Orpheus
aus scinexx
Die Macht der Musik
Wie Musik auf unseren Geist und Körper wirkt
Musik weckt Emotionen, bringt uns zum Tanzen und prägt in
vielfältiger Form unser Leben. Doch sie kann noch mehr: Mediziner finden
inzwischen immer mehr Hinweise darauf, dass Musik heilsam wirken kann –
nicht nur für die Psyche, sondern auch für den Körper. Sie lindert
Schmerzen und Ängste, stärkt das Immunsystem und hilft Herz und Gehirn.
Was unsere Vorfahren schon vor Jahrtausenden erspürten, entdeckt die
moderne Medizin jetzt langsam wieder neu: Musik kann heilen helfen.
Forscher finden immer mehr Bereiche der Medizin, in der eine gezielte
Musiktherapie zur Genesung von Patienten beitragen kann. Und diese
heilsame Wirkung geht teilweise weit über den etablierten Musikeinsatz
in der Psychotherapie hinaus. Noch steht die Erforschung dieser sanften
Heilhilfe ganz am Anfang, aber die ersten Ergebnisse sind durchaus
vielversprechend.
Inhalt:
von Nadja Podbregar
Stand: 26.05.2017
Tiefe Wurzeln
Musik als Urinstinkt?
Musik ist tief in unserer Geschichte und
unserer Natur verankert. Weltweit gibt es kaum eine Kultur, die keine
Musik kennt. Wahrscheinlich haben auch unsere frühen Vorfahren bei
Ritualen, bei alltäglichen Arbeiten oder bei Festen gesungen oder
getrommelt.
Die ersten Vertreter des Homo sapiens in Europa bastelten sich bereits
Musikinstrumente, wie Funde von 40.000 Jahre alten Flöten aus Mammut-Elfenbein und Knochen
in der Schwäbischen Alb belegen. Einige Forscher vermuten sogar, dass
die Musik der Entwicklung der menschlichen Sprache vorausging.
Ab der 16. Schwangerschaftswoche reagiert der Fötus auf Musik.
Musiksinn schon im Mutterleib
Wie sehr Musik uns prägt, zeigt sich schon im frühesten Kindesalter:
Selbst Ungeborene im Mutterleib reagieren schon auf Musik. Ab der 16.
Schwangerschaftswoche reagieren
Föten auf eine Beschallung beispielsweise mit Flötenmusik, wie
Ultraschallaufnahmen zeigen. Hören die Kinder Musik, beginnen sie, ihre
Körper zu bewegen, strecken ihre Glieder und reißen den Mund weit auf.
Einige strecken sogar die Zunge heraus. Bei bloßen Geräuschen oder
Brummtönen unterbleibt diese Reaktion.
"Musik steckt uns in den Genen", erklärt der Neurowissenschaftler Mark
Tramo von der Harvard Medical School. "Alle Menschen kommen schon mit
einem angeborenen Sinn für Musik auf die Welt." Kein Wunder, dass Musik
schon bei den Kleinsten ihre Wirkung entfaltet: Wenn das Baby Bauchweh
hat oder nicht einschlafen kann, dann hilft leises Vorsingen
sogar besser als beruhigendes Zureden, wie ein Experiment belegt. Das
Kind bleibt länger ruhig und weint deutlich weniger als beim bloßem
Reden.
Der griechische Gott Apollo (vorne), war nicht nur der Herr der Musen, sondern galt auch als Heiler.
Von Schamanengesängen bis Apollo
In den frühen Kulturen und auch in vielen Naturvölkern war Musik meist
eng mit der Heilkunst verknüpft. Schamanen stimmten wahrscheinlich schon
in der Steinzeit Heilgesänge an, um ihren Patienten zu helfen. In den
Kulturen der amerikanischen Ureinwohner und bei vielen afrikanischen
Naturvölkern ist Singen und Trommeln noch heute fester Bestandteil der
Heilrituale. Kein Zufall ist es wohl auch, dass sich das chinesische
Schriftzeichen für Medizin vom Symbol für Musik ableitet.
