Die erste Monografie des fast vergessenen Fotografen Sergio Larrain
Eine Wiederentdeckung
Der chilenische Fotograf Sergio Larrain (1931–2012) arbeitete zwar einige Jahre als Reporter für die Agentur Magnum, ist aber in Europa trotzdem kaum bekannt. Denn 1966 zog er sich ganz nach Chile zurück. Jetzt wird er in Ausstellungen und einer opulenten Monografie, die kürzlich durch den Kraszna-Krausz Award zum schönsten Fotobuch des Jahres gekürt wurde, gefeiert. «Man kann als Fotograf keine Bilder konzipieren, man bekommt sie geschenkt», so die Überzeugung von Sergio Larrain. Dafür muss man «vor Ort leben, damit die Motive zu einem kommen». Und Larrain meinte das sehr ernst.
Als er 1953 begann, die Strassenkinder von Santiago de Chile, die unter Vorbauten und Brücken schliefen, zu fotografieren, begleitete er sie nicht nur eine Zeitlang, sondern sorgte sich auch weiter um sie und stellte seine Fotografien kostenlos Hilfsorganisationen zur Verfügung. Vom Leben der Strassenkinder gelangen ihm anrührende Bilder, die drastisch Armut und Trostlosigkeit ohne jede Sentimentalität schildern. Dieses harte freudlose Leben wird durch nichts aufgeheitert. Schmutzige, nackte Füsse, aus dem Müll gezogene wärmende, viel zu grosse Jacken und immer wieder räudige Hunde.
Nirgendwo ist auch nur ein Moment des Glücks zu finden. Man spürt, wie sehr dieser Fotograf mitleidet. Dieses Leben auf der Strasse hat für ihn, anders als für so manche seiner Kollegen, nichts Pittoreskes. Auch gelacht wird in Larrains Fotografien nur selten. Die Zeiten waren wohl nicht danach, und der Fotograf auch kein heiterer Mensch. Dabei hätte er das Leben durchaus geniessen können, denn seine Familie gehörte dem chilenischen Grossbürgertum an. Aber er konnte mit Reichtum nichts anfangen.
Seine erste Fotoserie über die Strassenkinder war so erfolgreich, dass er sich 1956 entschloss, endgültig Fotograf zu werden. Er begann für die Zeitschrift «O Cruzeiro Internacional» zu arbeiten. 1958 erhielt er dann ein Stipendium des British Council und ging für ein halbes Jahr nach London. Dort traf er sein grosses Vorbild Henri Cartier-Bresson. Eine lange, intensive Freundschaft begann, obwohl es wohl kaum zwei gegensätzlichere Charaktere gab als diese beiden Fotografen. Beide wollten die Welt in ihren Bildern so zeigen, wie sie wirklich war, ungeschönt und ehrlich. Aber Larrain bildet die Wirklichkeit nie einfach eins zu eins ab, sondern arbeitet, anders als Cartier-Bresson, später im Labor noch daran, den für ihn entscheidenden Moment herauszufiltern. Er liebt An- und Ausschnitte, die sich durch Fenster, Spiegel, auf Treppen oder durch den Blick auf den Boden ergeben. Die Füsse der Menschen, ob mit oder ohne Schuhe, sind eines seiner beliebtesten Motive.
Durch Cartier-Bresson kam Larrain zur Agentur Magnum, für die er von 1959 bis 1963 arbeitete. Weil er damals noch glaubte, als professioneller Fotograf seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, ordnete er sich dem von der Agentur geforderten Tempo unter und reiste für Magnum durch die Welt. Er fotografierte die Hochzeit des Schahs von Persien mit Soraya ebenso wie den Krieg in Algerien und schliesslich sogar die Mafia in Sizilien, wo er einen der grossen Bosse porträtierte. Wie gefährlich das war und was er da überhaupt tat, wurde ihm erst im Nachhinein bewusst. Dann war für ihn mit dieser Art der Fotografie Schluss, denn er glaubte, «dass der Druck der Welt des Journalismus – die Bereitschaft, sich jederzeit auf egal welche Themen zu stürzen – meine Liebe zur Arbeit und meine Konzentration darauf stört».
Allerdings trennte er sich nie ganz von Magnum, sondern schickte bis zum Schluss seine Kontaktabzüge nach Paris, damit sein Werk als Ganzes zusammenbliebe. Einige Briefe an Agnès Sire, die heutige Direktorin der Henri-Cartier-Bresson-Stiftung und frühere künstlerische Leiterin von Magnum Photos, sind im Buch in der Originalversion und Übersetzung zusammen mit anderer Korrespondenz abgedruckt und helfen mit, sich ein Bild von dem sehr speziellen Charakter dieses Künstlers zu machen.
Von nun an also nahm er sich die Zeit, die er meinte zum Fotografieren zu brauchen. Dazu musste er mit dem Ort vertraut sein, «in das noch nie Gesehene eintauchen, sich hierin und dorthin treiben lassen. Und es werden Bilder zu dir kommen wie Erscheinungen. Halte sie fest». So weilte er 1963 für eine Reportage ein ganzes Jahr in Valparaíso. Damals entstand nicht nur seine berühmteste Fotografie, die zwei Mädchen zeigt, die eingerahmt von hohen Gebäuden eine Treppe hinuntersteigen, sondern auch der nicht weniger berühmte Foto-Essay «Una casa en la arena» mit Texten von Pablo Neruda. 1978 aber zieht sich Larrain endgültig nach Tulahuén im Norden von Chile zurück, wo er Yoga praktiziert, meditiert, zeichnet, das Leben eines Asketen führt und 2012 stirbt.
Das von Agnès Sire herausgegebene Buch «Sergio Larrain» ist in deutscher Übersetzung anlässlich der Ausstellung «Henri Cartier-Bresson. Mexiko & Sergio Larrain. Retrospektive» im Kunstfoyer Versicherungskammer Kulturstiftung in München herausgekommen. Die Ausstellung ist ab Juli in der Associazione Forte di Bard in Italien zu sehen.
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