Eine Entdeckung in der Berliner Gemäldegalerie
Disput um Eva
Das
Bild, das vor kurzem aus dem Dunkel des Depots der Berliner
Gemäldegalerie wieder ans Licht getreten ist, darf ohne Übertreibung ein
Ereignis genannt werden. Es handelt sich um den «Disput von
Kirchenlehrern über die Unbefleckte Empfängnis» von Guillaume de
Marcillat, einem bisher kaum bekannten Künstler, entstanden in dessen
Todesjahr, 1529. Der Titel und die Entstehungszeit lassen die Vermutung
zu, dass der Maler das Werk im Auftrag des Franziskanerordens, der zu
den eifrigsten Fürsprechern der noch umstrittenen Immaculata-Doktrin
gehörte, geschaffen hat.
Was wir aber sehen, ist eine Sacra Conversazione eigener Ordnung, eine geradezu schockierend neue Bildfindung. Wir sehen, vor dem düsteren Hintergrund des verbotenen Baumes, dessen mächtiges Blattwerk den oberen Bildraum ausfüllt, auf einem grünen Lager, halb sitzend, halb liegend, eine nackte Frau mit langen rotgoldenen Haaren, den Schoss, wie es geschrieben steht, bedeckt mit dem Feigenblatt. In zwei Vierergruppen stehen die Kirchenlehrer zu beiden Seiten ihres Lagers, die Köpfe auf annähernd gleicher Höhe – wie auf älteren Renaissance-Bildern. Um die auffällige Erscheinung in der Bildmitte scheinen sie sich nicht zu kümmern. Die Namen der an dem Disput Beteiligten sind auf Sockeln am unteren Bildrand unter den ihnen zugeordneten lateinischen Zitaten verzeichnet.
Abweichende Geschichte
Die Kuratoren der Gemäldegalerie gehen davon aus, dass das Gemälde unvollständig sein muss, weil zu dem Bildtypus der Unbefleckten Empfängnis die Himmelserscheinung der Jungfrau Maria gehört. Sie geben allerdings zu, dass das extreme Breitformat des Werks (312,5×154,5 cm) diesbezüglich ein Problem darstellt. Das Gemälde Marcillats erzählt aber so überdeutlich eine abweichende Geschichte Evas, die über ihren «Fall» hinauszuweisen scheint, dass es nach einer Interpretation verlangt, um das, was wir von den Kirchenvätern wissen, mit dem, was wir auf dem Bild sehen, in einen Zusammenhang zu bringen.
Wenn Marcillat in der Wahl des Bildformats sich absetzt von der betonten Vertikalität zeitgenössischer Darstellungen der Immaculata, so vielleicht, weil dadurch die Unmöglichkeit, das Unsichtbare bildlich zu veranschaulichen, sinnfällig wird. Nichts scheint ihn zu den höheren Sphären zu ziehen, denn die horizontale Ausdehnung des Bildes, das die Kirchenlehrer auf den Erdboden stellt um eine sehr irdische Eva, verweist auf die einzige dem Künstler wie dem Menschen überhaupt zugängliche Erkenntnis des Unsichtbaren, nämlich mittels der von Gott geschaffenen Dinge, der «vestigia Dei», wie Paulus im Brief an die Römer lehrt (I, 20).
Die Reinheit und die Makellosigkeit, d. h. die körperliche Unversehrtheit der Maria, sind im Disput der dargestellten Theologen nur im Wort anwesend. Es kommt daher der Auswahl der Redner eine entscheidende Bedeutung zu. Von dem heiligen Bernhard von Clairvaux, dem Mystiker der Liebe, den wir ganz links am Bildrand sehen, von der übermächtigen Gestalt des Bischofs von Mailand, Ambrosius, fast verdeckt, wissen wir, dass er das Hohelied Salomos auf seine eigene Weise gelesen hat. Er deutet nämlich die Freundin des Liedes, Salomos Geliebte, als die menschliche Seele, die dem Logos begegnet und sich auf den stufenweisen Aufstieg von der sinnlichen zur geistigen Liebe begibt. Aber sichtbar für uns sitzt die Verkörperung des sündigen Fleisches mitten im Bild, und von den über die Unbefleckte Empfängnis diskutierenden Kirchenmännern betrachtet nur Bernhard die Schönheit der von Gott geschaffenen Kreatur, die mit der Freundin des Hoheliedes so wenig gemein zu haben scheint. Nur er weiss den Sinn der Worte Salomos zu deuten: «Du bist allerdings schön, meine Freundin, und ist kein Flecken an dir» (4, 7). Nur er vermag in dieser nackten Frau den Vorschein der von Engeln begleiteten Jungfrau Maria seiner heiligen Visionen zu sehen.