Im antiken Griechenland setzen Ärzte gezielt Musik ein, um Stress zu
mildern, Schlaf zu fördern oder Schmerzen zu lindern. Der griechische
Gott Apollo galt nicht nur als Gott der Künste und "Chef" der neun
Musen, als "Apollon Epikourios" wurde er auch als Gott der Heilkunst
verehrt. Ihm ist auch einer der am besten erhaltenen griechischen Tempel
geweiht, der Apollotempel im Norden des Peleponnes. Der Sage nach
sollen dankbare Bewohner der nahen Stadt Figalia diesen Tempel errichtet
haben, weil ihnen Apollon während einer Pestepidemie geholfen hatte.
Musik und moderne Medizin
Im Zeitalter der modernen Medizin jedoch ist die heilsame und positive
Wirkung der Musik in Vergessenheit geraten. Gesänge oder Trommeln
passten nicht mehr in die sachliche Welt der wissenschaftlichen
Heilkunst. Die modernen Rituale umfassen nun stattdessen weiße Kittel,
viele technische Geräte und ein ganzes Arsenal von Arzneimitteln.
Erst allmählich bahnt sich wieder ein Sinneswandel an: Mediziner beginn
zu erkennen, dass sie möglicherweise das Kind mit dem Bade ausgeschüttet
haben – und dass in der Wirkung der Musik mehr steckt als lange
angenommen. Immer mehr Studien liefern inzwischen Hinweise darauf, dass
ein gezielter Einsatz von Musik sehr wohl heilsam wirken kann. Denn
Harmonien, Rhythmen und Melodien beeinflussen nicht nur die Stimmung und
Psyche, sondern auch unseren Körper – und sogar unsere Genaktivität.
Komplex vernetzt
Wie unser Gehirn Musik verarbeitet
Rein physikalisch gesehen ist Musik einfach
nur Schall – ein Geräusch wie viele andere auch. Dennoch scheinen wir
instinktiv zu erkennen, dass es sich bei diesen Lauten um Musik handelt.
Unser Gehirn reagiert auf Melodien, bestimmte Rhythmen und Harmonien
anders als auf zufällig Geräusche. "Es mehren sich die
wissenschaftlichen Belege dafür, dass unser Gehirn auf ganz spezifische
Weise auf Musik reagiert", erklärt Lisa Hartling von der University of
Alberta.
Woran erkennt unser Gehirn, dass ein Schall kein bloßes Geräusch, sondern Musik ist?
Woran erkennt unser Gehirn Musik?
Warum das so ist und wie unser Gehirn Musik von bloßen Geräuschen
unterscheidet, ist allerdings bis heute rätselhaft. Einige Forscher
vermuten, dass Musik unabhängig von allen kulturellen Unterschieden
bestimmte universelle Merkmale besitzen könnte – naheliegend sind
beispielsweise wiederkehrende Rhythmen oder Tonfolgen.
Vor einigen Jahren stießen niederländische Wissenschaftler bei den
Tonleitern verschiedener Musikkulturen auf Indizien einer solchen
Universalität. Behandelten sie die mehr als 1.00 Tonleitern aus aller
Welt als multidimensionale Objekte und platzierten sie in einem
Koordinatensystem, dem sogenannten Euler-Gitter, entstanden einander
sehr ähnliche Muster: Alle traditionellen Skalen – egal aus welchem
Kulturkreis – erzeugten sternförmig-konvexe Muster.
In der primären Hörrinde wird unter anderem die Frequenz der Töne erkannt - und damit die Melodie.
Konzertierte Aktion der Hörrinde…
Was aber passiert in unserem Gehirn, wenn wir Musik hören? Der Schall
kommt wie alle Geräusche in unserem Ohr an und wird in der Cochlea in
elektrische Nervensignale umgewandelt. Über den Hörnerv gelange diese
Signale in die primäre Hörrinde – Hirnareale, die auf beiden Kopfseiten
knapp über unseren Ohren im Cortex liegen.
Hier findet eine erste Verarbeitung der Musiksignale statt: Funktionelle
Hirnscans deuten darauf hin, dass bei den meisten Menschen die Tonhöhe,
sowie bestimmte Aspekte der Harmonien vor allem vom rechten Hörzentrum
verarbeitet werden. Das Hörzentrum der linken Seite scheint dagegen eher
auf schnelle Wechsel in Frequenz und Intensität der Töne zu reagieren.
