New York feiert den Futurismus
Spirale der Zukunft, ohne Rücksicht
Maschine
und Geschwindigkeit, Gefahr und Bewegung, das Leben gegen sein Museum,
die Welt als Explosion – so inszenierte der italienische Futurismus seit
seinem Geburts- und Wunderjahr 1909 über mehr als dreissig Jahre hinweg
eine Kunst der Erregtheit. Die Anfänge mitten ins Milieu bürgerlicher
Sekurität wirkten als Schock und nährten Träume von Macht und Grösse.
Das Ende verglomm mit den Ruinen, die sich der Faschismus selbst
beschert hatte. Eine Gleichung zwischen diesem und dem Futurismus wäre
zu einfach, denn das Verhältnis war von Spannungen nicht frei. Aber es
gab mancherlei Verwandtschaftsbande: von der Feier des «neuen Menschen»
über dessen Heroismus mit Hammer und Kanone bis zu der Lehre, dass nur
die Zukunft das Medium des wahren Vollbringens sein könne.
Umberto Boccioni, Die Stadt erwacht, 1910/11
New Yorks Guggenheim Museum hat dem Phänomen einen glänzenden Auftritt geschenkt. Zum ersten Mal überhaupt präsentiert sich der Futurismus damit in sämtlichen Facetten seines Ausdruckswillens in den Vereinigten Staaten, die schon modern waren, als es die wilden Italiener erst werden wollten. Dichtung, Malerei, Plastik, Architektur, «Philosophie» und Interieur, Happenings und Mode – alles ist mit fleissiger Sorgfalt herbeigebracht und kommentiert. Doch für den wahren Zauber der Dramaturgie sorgt das Museum selbst. Der spiralig angelegte Innenraum schickt die Objekte auf eine Zeitreise, die im Erdgeschoss loslegt und nach vielen Drehungen unter der Kuppel kulminiert: Dort hängt Tullio Cralis brillantes Gemälde von 1939, das einen Springer in die Tiefe sausen lässt – der Fallschirm des Soldaten ist noch nicht geöffnet, wie ein dunkles Geschoss strebt er dem Land zu, das sich friedlich unter ihm wölbt [s. Kopfbild].
Carlo Carrà, Begräbnis des Anarchisten Galli. 1910/11
Schock als Kalkül
So sinnlich präsent und farblich gedämpft gab sich der Futurismus eher selten und erst zur Zeit der späteren «aeropittura», als Luft und Himmel und die Begeisterung für kühne Flieger die Motive stellten und sie der Nähe des Lebens mit diskreter Hand entrückten. Am Anfang war der Teufel los. Er besass einen ersten Namen in Filippo Tommaso Marinetti. Der 1876 im ägyptischen Alexandria geborene, dann vor allem in Mailand und Rom wirkende Schriftsteller und Politiker wusste, dass seine Bewegung nur eine Chance hatte, wenn sie alle Register zog. Das berühmte Gründungsdokument, das am 20. Februar 1909 auch vom Pariser «Figaro» auf der Frontseite veröffentlicht wurde, sollte und musste eine Provokation sein. Pro und Contra kamen steil und scharf daher: für die Gefahr, den Mut, die Auflehnung; für die Schlaflosigkeit, die Ohrfeige, den Faustschlag; die Geschwindigkeit, den Krieg. Gegen Museen, die Akademien, die Bibliotheken; gegen die Bourgeoise, die romantische Liebe, die Frau. Ein aufheulendes Automobil sei schöner als die Nike von Samothrake, schrieb der mutwillige Brandstifter, was bis heute zitiert wird, und wähnte sich, nicht zu Unrecht, im Einklang mit anderen jugendbesessenen Köpfen des neuen Jahrhunderts.
v.l.: Luigi Russolo, Carlo Carrà, Filippo Tommaso Marinetti, Umberto Boccioni, Gino Severini
Die Ausstellung reproduziert das herrisch über elf Punkte stolzierende Manifesto, das sich an die gesamte Menschheit wenden wollte, und sorgt, wen dürfte es wundern, im Erfinderland der «political correctness» für einige rote Köpfe unter den Lesenden. Wer nicht mit der europäischen Geistesgeschichte und näherhin mit dem Gedankenprofil zwischen Fin de Siècle und Erstem Weltkrieg vertraut wäre, also auch mit Nietzsche und Apollinaire, mit Bergson und Sorel, mit den Regenerationsphantasien und mancherlei Prometheus-Renaissance, verstünde nur rudimentär, um was es damals ging. Die typisch italienische Mixtur aus freiwilliger und ungewollter Komik spielte an den Rändern mit, doch den politisch-militärischen Grössenwahn einmal beiseitegelassen, ging es vor allem um die Kunst.
