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Er
erkennt aber auch den Fortschritt darin: „Die mannigfaltigen Anlagen im
Menschen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander
entgegenzusetzen. Dieser Antagonism der Kräfte ist das große Instrument
der Kultur. Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt zwar das Individuum
unausbleiblich zum Irrtum, aber die Gattung zur Wahrheit.“[4]
Soll nun im Gattungsinteresse das Individuum dazu verurteilt bleiben, „über irgend einem Zwecke sich selbst zu versäu- men“? Wenn die Kultur mit ihren Künsten die Verkümmerung der Individuen unausweichlich machte, dann gilt es, durch
eine „höhere Kunst“ die Totalität der Person wiederherzustellen.[5]
Wer soll das tun, und wie? Die Revolution hatte alle Hoffnung auf den
Staat gesetzt, aber die Menschen waren für die Freiheit noch nicht reif,
die Republik wurde zur „Tyrannei gegen das Individuum“, bis es sich am
Ende gar zur alten Unterdrückung zurücksehnen mochte![6]
Der Staat fällt als Mittel der Befreiung aus. Umgekehrt, ein freier
Staat wird erst möglich, wenn die Individuen zur Freiheit gebildet sind.
„Man müßte also zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, welches der
Staat nicht hergibt.“ Da er selber Künstler war, mußte Schiller nicht
lange suchen: „Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst.“[7]
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Die Doppelnatur des Menschen, mal Natur-, mal Vernunftwesen, kommt in seiner zwiespältigen Triebstruktur zum Ausdruck: Dem „sinnlichen Trieb“, der auf die Befriedigung der Bedürfinisse in der Zeit gerichtet ist, steht ein „Formtrieb“ gegenüber, der auf die – logische und moralische – höhere Bestimmung des Menschen in der Ewigkeit zielt. Der eine kommt aus dem prallen Leben, der andre reißt ihn über dessen Verstrickungen hinaus. Nur seinem sinnlichen Trieb preisgegeben, bleibt der Mensch eine Art Gemüse. Nur dem Formtrieb verfallen, erstirbt er dem Leben.
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Dann – mit dem 19. Brief – bricht Schiller seinen Gedankengang plötzlich ab. Soeben hat er Fichtes „Wissenschaftslehre“ gelesen.[11] Die beiden ‚Triebe’ läßt er nun beiseite, als legten sie einander brach: „Die Entgegensetzung zweier Naturnotwendigkeiten gibt der Freiheit ihren Ursprung”! Seither gibt es „in dem Menschen keine andere Macht als seinen Willen“. Jene „mittlere Stimmung“, wo die Triebe verstummen und der Mensch in seinen ursprünglichen „negativen Zustand der bloßen Bestimmungslosigkeit“ zurückkehrt, diesen „Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit“ muß man „den ästhetischen heißen“. „In dem ästhetischen Zustand ist der
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Mensch also Null“, nämlich „an Inhalt völlig leer“, und findet sich in der Freiheit
wieder, „aus sich selbst zu machen, was er will. Das Vermögen, welches
ihm in der ästhetischen Stimmung zurückgegeben wird“, ist „als die
höchste aller Schenkungen zu betrachten“, und es ist „nicht bloß
poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die
Schönheit unsre zweite Schöpferin nennt.“[12]
Der ästetische Zustand ist also ziemlich das Gegenteil von dem, was man landläufig Subjektivismus nennt. ‘Selbstvergessenheit’ – nach Fichte Bedingung alles Realen – wäre der treffende Ausdruck.
Der ästetische Zustand ist also ziemlich das Gegenteil von dem, was man landläufig Subjektivismus nennt. ‘Selbstvergessenheit’ – nach Fichte Bedingung alles Realen – wäre der treffende Ausdruck.
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[1] Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen, zuerst erschienen in Schillers Zs. Horen; hier zit. nach: Fr. Schiller, Ausgewählte Werke Bd. 6, Stuttgart 1950 (Cotta)
[2] ebd, S. 250
[3] ebd, S. 252f.
[4] ebd., S. 257
[5] ebd, S. 259
[6] ebd, S. 259-261 (7. Brief)
[7] ebd, S. 263
[8] ebd, S. 285
[9] ebd, S. 287
[10] ebd, S. 290f.
[11] Fichtes Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre erschienen seit dem Frühjahr 1794 bogenweise als Handschrift für seine Zuhörer. Neu: Hamburg 1979 (PhB); auch in: Fichte, Sämtliche Werke Bd. I, Berlin 1971. – Beide waren Professoren in Jena, Schiller für Geschichte, Fichte für Philosophie.
[12] Schiller aaO, S. 305-310
[3] ebd, S. 252f.
[4] ebd., S. 257
[5] ebd, S. 259
[6] ebd, S. 259-261 (7. Brief)
[7] ebd, S. 263
[8] ebd, S. 285
[9] ebd, S. 287
[10] ebd, S. 290f.
[11] Fichtes Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre erschienen seit dem Frühjahr 1794 bogenweise als Handschrift für seine Zuhörer. Neu: Hamburg 1979 (PhB); auch in: Fichte, Sämtliche Werke Bd. I, Berlin 1971. – Beide waren Professoren in Jena, Schiller für Geschichte, Fichte für Philosophie.
[12] Schiller aaO, S. 305-310
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