…und vieler weiterer Areale
Doch das allein reicht noch nicht: Das musikalische Hörerlebnis entsteht
erst durch eine fein abgestimmte und vernetzte Interaktion ganz
unterschiedlicher Hirnareale. Ob wir eine Geige oder eine Flöte hören
oder ob jemand singt, erkennen wir beispielsweise erst, nachdem ein
Hirnareal in der Nähe der rechten Hörrinde die Klangfarbe der Musik
analysiert hat.
Im Frontallappen wiederum wird das Gehörte mit Erinnerungen
abgeglichen – so erkennen wir beispielsweise eine uns bekannte Melodie
wieder. Studien zeigen zudem, dass je nach Musikart
der Schwerpunkt der Verarbeitung in ganz verschiedenen Arealen liegen
kann. Ob wir gerade eine klassische Symphonie hören oder einen Popsong,
lässt sich demnach sogar an unserer Hirnaktivität ablesen.
Warum uns Musik zum Tanzen bringt
Der Rhythmus der Musik aktiviert ebenfalls eine ganze Schar von
Hirnbereichen: An seiner Dekodierung sind sowohl die primären Hörzentren
beteiligt als auch das Kleinhirn und Teile der Frontallappen. Gemeinsam
helfen sie uns dabei, beispielsweise einen Dreiviertel- von einem
Viervierteltakt zu unterscheiden.
Sogar unsere motorische Hirnrinde, der Bereich, der normalerweise
Muskelbewegungen steuert, wird beim Musikhören aktiv. "Musik ist
offenbar ebenso akustisch wie motorisch anregend", sagt Mark Tramo von
der Harvard University. "Wenn wir nur daran denken, mit dem Fuß
mitzuwippen, leuchten schon Teile der Bewegungssteuerung im Gehirn auf."
Das uns einige Musikstücke geradezu "in die Beine gehen", geht auf
diese enge Verknüpfung zurück.
Große Gefühle
Musik und Emotionen
Musik bringt uns zum Weinen, macht uns froh
oder weckt Erinnerungen – kaum ein äußerer Reiz kann unsere Stimmung so
stark beeinflussen wie die Musik. Unabhängig vom kulturellen Kontext
reagieren Menschen auf den emotionalen Gehalt der Musik. Forscher
vermuten daher, dass diese Wirkung der Musik unwillkürlich und
instinktiv erfolgt.
Musik kann starke Gefühle wecken - und das zeigt sich im Weiten der Pupillen.
An den Augen ablesbar
Wie eng Emotionen und Musik verknüpft sind, lässt sich an unseren Augen
ablesen. Typischerweise weiten sich unsere Pupillen unwillkürlich, wenn
wir starke Gefühle empfinden oder sexuell erregt sind. Geweitete
Pupillen gelten zudem als Zeichen des Vertrauens, verengte dagegen als Signal von Angst oder Aggression.
Welchen Effekt die Musik auf dieses unwillkürliche Pupillensignal hat,
haben kürzlich österreichische Forscher untersucht. Sie spielten dafür
30 Probanden Klavierstücke aus der Romantik vor – einer für ihre
dramatische, gefühlsbetonte Musik bekannten Epoche – und maßen dabei die
Pupillenweite der Versuchspersonen. Das Ergebnis: Je emotionaler die
Probanden die Musikstücke empfanden, desto stärker reagierten auch ihre
Pupillen.
Hormonschwemme und Belohnungssystem
Was dabei in Körper und Gehirn passiert, ist bisher nur in Teilen
geklärt. Studien zeigen beispielsweise, dass beim gemeinsamen Singen ein
ganzer Cocktail von Glückshormonen ausgeschüttet werden kann. Neben
Serotonin, Dopamin und Endorphinen ist oft auch der Pegel des
"Kuschelhormons" Oxytocin erhöht. Diese Hormone sorgen für Euphorie, Zufriedenheit und ein tiefes Harmonieempfinden.