Tizian, Venus mit dem Orgelspieler, Berlin
In dieser unorthodoxen Sacra Conversazione sitzt oder liegt Eva, den linken Arm mit der lässig herabhängenden Hand in eine Astgabel des Baums der Erkenntnis gestützt, in einer dem Betrachter sich gleichsam anbietenden Haltung, wie wir sie von den Darstellungen der ruhenden Venus kennen – Tizians «Venus mit dem Orgelspieler» können die Museumsbesucher in einem Saal der Gemäldegalerie bewundern. Im Katalog ist von einer «detailgetreuen» Übernahme der Gestalt der Muse Kalliope aus Raffaels «Parnass» die Rede. Aber auch hier stellt sich die Frage nach dem Motiv für die Verwendung des Vorbilds. Kalliope ist die Muse des Epos und der Elegie. Und in der Tat eignet Marcillats Eva etwas eigenartig Heroisches. Ihr scharf sich von dem Dunkel des Hintergrunds abhebendes Profil weist eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem einer weiblichen Gestalt aus der Sixtina auf, der Frau Naasons, dessen Name im Geschlechtsregister Christi aufgeführt ist. Die Frau steht leicht vornübergebeugt auf einer Steinstufe und betrachtet sich in einem ovalen Spiegel, der schemenhaft ihr Gesicht wiedergibt. Ihr Auge, weit geöffnet wie das Evas, ist mit einer bohrenden Intensität auf ihr Spiegelbild gerichtet. Die fast übermenschliche, ernste Selbstbezogenheit dieser Urahne Christi hat fast etwas Erschreckendes.
Raffael, Parnass; Ausschnitt: Kalliope
Das gottähnlichste Geschöpf
Wie die Gestalt Michelangelos ihren Spiegel, hält Eva, den Arm leicht angewinkelt, in der erhobenen Hand den Apfel, den sie vom Baum der Erkenntnis gebrochen hat. Ihr linkes Auge blickt auf die verbotene Frucht, als entdeckte sie darin sich selbst. Sie weiss auf einmal und wird es fortan immer wissen, dass sie das gottähnlichste Geschöpf ist von allem Geschaffenen, ein Ich, das sich selbst gegenwärtig ist. Es ist ihre Geschichte, die erzählt wird in den grossen versiegelten Büchern, auf die sich neben ihr, aber ihr den Rücken zuwendend, Anselmus und Cyrillus stützen, die Geschichte von ihrem «Fall». Sie blickt vorbei an dem verschatteten hübschen Mädchenkopf hinter ihr, der Schlange, deren Schwanz sich im Dunkel des verbotenen Baumes verliert, und erkennt doch vielleicht sich selbst in dem so sprechend auf sie gerichteten Blick und den leicht spöttisch verzogenen Lippen. In den Büchern, die sie mit dem linken Fuss beiseiteschiebt, steht es geschrieben, dass sie den Einflüsterungen dieser Schlange erlegen ist: «Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.» Sie sieht die Versucherin nicht, aber hört auf eine Rede, die aus ihr selbst zu kommen scheint; und wählt mit der Erkenntnis die Sterblichkeit, den Tod. Über der Schlange und Eva schwebt, kaum zu ahnen in dem Blätterdickicht, eine Fledermaus – wie über der schwermütigen, von allen Attributen des Wissens umgebenen Frau auf Dürers berühmtem Kupferstich, deren Namen, wie ein Schriftband, die Flügel der Fledermaus uns entgegentragen: Melencolia.