darf nicht fehlen: Umberto Boccioni, Forme uniche della continuità nello spazio, 1913
Nahe an den Dingen
Eine Kunst – nach und nach – als aufregende und spürbare Lebensweise; antimuseal und demokratisch; elitär und zugleich den Massen geöffnet; revolutionär Entwicklungen spiegelnd, die auch ohne sie stattfanden; zuletzt – und bereits wieder verbürgerlicht – als Dekor für zu Hause geeignet. Der Futurismus war damit auch ein Produkt der Widersprüche, und wie es sich für Avantgarden gehört, machten ihm teilweise ähnliche Strömungen schon bald sein Dasein schwer – der Kubismus, dann, mit mehr Effort und weniger Substanz, der Dadaismus. Auch der Kubismus pflanzte den Betrachter mitten ins Bild, verwirbelte die Perspektiven, stauchte die Räume. Doch seine Themen blieben – von der Gitarre bis zur Zigarette – allermeistens sanft.
Giacomo Balla, Disgregazione x velocità, Penetrazioni dinamiche di un automobile , 1912
Gegen solches Schweigen schrie die Gruppe um Marinetti, Boccioni, Russolo, Balla und Carrà die Melodien der Bewegtheit. Bewegung war drinnen, in den Bewusstseinsströmen des Gehirns, im Sinne von «states of the mind», und sie war draussen, vor der Türe: in Fabriken, in Stadien, auf der Strasse, im Zug, im Rennwagen, in Reklamen, in Schriftzügen und wo immer sich nun die Technik schneller und schneller Raum und Zeit eroberte und unterwarf. Nur Gino Severini, der in seinen Bildern stets gut gelaunte Lyriker unter den Futuristen, versagte sich den martialischen Tritt. Die anderen deklamierten und experimentierten mit den Farben, den Motiven, den Abstraktionen einer in grosser Unruhe erfassten Welt, die zum Beispiel auch in den Fotografien von Anton Giulio Bragaglia ihre überraschenden Porträts fand. Von 1911 datiert eine Sepia-Aufnahme, die das fliegende Fingerwerk einer Stenotypistin vor ihrer Maschine des Namens «Sun» wie ein Filmstill avant la lettre präsentiert.
Anton Giulio Bragaglia, Il dattilografo, 1911.
Den Kosmos bestimmen
Die Guggenheim-Schau trägt den Untertitel «Reconstructing the Universe» und trifft damit das Ansinnen der meisten Futuristen perfekt. Mehr noch, in den vielen weiteren Manifesten, die dem Gründungstext folgten, als wollten sie ihn laufend aufdatieren, wurde der Anspruch der Rekonstruktion des Universums immer dringlicher. Russolo erfand eine Reihe von Lärmerzeugern, sogenannte «intonarumori», die als akustische Spiegel für eine Welt dienten, die – heroisch eben – nicht mehr mit einem Nocturne von Chopin schwanger ging, sondern im Rhythmus der Maschinenwunder dröhnte. Zu den Interessenten für das sicherlich scheussliche Gerät gehörten auch Strawinsky und Prokofjew. Marinetti verfasste Texte, die in der Art der «écriture automatique» die Sprache und ihre Semantik sprengen und den Wirklichkeiten kriegerischer Begegnungen Rechnung tragen wollten. Und der Architekt Antonio Sant'Elia, der schon 1916 an der Front gegen Österreich starb, erging sich mit seinen Visionen von Hochhäusern, Fabrikanlagen und Bahnhöfen in Dimensionen des Ungeheuren, das solchermassen realiter erst in Amerika erfahren werden konnte. Piranesi und die französische Revolutionsarchitektur liessen mit grüssen.
