aus FAZ.NET,
Ein Abbild der modernen Ewigkeit
Die Impressionisten sahen ihn als Nachzügler, aber als Maler des modernen Lebens war er ihnen einen Schritt voraus. Die Alte Nationalgalerie in Berlin feiert den Maler Gustave Caillebotte.
Von Andreas Kilb
Caillebotte ist der Magier der Sachlichkeit. Auf seinem Bild „Straße in Paris, Regenwetter“ wird eine Straßenkreuzung im achten Arrondissement zur Bühne der menschlichen Komödie. Mehr als zwanzig Personen laufen über die Pflastersteine und Trottoirs der Place de Dublin, an der sich fünf Hauptstraßen kreuzen. Die Mehrzahl hält Regenschirme, manche gehen in Paaren, die meisten allein, keiner schaut einen anderen an. Ein Mann hastet mit gesenktem Kopf über die Rue de Saint-Petersbourg, eine Frau rafft ihren Rock, bevor sie das Pflaster betritt, ein großbürgerliches Paar, der Mann mit Zylinder, Fliege, Kurzmantel und Nankinghose, seine Begleiterin mit Gesichtsschleier, Juwelenohrring und pelzbesetztem Kleid, kommen dem Betrachter entgegen. Ein Passant ganz rechts hebt seinen Schirm, um ihnen auszuweichen.
Rings um dieses Schauspiel
spannt sich ein Theater der Dinge. Eine Gaslaterne teilt das Bild in
zwei Hälften. Eine Kutsche rollt vorbei. Wie ein Schiffsbug schiebt sich
das Eckhaus an der Rue Clapeyron auf den Platz. Im Erdgeschoss
residiert eine Apotheke. In der Tiefe der Rue de Turin wartet ein
letztes Baustellengerüst auf seine Demontage. Hinten rechts sieht man
durch die Glasfenster ins Innere einer Bar. Die grauen Schirme schweben
wie ein Rudel Raben über der Szene, bereit, abzuheben in den
Regenhimmel. ...
Vom Treppenhaus kommend,
wird man förmlich eingesogen von der brutalen Perspektivik der
Straßenszene. Der Impressionistensaal hat einen neuen Mittelpunkt
bekommen, einen Souverän, der kein Ausweichen duldet. Gleich hinter der
Stirnwand mit der „Straße in Paris“ öffnet sich ein Kabinett mit zwei
weiteren Gemälden und acht Zeichnungen Caillebottes, ein Studienraum,
der die Präsentation des Großformats aus Chicago zu einer mustergültigen
kleinen Schau erweitert.
Place Dublin
Alle acht
Zeichnungen sind Vorstudien zur „Straße in Paris“: Häuserfluchten,
Bewegungsskizzen, Porträts. Denn der Maler hat das Bild nicht, wie seine
Impressionistenfreunde Monet und Renoir, im Freien mit eiligem Pinsel
gemalt, sondern es sorgfältig im Atelier konstruiert. Dass es dennoch
wie eine Momentaufnahme des Pariser Alltags wirkt, ist das Wunder seiner
Komposition. Er gibt ein impressionistisches Motiv mit dem Blick des
Historienmalers wieder. Zugleich bricht er mit der Ästhetik der
Historienmalerei, indem er sein anekdotisches Repertoire in alle
Richtungen zerfließen lässt. Der Fluchtpunkt sind zwei Frauen, die sich
nach hinten entfernen. Die optischen Klammern der Häuserfronten wirken
zugleich als Trennmauern.
Aber
das ist nur die formale Seite seiner Meisterschaft. Man kann die
„Straße“ auch als Bilanz der Haussmannisierung lesen, die im Jahr 1877,
als das Gemälde entstand, größtenteils abgeschlossen war. Der Ausbau der
Stadt durch den Architekten Napoleons III. hatte die
Immobilienspekulation angeheizt, die Mieten vervierfacht und die soziale
Entmischung vorangetrieben. Auf der „Straße in Paris“ sind die
Gesellschaftsschichten in die Tiefe gestaffelt: vorne die Bourgeoisie,
zu der auch der Fabrikantenerbe Caillebotte gehörte, dahinter Menschen
in ärmlichem und unmodischem Aufzug, ganz hinten Handwerker und
Dienstmädchen. Das Kutschrad, dessen Speichen im Regen verschwimmen, ist
ebenso Vehikel des Fortschritts wie ein Symbol des sozialen Schicksals.
„Paris verwandelt sich – für mich wird alles Allegorie“ hatte
Baudelaire fünfzehn Jahre zuvor geschrieben. ...
Wenn man sich auf dem Weg zum Ausgang noch einmal umdreht, um die „Straße in Paris“ zu betrachten, sieht man, dass Caillebotte dem Impressionismus, den er förderte und durchsetzte, als Nachzügler zugleich einen entscheidenden Schritt voraus war. Er hat nicht den Eindruck des modernen Lebens wiedergegeben, sondern dessen Abdruck im Bewusstsein: eine Momentaufnahme als Abbild der Ewigkeit. Man sollte jede Gelegenheit nutzen, sie zu sehen.
Nota. - Als ich schrieb, C. habe wirklich nicht ganz zu den Impressionisten gehört, er sei aber über sie hinausgegangen und nicht hinter sie zurück - da war das nicht so banal, wie es klang. Denn die Zeitgenossen und vor allem die Maler unter ihnen hielten ihn mit seinen klaren Konturen, zwischen denen man genau erkennen kann, was es darstellen soll, und seiner akribischen Studiomalerei für eher etwas zurückgeblieben.
Und wenn Andreas Kilb von Realismus schreibt, fügt er gleich hinzu, dass die Figuren ganz fremd neben einander stehen, als gehörten sie andern Kontinenten an. Denn wenn er auch nicht, wie die Impressionisten, nicht die Tiefe des Raums in allgemeinem Dunst auflöst, sind seine Figuren doch auffällig flächig und körperlos (die gemalten mehr als die gezeich- neten). Das ist mehr als das Formale und ist auch eher ästhetisch als realistisch, es ist ein modernes Element, das weniger in den Sachen begründet ist als in den Bildern, die man sich von ihnen macht. Das fing aber schon bei Corot an und ist mit Edward Hopper nicht zuende. Ein Unterschied ist allerdings, dass man es heute nicht mehr unbefangen auf ein Ta- felbild malen kann.
JE
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