Der Nucleus accumbens (rot) ist entscheidend für das emotionale Lernen und das Belohnungssystem
Im
Gehirn dringt Musik bis tief in die Zentren der Gefühlsverarbeitung vor
und aktiviert dabei auch unser Belohnungssystem, wie Forscher
feststellten. Dieser Schaltkreis im Mittelhirn wird immer dann besonders
aktiv, wenn wir fundamentale Bedürfnisse oder aber eine Sucht
befriedigen. Durch Ausschüttung von Dopamin und intensives Feuern der
Neuronen im sogenannten Nucleus accumbens empfinden wir intensives
Wohlgefühl – wie beim Verzehr von Schokolade, im Drogenrausch, in religiöser Ekstase oder beim Sex.
"Blinder Fleck" für Musik
Allerdings: Es gibt auch Menschen, die lässt Musik völlig kalt. Egal, ob
fröhliche Tanzmusik oder eine traurige Ballade erklingt, löst dies bei
solchen musikalischen Anhedonisten
weder Freude, noch Wohlgefühl, Trauer oder andere Gefühle aus.
Seltsamerweise liegt dies jedoch nicht daran, dass die Betroffenen
tontaub wären und deshalb die Musik gar nicht erst richtig wahrnehmen.
Stattdessen können musikalische Anhedonisten die rein akustischen
Merkmale der Musik durchaus erkennen und zuordnen, wie spanische
Forscher herausgefunden haben. Die Betroffenen können auch angeben, ob
die Musik traurig, fröhlich oder beruhigend klingt. Aber die emotionale
Wirkung der Stücke kommt bei ihnen nicht an – für diese Seite der Musik
sind sie taub.
Der Grund: Obwohl ihr Belohnungssystem in anderen Fällen völlig normal
reagiert, bleibt es bei musikalischer Stimulation inaktiv. Die Forscher
schließen daraus, dass es bei diesen Menschen eine Art "blinden Fleck"
gibt, eine Lücke in der Verknüpfung von Hörerlebnis und
Emotionsverarbeitung.
Musik als Heilmittel.
Wo Musiktherapie schon hilft.
Weil die Musik tief in unser Empfinden und
unsere unwillkürlichen Reaktionen eingreift, liegt es nahe, diesen
Effekt auch therapeutisch zu nutzen. Denn Musik kann sogar dort wirken,
wo konventionelle Medizin und Psychotherapie kaum Ansatzmöglichkeiten
haben – in unserem Unbewussten.
Bei Tinnitus gehört eine Therapie mit spezieller Musik schon länger zum Standard
Hilfe bei Angst, Depression und Tinnitus
Gerade bei psychischen Leiden wird Musiktherapie schon länger
eingesetzt, beispielsweise bei Patienten mit Angststörungen oder
Depressionen. Studien belegen, dass durch eine maßgeschneiderte,
regelmäßige Musikberieselung Angst und Niedergeschlagenheit nachlassen
und weniger Stresshormone ausgeschüttet werden. Sogar Flugangst
soll eine App mit maßgeschneiderter Musik lindern können. Auch gegen
Schlafstörungen kann Musik helfen. Hören Betroffene vor dem Einschlafen
regelmäßig eine speziell dafür zusammengestellte Musik, liegen sie
weniger lange wach und erleben längere Tiefschlafphasen.
Ebenfalls bewährt hat sich die Musiktherapie bei Tinnitus.
Dabei wird meist Musik eingesetzt, deren Frequenzen auf bestimmte Weise
manipuliert oder mit einem "weißen Rauschen" unterlegt wurde. Dies
sorgt dafür, dass das Gehirn sich den von ihm selbst produzierten
Störton quasi abtrainiert. Noch effektiver könnte sogar eine aktive Form
der Musiktherapie sein, bei der die Tinnitus-Patienten selbst bestimmte
Tonfolgen nachsummen.
Schon nach wenigen Tagen führt dies dazu, dass sich funktionale
Strukturen im Gehirn verändern und das Ohrgeräusch nachlässt, wie eine
Studie ergab.
Musik kann bei ALzheimer-Patienten verschüttete Erinnerungen wecken und lindert Aggression und Depression
Musik und Alzheimer
Auch Alzheimer-Patienten können von Musik profitieren – und das gleich
auf mehrfache Weise. Zum einen scheint das Langzeit-Musikgedächtnis
erstaunlich immun
gegen den geistigen Verfall zu sein. Selbst wenn Alzheimer-Patienten
fast nichts mehr können – auf die Lieder ihrer Jugend reagieren sie
noch. Sie erinnern sich häufig sogar wieder an Ereignisse, die mit
dieser Musik verbunden sind. Das hilft dabei, die kognitiven Fähigkeiten
so lange wie möglich wach zu halten.
