Montag, 14. Juli 2014

Ein Anthologie zum Städtebau.

Den städtischen Wachstumsprozess gestalten – Napoleons Traum des Foro Bonaparte in Mailand, 1801 von Giovanni Antonio Antolini dargestellt.
aus nzz.ch, 8. Juli 2014, 05:30                            Napoleons Traum des Foro Bonaparte in Mailand, 1801 von Giovanni Antonio Antolini

Grossartige Anthologie zum Städtebau
Stadtlektüren



Weltweit wachsen die Städte unaufhaltsam weiter. Vor allem ausserhalb Europas entstehen immer grössere Agglomerationen. Angesichts dieser Dominanz des Urbanen verwundert es nicht, dass das Thema Stadt in seinen historischen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekten seit Lewis Mumfords Klassiker «Die Stadt» von 1961 immer wieder unter neuen Gesichtspunkten betrachtet wurde. Seit über drei Jahrzehnten befasst sich der an der ETH Zürich lehrende Vittorio Magnago Lampugnani mit dem Städtebau, zuletzt in seinem 2010 erschienenen zweibändigen Opus magnum «Die Stadt im 20. Jahrhundert». Nun ist der letzte seiner auf drei Bände angelegten «Anthologie zum Städtebau» im Berliner Gebrüder-Mann-Verlag erschienen. So umfangreich ist ihm und seinen Mitherausgebern und Mitautoren diese einzigartige Sammlung von Quellentexten zum Städtebau geraten, dass sie auf fünf voluminöse Bücher aufgeteilt werden musste.

Stadtgeschichte

Das Werk bietet einen umfassenden Überblick über die intellektuellen Grundlagen des Städtebaus seit dem frühen 18. Jahrhundert. Dabei ist eine Arbeit in der Tradition der Enzyklopädisten entstanden, ein Übersichtswerk zum Städtebau, wie es noch nicht vorgelegen hat – und wohl auch nicht wieder kommen wird. Denn in den Zeiten der vorpreschenden digitalen Publikationen wohnt den über 3000 Druckseiten ein zarter Hauch des Anachronismus inne.

Schloss Zweibruecken Stadtmodell 1

Die «Anthologie zum Städtebau» fokussiert ganz auf die Entwicklungen in der westlichen Welt und die dortige Geburt der modernen Grossstadt. Die ersten beiden Bände zeichnen die Entwicklung von der «Stadt der Aufklärung zur Metropole des industriellen Zeitalters» nach. Den jeweils in ihrer Originalsprache abgedruckten historischen Texten geht eine prägnante Einführung voraus, welche die Leser auf die Autoren und ihre Position einstimmt. Genauso werden die jeweiligen Kapitel kurz eingeführt, zu denen das Herausgeberteam die zeitspezifischen Positionen gruppiert hat, um so den Lesern eine vergleichende Zusammenschau der Themenkomplexe zu ermöglichen. Es entsteht ein dichtes textliches und gedankliches Gewebe, in dem sich die Komplexität des Themas Stadt widerspiegelt, das leider in der baulichen Praxis bis heute allzu oft zugunsten des Einzelbaus vernachlässigt wird.

Stadtwandel

Die räumlichen, gesellschaftlichen und emotionalen Veränderungen, die die Stadt des 19. Jahrhunderts mit sich brachte, sind in ihrer tiefgreifenden Dramatik heute kaum noch erfahrbar. Es entstand ein Spannungsfeld, das von Friedrich Weinbrenners 1819 in seinem «Architektonischen Lehrbuch» formulierten Überlegungen zur idealen Stadt bis zu weitreichenden städtischen Gesellschaftsvisionen reichte. Anhand der ausgewählten Texte der Anthologie wird die wachsende Stadtkritik deutlich, die durch «antiurbane Reflexe» ebenso genährt wurde wie durch die Kritik an der industriellen Stadt, mit der der zweite Teil des ersten Bandes einsetzt. Der europäische Stadtwandel spiegelt sich in Duktus und Haltung der Texte unmittelbar wider. Gleichermassen sachlich wie begeistert schildert etwa Christian Cay Lorenz Hirschfeld 1769 Bern, das «wegen seiner ietzigen Schönheit unstreitig in der Schweiz Königin der Städte» sei und «unter allen vortrefflichen Städten in Europa eine nicht geringe Stelle» einnehme. Heinrich Heine richtete demgegenüber 1828 einen staunend entsetzten Blick auf den steinernen «Wald der Häuser» Londons.

