Freitag, 8. Juli 2016

Die Unvollendeten im Met-Breuer.


aus nzz.ch, 7.7.2016, 05:30 Uhr                                                               Tizian, Todesfurcht in Gethsemane

«Unfinished»  – Ausstellung in New York
Die Magie des Unfertigen
Das Unvollendete in der Kunst hat eine lange Geschichte; in der Moderne ist es zur ästhetischen Norm avanciert. Das Met Breuer zeigt, wie es dazu kam.

von Andrea Köhler

Das unfertige Kunstwerk hat eine eigentümliche Magie: Es regt die Gedanken an und ködert die Phantasie. Denn das Unabgeschlossene lässt uns nicht nur am kreativen Prozess teilhaben, indem es einen Einblick in die Arbeitsweise des Künstlers gewährt, es provoziert auch die Vorstellung seiner Vollendung. Was noch nicht fertig ist, könnte zu etwas nie Gesehenem werden. Und nicht selten hat es genau diese Qualität.

Tizians Schindung des Marsyas  

Eins dieser Bilder ist Tizians «Schindung des Marsyas». Der Anblick des kopfunter aufgehängten Satyrs, dem gerade das Fell über die Ohren gezogen wird, schlägt einem wie ein Fausthieb ins Gesicht, wenn man im dritten Stock des neuen Met Breuer aus dem Aufzug tritt. Die kürzlich eröffnete Dépendance des Metropolitan im vormaligen Sitz des vor einem Jahr umgezogenen Whitney-Museums zeigt in ihrer Inaugurations-Ausstellung «Unfinished: Thoughts Left Visible» auf zwei Etagen an die 200 unvollendete Werke von der Renaissance bis in die Gegenwart. Von Jan van Eyck bis Cy Twombly haben die Kuratoren sowohl Werke aus den reichen Beständen wie Leihgaben aus aller Welt zusammengebracht. Tizians Nachtstück, das aus Tschechien nach New York geschifft wurde, ist allein den Besuch dieser faszinierenden Ausstellung wert.

Jan van Eyck, Heilige Barbara 1437 

Die Meinungen darüber, ob Tizians vermutlich letztes Werk vollendet wurde, sind freilich geteilt. Auf den ersten Blick fällt an dem Bild kein Mangel auf. Es ist überdies signiert. Doch gibt es Spekulationen, dass andere letzte Hand angelegt haben könnten, was die an manchen Stellen unregelmässige Pinselführung erklären soll. So oder so aber ist das «Unvollendete», sprich: das nicht Geglättete, integraler Bestandteil einer malerischen Vorgehensweise, die das Leiden – und den archaischen Blutdurst derer, die sich daran delektieren – in die Textur des Gemäldes selbst überträgt.
Dass dieses rätselhafte und oft interpretierte Bild am Anfang einer Schau hängt, die das nicht zu Ende Gebrachte in der Kunst bis in die Gegenwart zeigt, ergibt Sinn: ist Tizians Einfluss auf die Moderne, in der das Bruchstückhafte und Prozessuale selbst integraler Teil der Kunst werden wird, doch unbestritten. Vielleicht sieht hier darum vieles automatisch modern aus. Das Unfertige als ästhetische Kategorie in seinem eigenen Recht ist freilich alt: Schon in der Renaissance wurde dem Non-finito grosser Respekt gezollt. Leonardo da Vinci, von dessen Schatz an unvollendeten Werken eine seiner bezaubernden Kopfstudien Zeugnis ablegt, hat in seinen «Traktaten» dem Non-finito einen hohen ästhetischen Stellenwert zugesprochen.

Seelenlandschaften von Turner

Mit dem übergangsweise gemieteten Breuer-Bau an der Madison Avenue hat sich das Metropolitan also nicht nur eine fabelhafte Kulisse für seine lange vernachlässigte Sammlung moderner Kunst geschaffen, sondern mit diesem Einstand auch seine erklärte Mission erfüllt, Bilder in einen historischen Kontext zu stellen. Und kein anderes Museum ist dafür geeigneter als diese weltgrösste enzyklopädische Institution mit ihren in die Tiefe der Zeit reichenden Beständen. Mit dem Thema haben die drei Kuratorinnen zudem ein Sujet gewählt, das, wie der Untertitel suggeriert, die Gedanken eines Malers sichtbar zu machen vermag. Unvollendete Werke gewähren freilich nicht nur einen Durchblick auf die Idee des Künstlers, sondern auch auf die ästhetischen Vorlieben und künstlerischen Techniken seiner Zeit.





Turner im Met Breuer

Doch ob ein Werk vollendet wurde, ist auf Anhieb nicht immer klar. Turner etwa, von dem hier gleich fünf Seelandschaften zu sehen sind, hat die Auflösung der Konturen ganz bewusst vollzogen. Und ist Jan van Eycks umwerfende «Heilige Barbara» von 1437 [s. o.], die mit dem Pinselstift auf eine Holztafel gezeichnete Märtyrerin vor einer staunenswert detaillierten Kulisse und einem kolorierten Himmel, nur eine grafische Vorgabe für ein Ölgemälde, oder ist sie ein in sich geschlossenes Meisterwerk? Vermutlich beides. Auch Ingres' «Grande Odalisque» mit ihren präzise konturierten Kurven und dem perlmutternen Glanz der Haut erfährt durch den nur skizzenhaft hingeworfenen Vordergrund keine Beeinträchtigung, sondern im Gegenteil eine beträchtliche Steigerung ihrer Sinnlichkeit.