Zum anderen übt Musik auch einen direkten, positiven Einfluss auf die
Stimmung von Alzheimer-Patienten aus: Sie lindert die Verwirrung und
Angstgefühle und verringert auch aggressive Ausbrüche bei den Patienten,
wie Erfahrungen aus Pflegeheimen belegen. Wer vor seiner
Alzheimer-Erkrankung selbst Musik gemacht hat, dem hilft dies noch auf eine weitere Weise:
Das musikalische Training stärkt die Hirnareale, die für die
Sprachverarbeitung zuständig sind. Dadurch bleibt diese Fähigkeit auch
im Demenzfall länger erhalten, wie eine Studie nahelegt.
Selbst unter Narkose oder im Koma reagiert der Körper auf Musik
Wirkung sogar im Koma
Sogar bei Patienten im künstlichen Koma kann Musik Körper und Geist
positiv beeinflussen: Bekommen solche Patienten auf der Intensivstation
mittels Kopfhörer langsame Klaviersonaten von Mozart vorgespielt, sinkt
ihr Blutdruck und der Pegel der Stresshormone in ihrem Blut normalisiert
sich. Gleichzeitig benötigen die Mediziner deutlich weniger
Narkosemittel, um die Patienten weiterhin im künstlichen Koma zu halten –
auch dies ein Anzeichen für die entspannende und beruhigende Wirkung
der Musik.
Eine ähnliche Wirkung beobachteten Ärzte bei Patienten, die vor und
während einer Operation mit beruhigender Musik beschallt wurden. Auch
ihre Stresssymptome milderten sich, es kam zu weniger Komplikationen und
die Dosis von Schmerz- und Narkosemitteln konnte reduziert werden.
Gut für Herz und Abwehr
Musik gegen körperliche Leiden
Dass Musik bei psychischen Leiden und
Erkrankungen hilft, erscheint naheliegend. Doch inzwischen mehren sich
die Hinweise darauf, dass die Wirkung der sanften Töne weit darüber
hinaus geht. Auch Herz, Gefäße, Immunsystem und sogar die Muskeln lassen
sich durch Musik messbar positiv beeinflussen. "Wir haben überzeugende
Belege dafür, dass musikalische Therapien in ganz verschiedenen
medizinischen Bereichen heilsam wirken können – vom Operationssaal bis
hin zur Hausarztpraxis", erklärt der kanadische Neurowissenschaftler
Daniel Levitin, Autor des Buchs "Music and the Brain".
Herz und Kreislauf lassen sich von Musik messbar positiv beeoinflussen.
So
lindert maßgeschneiderte Musiktherapie nachweislich die Schmerzen von
Patienten nach Bauch- und Herzoperationen. Die Patienten benötigen
dadurch weniger Schmerzmittel und erholen sich schneller. Ähnlich
positive Ergebnisse gibt es auch für Patienten mit schweren
Verbrennungen und bei Menschen mit chronischen Schmerzleiden.
Klingende Reha
Besonders heilsam scheint sich Musik bei der Rehabilitation von
Herzinfarkt- und Schlaganfallpatienten auszuwirken. Zum einen lindert
die maßgeschneiderte Berieselung bei diesen Patienten Angst und Stress
und macht es dem Körper so leichter, die Schäden zu reparieren. Zum
anderen beeinflusst die Musik den Herzschlag, Blutdruck und die
Gefäßfunktion positiv und beugt so erneuten Herzinfarkten oder
Schlaganfällen vor.
Bei Patienten mit koronarer Herzerkrankung verbesserte das regelmäßige
Musikhören den Blutfluss und die Elastizität der Gefäße sogar genauso effektiv
wie sportliches Training. In einer anderen Studie sank der systolische
Blutdruck von Herzpatienten allein durch täglich 25 Minuten Musikhören
um zwölf Punkte, der diastolische um fünf Punkte.