Das Fleisch von Marcillats Eva «zeigt keinen Makel», wie es der heilige Bernhard von der Jungfrau Maria rühmt, aber in ihm regt sich ein selbstbewusster Geist. Die Konzentration ihres Blicks auf die verbotene Frucht verrät ein Begehren nach Selbsterkenntnis, das im Widerstreit zu liegen scheint mit der in ihrem Körper zum Ausdruck gebrachten Sinnlichkeit. Dieser Widerstreit aber ist auch das grosse Thema der sie umgebenden Kirchenlehrer. Ambrosius verteidigt in seinen Schriften die immerwährende Jungfräulichkeit Marias als eine ständige Ermahnung zur Enthaltsamkeit auch in der legitimen Ehe des christlichen Paares. Er macht, um diesem Gebot symbolischen Ausdruck zu verleihen, die Mailänder Basilika zum heiligen Raum, wo die christliche Gemeinde die Verschleierung geweihter Jungfrauen in einer Zeremonie der «velatio» feiert. Das forschende Auge des Augustinus, seines Schülers und Nachfolgers, fixiert schräg aus dem rechten Bildrand die Betrachter, als wollte er sie daran erinnern, dass auch sie der Erbsünde und dem Tod verfallen sind. Wenn die figuralen Stickereien an den Ärmeln und am Saum seines kostbaren Gewandes in dreifacher Wiederholung die betende Madonna vor dem Kind in der Krippe zeigen, so will die lakonische Inschrift unter seinem Namen uns einprägen, dass es der göttlichen Gnade bedarf, um «vor jeglicher Sünde bewahrt» zu werden. Seine Hand, derjenigen Evas seltsam ähnlich, weist aus dem Bild heraus nach unten mit einer eher zurückgehaltenen Energie – nicht nach oben zur Erscheinung einer himmlischen Fürbitterin.
Augustinus ist, unter diesen heiligen Lehrern, die das verführte Geschöpf, das die Vertreibung aus dem Paradies erwartet, umstehen, wohl der Einzige, der aus eigenen Seelenkämpfen weiss, wie schwer es ist, sich aus der Knechtschaft der irdischen Leidenschaften zu befreien. – Wenn der furchteinflössende Blick dieses unbarmherzigsten der Kirchenlehrer den Betrachter vor dem Disput trifft, wird er sich vielleicht daran erinnern, dass er ihm schon mehr als einmal begegnet ist: Mit dem Buch und dem goldenen Krummstab, der seine rechte Gesichtshälfte verdeckt, stand er neben der thronenden Madonna in San Pietro in Murano und hat ihn fixiert mit dem schrecklichen linken Auge und in der gleichen Haltung, ganz aus dem Schatten des rechten Bildrandes auf Rosso Fiorentinos «Pala Dei» in Florenz.
Origines dagegen, rechts im Bild, hinter den Kirchenvätern in Kutte und Ornat, in Frontalansicht, dem der Maler die eigenen Züge verliehen hat, scheint sich an dem Disput nicht zu beteiligen. Sein in eine unbestimmte Ferne gerichteter Blick, seine wie für eine Botschaft geöffneten Lippen und sein vollkommen schmuckloses Gewand bringen zum Ausdruck, dass er ganz mit seiner eigenen Auffassung des menschlichen Körpers beschäftigt ist. Mag sein, dass er in dieser Eva, käme sie ihm vor die Augen, den selbstzerstörerischen Eigenwillen der von Gott abgefallenen Kreatur sehen, mag aber auch sein, dass er in der über sie verhängten Trauer die Sehnsucht des Geistes nach der Wiedervereinigung mit Gott, freilich vorerst noch im Bann dämonischer Einflüsterungen, erkennen würde.
Bedeutungsvolle Konstellation
Im Licht der Lehre des Origines von der ewigen Wiederbringung stellt sich eine bedeutungsvolle Konstellation ein zwischen Marcillats in luziferischer Verselbstung (noch) gefangener Eva und der sehnsüchtigen Bewegung Adams hinauf zu Gott, der seinem Geschöpf mit dem ausgestreckten Zeigefinger seinen Ort auf der Erde zuweist in Michelangelos wunderbarer «Erschaffung Adams».
Michelangelo, Erschaffung Adams, Sixtinische Kapelle
Das jetzt in Berlin so unerwartet aufgetauchte Gemälde eines fast namenlosen Malers aber eröffnet derart einen Ausblick über sich selbst hinaus in den weiten Denkraum der Renaissance, in dem zahllose Bilder in unendlichen Verwandlungen einander überlagern, ergänzen, widersprechen oder bestätigen.