Rubens, Henri IV in der Schlacht von Ivry, 1630

Dass unter den hier gezeigten unvollendeten Werken etliche von vollendeter Meisterschaft sind, liegt also in der Natur der Sache. Schönheit entsteht oft durch einen kleinen Makel, eine winzige Abweichung von der Norm. Denn Perfektion ist steril. Wie ein Silberblick oder ein Muttermal einem klassisch schönen Gesicht eine besondere Attraktivität verleihen, fügt das Angedeutete oder das Ausradierte manchem Porträt Ausdrucksstärke hinzu.

Mengs, Mariana de Silva y Sarmiento

Andere freilich, wie etwa das ausgelöschte Gesicht der festlich gekleideten Mariana de Silva y Sarmiento in einem in elaborierter Detailfreudigkeit schwelgenden Bild von Anton Raphael Mengs, haben eine beinahe unheimliche Qualität – als hätte jemand auf einer perfekt gedeckten Tafel einen abgehackten Körperteil auf eine Platte gelegt. Dagegen hat das nur in Tinte skizzierte Antlitz Christi in Dürers Gemälde «Salvator Mundi» eine von innen erleuchtete, ausserweltliche Qualität. Und ist nicht Christus als Hybride zwischen Mensch und Gott selbst das Paradebeispiel des Unvollendeten – und sei es als Opferlamm unserer angeborenen Fehlbarkeit?

Dürer, Salvator mundi

Die grossen Störenfriede

Viel Stoff zum Spekulieren also. Darüber hinaus sind die Gründe für den Abbruch der Arbeit an einem Werk sehr unterschiedlicher Art. Wurde es in diesem Stadium belassen, weil der Künstler es für misslungen hielt? War es bloss eine Studie, wie etwa Jacopo Tintorettos «Doge Alvise Mocenigo», und nie als fertiges Werk konzipiert? War Armut der Grund für das Niederlegen des Pinsels, ein zurückgezogener oder aufgegebener Auftrag, Unzufriedenheit mit dem Erreichten oder auch ein verworfener Plan? Oder waren die grossen Störenfriede im Spiel, Krankheit, Krieg oder Tod?

Hodler, Valentine Godé-Darel auf dem Totenbett 1915

Letzterer spielt in dieser Ausstellung jedenfalls keine geringe Rolle: Manet hat das «Begräbnis» von Baudelaire aus Kummer über das Hinscheiden seines Freundes nie zu Ende gebracht, doch das Bild bis zu seinem eigenen Lebensende bei sich aufgehängt. Ferdinand Hodlers Skizze seiner Geliebten Valentine Godé-Darel auf dem Sterbebett sieht aus, als wäre der Tod in seinem Auflösungswerk schon weit fortgeschritten. Und auch in Lucian Freuds «Self-Portrait Reflection, Fragment» von 1965 scheint der Tod präsent.

Manet, Begräbnis

Damit sind wir bei der modernen und zeitgenössischen Kunst und dem eher uninteressanten Teil dieser Schau angelangt. Die im vierten Stock versammelten Beispiele hinterlassen den Eindruck konzeptueller Ratlosigkeit – vielleicht weil das Phänomen des Unvollendeten in einer Ära, in der es als das neue Vollendete gilt, auch dort, wo ein Werk eindeutig nicht zu Ende geführt worden ist, kein Geheimnis mehr birgt. Ein bisschen kommt einem diese Galerie mit Werken von Cézanne und Picasso bis Gerhard Richter und Urs Fischer wie ein Malbuch vor, in dem nur die fehlende Farbe ergänzt werden muss. Wogegen die kluge Hängung eine Etage tiefer nicht nur eine immense Vielfalt an wahren Schätzen zu bieten hat, sondern auch die Einbildungskraft stimuliert. Es ist, als sehe man ein Palimpsest, in dem das schlechthin Unsichtbare, die Zeit selber, erscheint.


Bis zum 4. September. Der Katalog kostet 65 $.


Nota. - Hat das Met-Breuer eine Chance vertan? Ich hoffe mal, das hat nur Frau Köhler. Zwar schreibt sie, in der Ausstellung sähe "vieles automatisch modern aus", obwohl man nicht immer sicher sei, ob das Stück wirklich unfertig ist. Oder besser: weil? Das ist wenig, nur zu fragen, woran man die Unfertigkeit dieses oder jenen Stückes erkennen kann. Vielmehr muss die Frage heißen: Was hat man zu dieser und zu jener Zeit unter Vollendung verstanden, wann war ein 'Werk' fertig, was ist nämlich ein Kunstwerk? Oder auch: Besteht Kunst überhaupt noch in Werken?

Sehen Sie oben die Turner-Bilder. Sind die unfertig? Ja, er hätte wohl hier oder da einen von seinen feuerroten Flecken abfeuern können; hätten die Stücke auf einer Vernissage gehangen, hätte er's vielleicht gemacht. Aber als ein richtiger Moderner wollte er vielleicht nicht immer fertige Stücke machen.

Und Sehen Sie hier Cy Twombly:






 Cy Twombly Untitled I-VI (Green Paintings) 1986

Sind diese Dinger unfertiger als das, was man sonst von Twombly kennt? Es ist eine von seinen geliebten Serien, jedes Stück für sich wäre nicht unfertig, sondern ein Frechheit, aber als Serie 'haben sie was'. Und dass eine siebentens, achtes Stück fehlt, kann man wirklich nicht sagen. Sechse sind genug.
JE

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