Singen im Chor hat gleich mehrere positive Wirkungen auf die Gesundheit
Singen stärkt die Abwehrkräfte
Noch relativ neu ist die Erkenntnis, dass Musik auch unser Immunsystem
nachhaltig beeinflusst. Wenn wir Musik hören oder selbst Musik machen,
schüttet unser Körper vermehrt Immunglobulin A und Killerzellen aus, wie
Forscher herausfanden. Diese Akteure der Immunabwehr sind wichtige
Helfer im Kampf gegen Infektionen durch Bakterien oder Viren. Die
richtige Musik könnte daher durchaus dazu beitragen, uns besser gegen
eine Erkältung zu wappnen.
Einen weiteren positiven Effekt auf das Immunsystem erbrachte eine Studie mit Krebspatienten.
Diese sangen während und nach ihrer Chemotherapie regelmäßig in einem
Patientenchor. Analysen ihrer Blut- und Speichelproben ergaben, dass
sich durch die Musik nicht nur ihre Stressbelastung verminderte, auch
die Werte für zehn verschiedene Immunbotenstoffe veränderten sich. So
sank die Menge an entzündungsfördernden Botenstoffen, dafür stieg der
Gehalt an positiv wirkenden Zytokinen an, wie die Forscher feststellten.
Auch einige Biomoleküle, die das Tumorverhalten beeinflussen,
veränderten sich durch das regelmäßige Singen.
"Dies ist das erste Mal, dass klar demonstriert wird, wie das
Immunsystem durch das Singen beeinflusst wird", sagt Studienleiter Ian
Lewis von der Tenovus Cancer Care Klinik in Wales. "Das ist wirklich
spannend und könnte die Art und Weise verbessern, wie wir künftig
Patienten mit Krebs unterstützen.
"Keine "Pille für alle"
Wie geht es weiter?
Noch steht die Forschung zur heilsamen
Wirkung der Musik erst am Anfang und ihr Einsatz im medizinischen Alltag
ist längst nicht etabliert. Dennoch scheint sich allmählich die
Erkenntnis durchzusetzen, dass sich durch gezielte Musiktherapie
durchaus handfeste therapeutische Erfolge erreichen lassen.
Noch ist erst wenig zur komplexen Wirkung der Musik auf Geist und Körper bekannt.
Natürlich
kann selbst die Kraft der Musik nicht einen Pfropf in einer verkalkten
Arterie beseitigen oder zerstörte Hirnzellen wieder herbeizaubern. Und
bei schweren psychischen Erkrankungen wird wohl auch in Zukunft Mozart
nicht alle Medikamente ersetzen können. Aber die Wirkung der Musik kann
dazu beitragen, Beschwerden zu lindern und die Heilung zu beschleunigen –
oder einer Erkrankung vorbeugen.
"Große Lücken in unserem Wissen"
Allerdings: Noch sind die Ergebnisse zu den körperlichen Wirkungen der
Musik eher dünn und teilweise sogar widersprüchlich. Während einige
Studien beispielsweise bei Herzpatienten über klare Verbesserungen durch
eine Musiktherapie berichten, finden einige andere kaum messbare
Effekte. Einer der Gründe dafür: Oft werden ganz unterschiedliche Arten
von Musik für solche Studien eingesetzt – und nicht alle erweisen sich
als wirksam.
Weil bisher nur unzureichend erforscht ist, welche Musikmerkmale wie auf
den Körper wirken, beruht vieles auf Versuch und Irrtum. Auch durch
welche Prozesse Musik die körperlichen und psychischen Funktionen
beeinflusst, liegt noch weitgehend im Dunkeln. "Es klaffen noch große
Lücken in unserem Wissen über die zugrundeliegende Biologie", erklärt
der US-Neurowissenschaftler Mark Tramo.
Ein weiterer Aspekt: Musikvorlieben sind individuell. Während sich
manche Menschen am besten bei einer Klaviersonate von Bach entspannen
können, löst dies bei anderen vielleicht eher Langweile oder sogar
Stress aus. Sie bevorzugen stattdessen vielleicht eher Pop, Jazz oder
Volksmusik. Für jeden Patienten die seinem Leiden und seinem Geschmack
entsprechende Musik zu finden, ist daher nicht gerade leicht. Das
einfache Rezept: "Eine Pille für alle" scheint bei der Musiktherapie
nicht zu gelten.