Alle aber erzählen von der Würde des Menschen, den Gott in den Mittelpunkt der Welt gestellt und seinem eigenen freien Willen überlassen hat. «Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst», heisst es in Pico della Mirandolas erst zwei Jahre nach seinem frühen Tod 1496 veröffentlichten Rede «Über die Würde des Menschen».
Christa Bürger war bis 1998 Professorin an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Was wir aber sehen, ist eine Sacra Conversazione eigener Ordnung, eine geradezu schockierend neue Bildfindung. Wir sehen, vor dem düsteren Hintergrund des verbotenen Baumes, dessen mächtiges Blattwerk den oberen Bildraum ausfüllt, auf einem grünen Lager, halb sitzend, halb liegend, eine nackte Frau mit langen rotgoldenen Haaren, den Schoss, wie es geschrieben steht, bedeckt mit dem Feigenblatt. In zwei Vierergruppen stehen die Kirchenlehrer zu beiden Seiten ihres Lagers, die Köpfe auf annähernd gleicher Höhe – wie auf älteren Renaissance-Bildern. Um die auffällige Erscheinung in der Bildmitte scheinen sie sich nicht zu kümmern. Die Namen der an dem Disput Beteiligten sind auf Sockeln am unteren Bildrand unter den ihnen zugeordneten lateinischen Zitaten verzeichnet.
Abweichende Geschichte
Die Kuratoren der Gemäldegalerie gehen davon aus, dass das Gemälde unvollständig sein muss, weil zu dem Bildtypus der Unbefleckten Empfängnis die Himmelserscheinung der Jungfrau Maria gehört. Sie geben allerdings zu, dass das extreme Breitformat des Werks (312,5×154,5 cm) diesbezüglich ein Problem darstellt. Das Gemälde Marcillats erzählt aber so überdeutlich eine abweichende Geschichte Evas, die über ihren «Fall» hinauszuweisen scheint, dass es nach einer Interpretation verlangt, um das, was wir von den Kirchenvätern wissen, mit dem, was wir auf dem Bild sehen, in einen Zusammenhang zu bringen.
Wenn Marcillat in der Wahl des Bildformats sich absetzt von der betonten Vertikalität zeitgenössischer Darstellungen der Immaculata, so vielleicht, weil dadurch die Unmöglichkeit, das Unsichtbare bildlich zu veranschaulichen, sinnfällig wird. Nichts scheint ihn zu den höheren Sphären zu ziehen, denn die horizontale Ausdehnung des Bildes, das die Kirchenlehrer auf den Erdboden stellt um eine sehr irdische Eva, verweist auf die einzige dem Künstler wie dem Menschen überhaupt zugängliche Erkenntnis des Unsichtbaren, nämlich mittels der von Gott geschaffenen Dinge, der «vestigia Dei», wie Paulus im Brief an die Römer lehrt (I, 20).
Die Reinheit und die Makellosigkeit, d. h. die körperliche Unversehrtheit der Maria, sind im Disput der dargestellten Theologen nur im Wort anwesend. Es kommt daher der Auswahl der Redner eine entscheidende Bedeutung zu. Von dem heiligen Bernhard von Clairvaux, dem Mystiker der Liebe, den wir ganz links am Bildrand sehen, von der übermächtigen Gestalt des Bischofs von Mailand, Ambrosius, fast verdeckt, wissen wir, dass er das Hohelied Salomos auf seine eigene Weise gelesen hat. Er deutet nämlich die Freundin des Liedes, Salomos Geliebte, als die menschliche Seele, die dem Logos begegnet und sich auf den stufenweisen Aufstieg von der sinnlichen zur geistigen Liebe begibt. Aber sichtbar für uns sitzt die Verkörperung des sündigen Fleisches mitten im Bild, und von den über die Unbefleckte Empfängnis diskutierenden Kirchenmännern betrachtet nur Bernhard die Schönheit der von Gott geschaffenen Kreatur, die mit der Freundin des Hoheliedes so wenig gemein zu haben scheint. Nur er weiss den Sinn der Worte Salomos zu deuten: «Du bist allerdings schön, meine Freundin, und ist kein Flecken an dir» (4, 7). Nur er vermag in dieser nackten Frau den Vorschein der von Engeln begleiteten Jungfrau Maria seiner heiligen Visionen zu sehen.
