesentlichen: der Ökonomie.
Das ist eine phänomenale, historische, "übersummative" Beschreibung der Kunst: denn sie ist nicht nur mehr, sondern auch etwas Anderes als die Summe der Werke. Darum taugt sie leider nicht zur Beantwortung der marktrelevanten Frage: "Ist das denn überhaupt Kunst?" Will sagen: Darf ich darauf rechnen, dass der Geldwert erhalten bleibt und hopefully steigt?
Und an wen geht die Frage? An den Kritiker. Aber im Detail kann die Kritik das gar nicht beantworten; denn sie ist nicht nur mehr, sondern auch etwas Anderes als die Summe ihrer Rezensionen. Sie ist öffentliche Instanz, nämlich immanente Instanz der Kunst selbst. Sie gehören zueinander, wie seit der Jenaer Romantik aktenkundig ist. Und das im übrigen nicht erst, seit der Kunstmarkt eine bürgerliche Angelegenheit ist: Die Kardinäle, die den Caravaggios ihre Avantgardismen abgekauft haben, waren zugleich die wahren Kenner und Kritische Instanz; und als solche bestimmten sie wie im Kunstbetrieb unserer Tage den Marktwert.
Im übrigen will ich an dieser Stelle nicht ungesagt lassen, dass ich bei der Zauberflöte nicht nur das Libretto, sondern auch die Musik albern finde; Mozart hat Schikaneder einen Gefallen getan, er ahnte ja nicht, dass es zu Ende ging.
JE
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