Es lebe der Verriss!
Warum wird in der Kunstszene immer alles schöngeredet? Die weitverbreitete Lobhudelei dient der Sache nicht. Wer aber zu kritisieren wagt, wird geächtet. Das ist eine Form von Zensur. Deshalb sollten sich alle jene, die nicht von Kunstmarktinteressen geleitet werden, die Frage stellen, wie man die Gegenwartskunst vom Sockel steriler Selbstbeweihräucherung stürzen kann.
Ein
zweiter wichtiger Grund für die Inflation des Lobs liegt in der grossen
Verunsicherung über den wahren Wert der Gegenwartskunst. Nichts ist
konstant in der Kunstgeschichte und auf dem Kunstmarkt, doch die
Abwertung von Kunst ist noch immer ein grosses Tabu – niemand spricht
offen und gerne darüber. Vielleicht wird eine jederzeit mögliche
Abwertung hochgelobter Kunst auch deshalb tabuisiert, weil sonst das
Vertrauen in das symbolische Kapital Kunst, in die Währung Kunst
insgesamt erschüttert würde.
Notorischer Narzissmus
Und
schliesslich der dritte, vielleicht der wichtigste Grund für die
überbordende Lobhudelei in der Kunstszene: der allgegenwärtige
Narzissmus. Wer heute bestimmte Künstler oder Werke lobt, lobt nicht
mehr – wie in früheren Epochen – Gott, die Schöpfung oder das
Künstlergenie, sondern sich selbst, er lobt sich für seinen guten
Geschmack, für seine Bildung, für die Zugehörigkeit zu einem angesehenen
Milieu.
Narzissmus
findet man aber nicht nur bei den Kunstkonsumenten, sondern auch bei
den Künstlern selber. Jeder Mensch hat ein vitales Bedürfnis nach
Anerkennung. Sein Anerkennungseinkommen kann sich aus verschiedenen
Quellen speisen – Familie, Freunde, Beruf, Ehrenämter, Hobbys, sexuelle
Aktivitäten –, kann sich aber auch aus einer einzigen Tätigkeit oder
Rolle ergeben. Viele Künstler beziehen ihr Selbstwertgefühl ganz
überwiegend aus ihrer Arbeit, und wenn der Erfolg ausbleibt, ist das
Risiko einer tiefgehenden Kränkung besonders gross.
Der
Kunstmarkt erzeugt aber strukturell bedingt ständig Kränkungen, weil
seine Erfolgsskala nach oben offen ist und wenigen Gewinnern zahllose
Verlierer gegenüberstehen. Die Kränkung besteht in der Regel aus
Nichtbeachtung, was die Opfer schon als Strafe genug empfinden.
Vielleicht ist die harsche Kritik auch deshalb so selten, weil sie als
übertriebene Strafe empfunden würde. Das träfe zu, wenn es sich um
unbekannte Künstler handelte – doch bei Berühmtheiten und
Kunstmarktgrössen dürfte man eine robustere Konstitution voraussetzen.
Und trotzdem: Jeder Kunstkritiker wird die Erfahrung gemacht haben, dass
Galeristen, Kuratoren oder Künstler auf negative
Ausstellungsbesprechungen nicht selten überempfindlich und kleinlich
reagieren.
Wer
heute noch substanzielle Kritik übt und dadurch den Chor der Lobsänger
stört, gilt schnell als unsozialer Rüpel oder gar als schwierig, als
psychisch angeknackt. Autoren, Kritiker, Journalisten müssen heute
gewiefte Netzwerker sein, um Erfolg zu haben. Sie müssen stets fürchten,
den Zugang zu interessanten Quellen, zu den Informationshierarchien der
Kunstmarkt-Insider zu verlieren, und halten sich deshalb zurück.
Informelle Zensur
Dies
ist die neue, die informelle Zensur im Kulturbetrieb. «Wenn wir Profis
sozusagen privat ein Kunstwerk betrachten, ohne an unsere berufliche
Verpflichtung zu denken, äussern wir oft ganz andere und manchmal viel
interessantere Meinungen als im Dienst», verriet etwa Robert Cumming,
der jahrelang als Kurator für die Tate Gallery und für Christie’s tätig
gewesen war. Aufgrund der allseitigen Vernetzung der Mitspieler im
Kunstbetrieb durch ihre Mehrfachfunktionen – manche sind Künstler und
Kuratoren, Händler und Jurymitglieder, Museumsdirektoren und Gutachter
in persona – ist der offene Schlagabtausch eine Seltenheit geworden.
Dennoch
ist schonungslose Kunstkritik wichtig, allein schon, um einen minimalen
Qualitätsanspruch in der Kunst aufrechtzuerhalten, und nicht zuletzt im
Interesse der Künstler: «Pauschales Dauerloben ist eine Form der
Vernachläs- sigung durch Verwöhnen», erklärt Peter Henningsen, Chefarzt
für Psychosomatik an der TU München. In der Kinder- erziehung gilt dies
als fatal, denn auf diese Weise können Kinder narzisstische Gefühle
entwickeln und verzagen schnell, wenn in der Welt da draussen etwas mal
nicht so super läuft. Dauerlob ist also erwiesenermassen kontraproduktiv
für die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls.
Innerhalb
des Kunstbetriebs herrscht ein Klima wortreichen allseitigen Lobes und
Selbstlobes, ausserhalb dräut dumpfes, oftmals sprachloses Ressentiment.
Diese Wagenburgmentalität der Kulturszene zeigt sich immer dann
überdeutlich, wenn Kritik von aussen geübt wird. Es scheint jenseits von
stummem Ressentiment und periodisch aufflackerndem Vandalismus kaum
Möglichkeiten zu geben, Kritik am etablierten Kunstbetrieb zu
artikulieren und die richtigen Adressaten für diese Kritik zu finden.
All
diejenigen aber, die nicht von Kunstmarktinteressen geleitet werden,
sollten sich die Frage stellen, wie man die Gegenwartskunst vom Sockel
steriler Selbstbeweihräucherung stürzen kann, um eine ebenso vitale wie
allgemeinverständliche Streitkultur zum Leben zu erwecken. In diesem
Sinne: Es lebe der Verriss!
Nota. -
Wenn Banksy seine Sachen nicht mit Autolack auf Wände sprühte, sondern
mit Acryl auf Leinwand pinselte, wäre das meiste davon Kitsch.
Aber darum macht er es ja so und nicht anders.
Was kann man heute noch malen? Quadratur des Kreises! Wie kann man heute noch malen? Ach, ausgelutschte Kamelle. Worauf kann man heute noch malen? Ja, da sind noch ein paar Möglichkeiten offen; das für wen? ist sowieso längst geklärt.
Jeff Koons ist da gar nicht weit.
JE
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