In dieser unorthodoxen Sacra Conversazione sitzt oder liegt Eva, den linken Arm mit der lässig herabhängenden Hand in eine Astgabel des Baums der Erkenntnis gestützt, in einer dem Betrachter sich gleichsam anbietenden Haltung, wie wir sie von den Darstellungen der ruhenden Venus kennen – Tizians «Venus mit dem Orgelspieler» können die Museumsbesucher in einem Saal der Gemäldegalerie bewundern. Im Katalog ist von einer «detailgetreuen» Übernahme der Gestalt der Muse Kalliope aus Raffaels «Parnass» die Rede. Aber auch hier stellt sich die Frage nach dem Motiv für die Verwendung des Vorbilds. Kalliope ist die Muse des Epos und der Elegie. Und in der Tat eignet Marcillats Eva etwas eigenartig Heroisches. Ihr scharf sich von dem Dunkel des Hintergrunds abhebendes Profil weist eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem einer weiblichen Gestalt aus der Sixtina auf, der Frau Naasons, dessen Name im Geschlechtsregister Christi aufgeführt ist. Die Frau steht leicht vornübergebeugt auf einer Steinstufe und betrachtet sich in einem ovalen Spiegel, der schemenhaft ihr Gesicht wiedergibt. Ihr Auge, weit geöffnet wie das Evas, ist mit einer bohrenden Intensität auf ihr Spiegelbild gerichtet. Die fast übermenschliche, ernste Selbstbezogenheit dieser Urahne Christi hat fast etwas Erschreckendes.
Raffael, Parnass; Ausschnitt: Kalliope
Das gottähnlichste Geschöpf
Wie die Gestalt Michelangelos ihren Spiegel, hält Eva, den Arm leicht angewinkelt, in der erhobenen Hand den Apfel, den sie vom Baum der Erkenntnis gebrochen hat. Ihr linkes Auge blickt auf die verbotene Frucht, als entdeckte sie darin sich selbst. Sie weiss auf einmal und wird es fortan immer wissen, dass sie das gottähnlichste Geschöpf ist von allem Geschaffenen, ein Ich, das sich selbst gegenwärtig ist. Es ist ihre Geschichte, die erzählt wird in den grossen versiegelten Büchern, auf die sich neben ihr, aber ihr den Rücken zuwendend, Anselmus und Cyrillus stützen, die Geschichte von ihrem «Fall». Sie blickt vorbei an dem verschatteten hübschen Mädchenkopf hinter ihr, der Schlange, deren Schwanz sich im Dunkel des verbotenen Baumes verliert, und erkennt doch vielleicht sich selbst in dem so sprechend auf sie gerichteten Blick und den leicht spöttisch verzogenen Lippen. In den Büchern, die sie mit dem linken Fuss beiseiteschiebt, steht es geschrieben, dass sie den Einflüsterungen dieser Schlange erlegen ist: «Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.» Sie sieht die Versucherin nicht, aber hört auf eine Rede, die aus ihr selbst zu kommen scheint; und wählt mit der Erkenntnis die Sterblichkeit, den Tod. Über der Schlange und Eva schwebt, kaum zu ahnen in dem Blätterdickicht, eine Fledermaus – wie über der schwermütigen, von allen Attributen des Wissens umgebenen Frau auf Dürers berühmtem Kupferstich, deren Namen, wie ein Schriftband, die Flügel der Fledermaus uns entgegentragen: Melencolia.
