Malen, bis der Schenkel blutet.
Zwischen Psycho-Humbug und sexuellen Ausschweifungen: Die neue
Biografie von Geordie Greig über den britischen Künstler Lucian Freud
kann wenig überzeugen. Fundierteres wurde andernorts über Freud
geschrieben.
von Ingo Flothen
"Man stelle sich einmal vor, Shakespeare hätte Kugerl-Dramen und
keine Königsdramen geschrieben. Wen würde das denn heute noch
interessieren?" Lucian Freud, der Ächter aller abstrakter Kunst, er
hätte dieses Wort des Wiener Polemikers Alfred Hrdlicka gemocht. In den
1960ern war alles möglich: Pop- und Op-Art, Konzeptuelles und
Psychedelisches, Drip- und Action-Painting. Und noch einiges mehr. Nur
eines nicht: figurative Malerei. Der Mensch war passé, das Menschliche
abgehalftert, aus und vorbei. Nichts, was in der Nachkriegskunst
verpönter und muffiger gewesen wäre als der Mensch.
Jackson Pollock als "Spitzenklöppler" abzutun, wie dies Francis Bacon, der große Freund und Mitstreiter Freuds, damals tat, dazu gehörte Mut. Die abstrakte Malerei, nichts als l’art de mouchoir? Da musste man schon ein ganzer Kerl sein. Einer dieser Kerle war Lucian Freud.
Lucian Freud wurde 1922 in Berlin geboren. Sein Vater, jüngster Sohn von Sigmund Freud, war Architekt, und die drei Brüder Clemens, Stefan und Lucian lebten gutbürgerlich behütet ihre Berliner Kindheit. Bis die Nazis kamen und alles zusammenschlugen. 1933 verließen die Freuds Berlin Richtung London. Und hier schließlich machte sich der junge Freud – schon früh als "Wunderknabe" gehandelt – auf, die gegenständliche Malerei neu zu erfinden und der teuerste Künstler seiner Zeit zu werden.
Als ganzen Kerl beschreibt nun auch Geordie Greig in seiner Biografie "Frühstück mit Lucian Freud" diesen Giganten der britischen Kunst. Vor allem zwei Dinge, so erfahren wir, machen diesen Kerl aus: Frauen und Malerei. Malerei und Frauen. (Nun gut, zumindest in den frühen Jahren scheinen auch ein paar Männer dabei gewesen zu sein. Der Bohème wegen, wie es heißt – an Lust glaubt Greig nicht.)
Im Wüsten das Menschliche
Zunächst die Frauen. Die Mutter war die erste, natürlich. Und sie ist an allem schuld, natürlich. So will es der Küchenpsychologe Greig: "Freud habe ihre Nähe nicht ertragen. Sie habe sein Privatleben nicht respektiert." Und deshalb klappt auch später alle Fürsorglichkeit und Verantwortung nicht, alle Verbundenheit und Vertrautheit mit dem Weiblichen. Schon gar nicht so etwas wie Familie. Im Gegenteil. Es wird gevögelt, was das Zeug hält. 14 Kinder entstehen, ein Dutzend davon unehelich. Die Dunkelziffer, sagen "Experten" (Journalisten sind gemeint), geht gegen 40.
Verhütung findet er "furchtbar ordinär". Lucian Freud kommentiert lakonisch: "Ich mag Babys nicht, weil sie so schutzlos sind. [...] Familie hat mich nie groß interessiert." Was ihn allerdings interessierte, das waren Frauen. Ohne Unterlass, noch als Greis. Er nimmt sie sich einfach, im Atelier und anderswo und überall. Die Disposition zur omnipotenten Geilheit als familiäres Erbe? Arme Mutter!
So maßlos wie seine Liebe zu den Frauen und so schillernd sein Sexleben, so besessen war er von der Malerei. Aber auch hier geht es immer nur um eins: um Fleisch und Fleischlichkeit. Zwar fängt in jungen Jahren alles noch recht verhalten an: zart modellierte Flächen, fein Gestricheltes und Ziseliertes, ins Surreale und Neu-Sachliche getrieben, gar ins Naive, aber schon bald ist er angelangt beim derbsten Verismus, der denkbar ist. Ungeschönt, direkt, brutal. Ab jetzt wird es ein Malen, bis der Schenkel blutet.
Denn es konnte schon mal vorkommen, dass er mit dem Pinsel wild auf sich einstach, wenn er unzufrieden mit sich war. Keiner, noch nicht mal ein Francis Bacon, wusste derart mit Farbe Fleisch zu modellieren – wie mit Knetmasse gemalt – , wobei sein kompromissloses, inquisitorisches Auge die Dinge sah, wie sie waren, ganz gleich, ob derb oder zärtlich (Robert Hughes nannte es den "hierarchiefreien Blick"), und so offenbart letztlich sogar noch das Wüste, Unappetitliche in seiner Malerei das zutiefst Menschliche. Seine nichts beschönigende Gnadenlosigkeit, manche nannten es Gefühlskälte, war nichts als ein Barmen mit des Menschen Unzulänglichkeit.
Und doch. Wenn man den Lebenslinien dieses Menschen folgt, weiß man nicht, ob man ihn für ein Ungeheuer halten muss oder für einen warmherzigen Zeitgenossen. Fast immer war er beides, gab liebend gern den doppelköpfigen Janus. Schon sein Äußeres, diese verlotterte Noblesse: Nie wusste man, ob man einen Aristokraten oder Pennbruder vor sich hatte. Taxifahrer fuhren sicherheitshalber an ihm vorbei. Ansonsten war er: bezaubernd und bösartig zugleich; von ausgesuchter Höflichkeit und immer auch wieder gehässig aggressiv; ein gleichermaßen zärtlicher wie teuflisch-sadistischer, äußerst brutaler Liebhaber; ein großzügiger Egoist; so sanft wie gewalttätig (berühmt für seine handfesten Schlägereien); mitfühlend und doch auch schaurig bis zur Todesdrohung ("Ich bring Dich um"). Und zuletzt noch ein antisemitischer Jude. Alles in allem: ein Ekelpaket mit magischen Charme-Anfällen.
So erschöpfend Greig den Hedonistensumpf des Erotomanen durchwandert und sich im Dickicht sexueller Eskapaden verliert, so wenig Gehaltvolles weiß er über Freuds Kunst zu sagen. Ein paar zweifelhafte Gemeinplätze ("Nacktheit verändert alles, eine tiefere Ebene des Erkennens wird ermöglicht"), dazu – man ist schließlich auf Freudschem Terrain – allerlei Psycho-Humbug ("Der Pinsel und die Farbtube sind quasi Sexualsymbole"), das war’s dann auch schon. Warum V. S. Naipaul im dilettierenden Amateur einen "Meisterbiografen" sieht: Man versteht es nicht.
Warum ein William Boyd diese auf Redundanzen und Getratsche spezialisierte Biografie als "große Expertise der Kunstwerke" feiert, bleibt sein Geheimnis. Wer genau das sucht, solides Denken und ganz eigen Empfundenes, der greife zu Robert Hughes’ altem Essay "Über Lucian Freud"; er wird belohnt werden mit analytisch brisanten Betrachtungen, mit sowohl gewitzten wie auch kenntnisreichen Beobachtungen und letztlich mit spannenden Referenzen zum Werk des "größten Vertreters der realistischen Malerei". Alle anderen müssen sich mit Greig begnügen – und bleiben arm.
Geordie Greig: Frühstück mit Lucian Freud. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Verlag Nagel & Kimche, München 2014. 272 Seiten, 21,90 Euro.
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