Canaletto-Canal, Die Themse und die City

Überlegungen, wie der Prozess städtischen Wachstums zu gestalten sei, um eine Verbesserung der Lebensbedingungen zu erzielen, kennzeichnet die Texte des jetzt vorgelegten zweiten Doppelbandes «Das Phänomen Grossstadt und die Entstehung der Moderne». Zu den zentralen Themen des Städtebaus am Beginn des 20. Jahrhunderts zählte der von Camillo Sitte 1889 formulierte Anspruch eines Städtebaus nach «künstlerischen Grundsätzen». Eine Untersuchung der schönen Wirkung alter Städte müsse laut Sitte nur in eine «Summe von Regeln» übergeführt werden, «bei deren Befolgung dann ähnliche treffliche Wirkungen erzielt werden müssten».

Hubert Robert, Abriss der Häuser auf dem Pont Notre Dame

Doch letztlich waren es weniger Fragen der Kunst als der Stadtökonomie und der Lösung der sozialen Frage, die es angesichts der dramatischen Wechselwirkungen aus Bevölkerungswachstum, Verelendung und Bodenspekulation im Städtebau zu beantworten galt. Die Verdichtung und Höhenentwicklung selbst in «schönen alten» Städten schien unabwendbar: «Die Einzelwohnung ist bei gleichem Kubikinhalt und gleichem Grundriss bei vielgeschossigen Häusern (. . .) billiger als in Häusern mit weniger Geschossen», stellte Otto Wagner 1911 fest und bereitete den Weg für den Wolkenkratzer in den europäischen Metropolen. Folgerichtig sind der Rolle des Hochhauses in Amerika und Europa ausführliche Abschnitte der Anthologie gewidmet.

Bruno Taut, Hufeisensiedlung, Berlin-Britz

Der Tendenz der Verdichtung stand die flächenhafte Ausdehnung der Stadt gegenüber, die in der von Ebenezer Howard propagierten Idee der Gartenstadt ihre Entsprechung fand, die Karl Ernst Osthausen — ebenfalls 1911 — in seinem Text «Gartenstadt und Städtebau» gleichwohl als ein «Kind der modernen Grossstadt» definierte und die in den aufgelockerten und durchgrünten Siedlungen der Moderne mit den Visionen einer Stadtlandschaft mündete. «Die Chinesen verbinden ihren Städtebau aufs engste mit der Landschaft. Ihre Stadtorientierung hat tiefe mythische Bedeutung. Wir müssen es auch tun», verkündete Bruno Taut 1922 programmatisch in seinem Text «Neu-Magdeburg, eine realistische Stadtbetrachtung».

Fujian Toulou, China

Stadtwachstum

Nichts aber veränderte die Gestalt der Städte Europas so tiefgreifend wie die Flächenbombardements des Zweiten Weltkriegs. «Für Wohngebiete darf in Zukunft die bisherige, vornehmlich von rein wirtschaftlichen Erwägungen gelenkte Bebauungsmöglichkeit des Bodens nicht mehr zugelassen werden», schrieb Karl Otto 1940 in seinem Text zu «Luftkrieg und Städtebau» – noch vor den flächendeckenden Stadtzerstörungen. Nach 1945 eröffneten sich dann Chance und Fluch, in den kriegszerstörten europäischen Städten nicht mehr nur wie im 19. Jahrhundert die Stadterweiterung für einen «anderen» Städtebau zu nutzen. Nun waren es die Zentren selbst, die den veränderten Stadtvorstellungen angepasst wurden. Dabei dominierte oft genug die pragmatische Praxis über die programmatische Theorie, die in dem bereits 2005 zuerst erschienenen und leider inzwischen bereits vergriffenen dritten Band der Anthologie behandelt wird. Von der Kritik an der funktionalistischen Stadt auf den CIAM-Kongressen der Nachkriegszeit über die technologischen Stadtvisionen der Metabolisten in den zukunftsverliebten sechziger Jahren bis hin zur Rekontextualisierung der historischen Stadt in der Postmoderne und zur Postmodernekritik durch die Dekonstruktivisten verdichten sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Städtebaudiskurse.

Potsdam, Rote Kaserne, Entwurf Freie Planungsgruppe Berlin

Es ist das bleibende Verdienst dieser eindrucksvollen Textsammlung, neben die alltägliche Erfahrung der gebauten Stadt die Erfahrung der über die Jahrhunderte immer neu gedachten Stadt zu setzen – als einen spannungsvollen Spiegel der Gesellschaft und ihrer Veränderungen.

Anthologie zum Städtebau. Hrsg. Vittorio Magnago Lampugnani, Katia Frey, Eliana Perotti. Drei Bände in fünf Büchern. Gebr.-Mann-Verlag, Berlin. Band I (2008) 1256 S., Fr. 175.–, Band II (2014) 1497 S., Fr. 188.–, Band III (2005) 564 S., vergriffen.

 Karlsruher Stadtansicht, Kupferstich von Heinrich Schwarz 1721

Nota.

Die Bilder stammen nicht aus den besprochenen Bänden. JE 

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