Das Fleisch von Marcillats Eva «zeigt keinen Makel», wie es der heilige Bernhard von der Jungfrau Maria rühmt, aber in ihm regt sich ein selbstbewusster Geist. Die Konzentration ihres Blicks auf die verbotene Frucht verrät ein Begehren nach Selbsterkenntnis, das im Widerstreit zu liegen scheint mit der in ihrem Körper zum Ausdruck gebrachten Sinnlichkeit. Dieser Widerstreit aber ist auch das grosse Thema der sie umgebenden Kirchenlehrer. Ambrosius verteidigt in seinen Schriften die immerwährende Jungfräulichkeit Marias als eine ständige Ermahnung zur Enthaltsamkeit auch in der legitimen Ehe des christlichen Paares. Er macht, um diesem Gebot symbolischen Ausdruck zu verleihen, die Mailänder Basilika zum heiligen Raum, wo die christliche Gemeinde die Verschleierung geweihter Jungfrauen in einer Zeremonie der «velatio» feiert. Das forschende Auge des Augustinus, seines Schülers und Nachfolgers, fixiert schräg aus dem rechten Bildrand die Betrachter, als wollte er sie daran erinnern, dass auch sie der Erbsünde und dem Tod verfallen sind. Wenn die figuralen Stickereien an den Ärmeln und am Saum seines kostbaren Gewandes in dreifacher Wiederholung die betende Madonna vor dem Kind in der Krippe zeigen, so will die lakonische Inschrift unter seinem Namen uns einprägen, dass es der göttlichen Gnade bedarf, um «vor jeglicher Sünde bewahrt» zu werden. Seine Hand, derjenigen Evas seltsam ähnlich, weist aus dem Bild heraus nach unten mit einer eher zurückgehaltenen Energie – nicht nach oben zur Erscheinung einer himmlischen Fürbitterin.
Augustinus ist, unter diesen heiligen Lehrern, die das verführte Geschöpf, das die Vertreibung aus dem Paradies erwartet, umstehen, wohl der Einzige, der aus eigenen Seelenkämpfen weiss, wie schwer es ist, sich aus der Knechtschaft der irdischen Leidenschaften zu befreien. – Wenn der furchteinflössende Blick dieses unbarmherzigsten der Kirchenlehrer den Betrachter vor dem Disput trifft, wird er sich vielleicht daran erinnern, dass er ihm schon mehr als einmal begegnet ist: Mit dem Buch und dem goldenen Krummstab, der seine rechte Gesichtshälfte verdeckt, stand er neben der thronenden Madonna in San Pietro in Murano und hat ihn fixiert mit dem schrecklichen linken Auge und in der gleichen Haltung, ganz aus dem Schatten des rechten Bildrandes auf Rosso Fiorentinos «Pala Dei» in Florenz.
Origines dagegen, rechts im Bild, hinter den Kirchenvätern in Kutte und Ornat, in Frontalansicht, dem der Maler die eigenen Züge verliehen hat, scheint sich an dem Disput nicht zu beteiligen. Sein in eine unbestimmte Ferne gerichteter Blick, seine wie für eine Botschaft geöffneten Lippen und sein vollkommen schmuckloses Gewand bringen zum Ausdruck, dass er ganz mit seiner eigenen Auffassung des menschlichen Körpers beschäftigt ist. Mag sein, dass er in dieser Eva, käme sie ihm vor die Augen, den selbstzerstörerischen Eigenwillen der von Gott abgefallenen Kreatur sehen, mag aber auch sein, dass er in der über sie verhängten Trauer die Sehnsucht des Geistes nach der Wiedervereinigung mit Gott, freilich vorerst noch im Bann dämonischer Einflüsterungen, erkennen würde.
Bedeutungsvolle Konstellation
Im Licht der Lehre des Origines von der ewigen Wiederbringung stellt sich eine bedeutungsvolle Konstellation ein zwischen Marcillats in luziferischer Verselbstung (noch) gefangener Eva und der sehnsüchtigen Bewegung Adams hinauf zu Gott, der seinem Geschöpf mit dem ausgestreckten Zeigefinger seinen Ort auf der Erde zuweist in Michelangelos wunderbarer «Erschaffung Adams».
Michelangelo, Erschaffung Adams, Sixtinische Kapelle
Das jetzt in Berlin so unerwartet aufgetauchte Gemälde eines fast namenlosen Malers aber eröffnet derart einen Ausblick über sich selbst hinaus in den weiten Denkraum der Renaissance, in dem zahllose Bilder in unendlichen Verwandlungen einander überlagern, ergänzen, widersprechen oder bestätigen.
Alle aber erzählen von der Würde des Menschen, den Gott in den Mittelpunkt der Welt gestellt und seinem eigenen freien Willen überlassen hat. «Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst», heisst es in Pico della Mirandolas erst zwei Jahre nach seinem frühen Tod 1496 veröffentlichten Rede «Über die Würde des Menschen».
Christa Bürger war bis 1998 Professorin an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
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