Malen mit Licht
Die Retrospektive der Berlinale widmet sich unter dem Titel «Ästhetik der Schatten» Beleuchtungsstilen
Die Retrospektive der Berlinale widmet sich unter dem Titel «Ästhetik der Schatten» Beleuchtungsstilen
von Jörg Becker ·
Bedeutete Beleuchtung in den Anfangsjahren des Kinos noch, eine Szene
möglichst hell und gleichmässig auszuleuchten, damit alles gut erkennbar
sei, entwickelte sich seit Ende der 1910er Jahre eine Tendenz zu
bewusster Setzung «filmischen Lichts», der die Deutsche Kinemathek mit
ihrem diesjährigen Programm in Kooperation mit dem New Yorker Museum of
Modern Art nachspürt. «Malen mit Licht» - so der Titel eines Buches des
Kameramanns John Alton (1948) - wurde fortan zu einer eigenen
Gestaltungskunst des Films. Lichtsetzung modellierte die Szene,
arrangierte das Dunkel, verfremdete Gesichter, sie liess Gestalten aus
Schattenräumen hervortreten, kultivierte die Silhouette, verlieh Körpern
Plastizität und brachte die Kunst des «low key» zur Blüte, ein
hochdifferenziertes Helldunkel - sichtbar an frühen Beispielen von Cecil
B. DeMille, «The Cheat» (USA 1915), und Benjamin Christensen, «Die
Nacht der Rache» (Dänemark 1916).
Benjamin Christensen, Die Nacht der Rache (Dänemark 1916)
Benjamin Christensen, Die Nacht der Rache (Dänemark 1916)
Die Malerei als Inspiration
Wechselbeziehungen zwischen
Hollywoods avancierter Lichtästhetik und nationalen Traditionen haben
sich über verschiedene Genres hinweg ausgebildet. So macht die
Retrospektive an Beispielen des Kriegsfilms - etwa «Air Force» (USA
1943, Howard Hawks), in dem die Arbeit einer Bomberbesatzung bei Nacht
dargestellt wird, oder «Westfront 1918» (Deutschland 1930), Georg
Wilhelm Pabsts Weltkriegsfilm im Dunkel der Unterstände - deren
Verwandtschaft in Sachen Licht-und-Dunkel-Arrangement mit Exponenten des
deutschen sozialkritischen «Strassenfilms» - «Die freudlose Gasse»
(1925, G. W. Pabst) oder «Unter der Laterne» (1928, Gerhard Lamprecht) -
zwischen Vergnügungsvierteln, Hinterhöfen und Strassenstrich
anschaulich. Darüber hinaus weist sie bildästhetische Affinitäten mit
dem amerikanischen Gangsterfilm seit Josef von Sternbergs «Underworld»
(1927) bis zu Vertretern des Film noir wie «The Naked City» (USA 1948,
Jules Dassin) nach und gelangt schliesslich zu den in den zwanziger
Jahren in Japan sehr populären «jidaigeki» (Historienfilme der
vormodernen Periode) mit ihren Glanzlichtern auf Augen und Haaren, dem
Aufblitzen von Schwertern der Samurai in fahlem Mondlicht.
Die freudlose Gasse (1925, G. W. Pabst)
Die freudlose Gasse (1925, G. W. Pabst)
Die seinerzeit unverhohlene
Bewunderung japanischer Cineasten für Friedrich Wilhelm Murnau und Josef
von Sternberg wird an Filmbeispielen wie Teinosuke Kinugasas «Jujiro /
Im Schatten des Yoshiwara» (1928) augenscheinlich, dem ersten
japanischen Film, der in deutsche Kinos gelangte und aufgrund der
«entfesselten Kamera» auf begeisterte Kritiken stiess. Das spätere
goldene Zeitalter des japanischen Kinos - herausragend: «Rashomon»
(1950, Akira Kurosawa), «Ugetsu Monogatari» und «Sansho Dayu» (beide
1953, Kenji Mizoguchi), alle aufgenommen von Kazuo Miyagawa, von dem die
Filmschau unbekanntere Beispiele zeigt - bediente sich der
Schattentechnik als Fortsetzung tradierter japanischer Ästhetik.
Teinosuke Kinugasa, Jujiro - Im Schatten des Yoshiwara (1928)
Eine besondere Würdigung erfährt
die Beleuchtungsästhetik des deutschen Kameramanns Eugen Schüfftan, für
den das Filmbild immer eine subjektive, interpretative Kategorie
darstellte und der im französischen und amerikanischen Exil seine
Prägung hinterliess. Schüfftans Orientierung an Rembrandt, an
Caravaggio, aber auch an Max Beckmann lässt sich an Filmbeispielen
studieren.
Augen ohne Gesicht, Regie Georges Franju, 1960; Kamera Eugen Schüfftan
Augen ohne Gesicht, Regie Georges Franju, 1960; Kamera Eugen Schüfftan
Ausleuchtung der Diven
Schliesslich bringt die Reihe das
«Starlight» für Greta Garbo und Marlene Dietrich zur Anschauung, den
Wettstreit um zwei Ikonen mit den Waffen des Lichts. Sternbergs
Kameramann Lee Garmes hatte bereits während der Arbeit am
Paramount-Picture «Morocco» (USA 1930) für die Dietrich ein Licht
gesucht, das sich von der seitlichen Beleuchtung, mit der William
Daniels für MGM die Garbo umgab, absetzte. Ein von oben steil
einfallendes Führungslicht, ihr Gesicht geheimnisvoll skulptural
aushöhlend, verschattend, sollte fortan zum Markenzeichen Marlene
Dietrichs werden. Auch Garmes soll dieses Licht der Helldunkelmalerei
Rembrandts abgeschaut haben; er nannte es «Nordlicht».
Katalog: Ästhetik der Schatten. Filmisches Licht 1915-1950. Hrsg.: Connie Betz, Julia Pattis und Rainer Rother. Schüren-Verlag, Marburg 2014. 160 S., zahlreiche Abb., Fr. 29.90.
Morocco (USA 1930, dir. Josef von Sternberg) Adolphe Menjou and Marlene Dietrich
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