Fortunato Depero, Wolkenkratzer und Tunnels, 1930
Jedermann konnte damals spüren, wie Traditionen und Kontinuitäten innert kurzer Frist weggefegt wurden. Die Gegenwart bot schwankenden Grund, und umso mehr gediehen die Utopien auf eine Zukunft, die, sei es politisch, sei es ästhetisch, mit dem Reissbrett gebändigt werden sollte. Italien machte im Norden den Sprung nach vorne mit der Modernisierung der Industrie, was den «Duce» dazu veranlasste, das Volk insgesamt mit der Bewegung der Avantgarde zu identifizieren. Ein hypertropher Wunsch, der nicht allzu lange vorhielt.
TATO, Sorvolando in spirale il Colosseo, 1930.
Marinetti, der den Krieg als «sola igiene del mondo» gerühmt und das Libyen-Abenteuer der Italiener gegen das Osmanische Reich ins Mythische überhöht hatte, stürzte sich auch begeistert in den Weltkrieg. Weniger Glück widerfuhr seinem Gefährten Umberto Boccioni. Der interessante Maler und Plastiker starb 1915, allerdings ohne Feindeinwirkung: Er fiel von seinem Pferd. In den zwanziger Jahren versöhnte sich Marinetti mit Mussolini und dem Faschismus – auch deshalb, weil der starke Mann, anders als sein Verbündeter im Reich, undogmatisch offenblieb für die ästhetischen Strömungen und Gemengelagen des Zeitgeists. 1929 liess sich der einst so kompromisslose Verfasser der frühen Manifeste des Futurismus sogar in die italienische Akademie aufnehmen. Nachdem er von Mailand nach Rom gezogen war, wandte er sich vermehrt auch Fragen des sozial zeitgemässen Stils zu. Er erklärte – vielleicht mutiger, als es den Anschein geben könnte, weil er damit eine echte Heimatfront eröffnete – der Pasta den Krieg, weil sie träge und fahrig mache, und pries den Espresso als Gedankenbeschleuniger.
Carlo Carrà, Interventionistische Demonstration, 1914
International unterwegs
Gleichwohl gelang es dem Futurismus, über die Grenzen der Stammlande hinauszugreifen. Er errichtete Zweigstellen in Paris, in London, in Berlin, und sogar in Moskau kam er in Metamorphosen zu Ehren. Der Themenfächer trug dazu bei. Balla etwa entwarf auch Mode, in den sogenannten «serate» – Theaterabenden eines schrill improvisierenden Tohuwabohus – wurde der Dadaismus antizipiert, Reklame-Design machte Schluss mit dem symbolistischen Gewucher, Tanz und Pantomime ergänzten das Spektrum. Und während man glauben durfte, dass der Männlichkeitskult die Frauen aus dem futuristischen Kosmos vertrieben und vergrault hatte, zeigte die Schriftstellerin und Künstlerin Rosa Rosà das Gegenteil – sie war voll dabei.
Giacomo Balla, Abstract Speed + Sound,1913–14
In New York ist vieles seh- und lesbar. Die Ausstellung hat intellektuelles Format und befriedigt das Auge. Zeitlos bedeutend sind die Gemälde – Boccionis dynamisierte Industriekomplexe, Ballas abstrahierende Expansionen aus Geschwindigkeit und Form, Severinis farbliche Wunder auch bei harten Themen wie dem armierten Zug mit Geschütz, endlich die Luft- und Flugbilder aus der Spätphase der Bewegung. Tatos Quadrat von 1930, das den spiraligen Steigflug eines Doppeldeckers über dem Oval des römischen Kolosseums inszeniert, nimmt die Zukunft auch anders vorweg: nämlich aus der Rückschau wie ein Menetekel für den Zusammenbruch grosser Pläne und Taten.
Umberto Boccioni, Die Stadt erwacht, 1910/11
New Yorks Guggenheim Museum hat dem Phänomen einen glänzenden Auftritt geschenkt. Zum ersten Mal überhaupt präsentiert sich der Futurismus damit in sämtlichen Facetten seines Ausdruckswillens in den Vereinigten Staaten, die schon modern waren, als es die wilden Italiener erst werden wollten. Dichtung, Malerei, Plastik, Architektur, «Philosophie» und Interieur, Happenings und Mode – alles ist mit fleissiger Sorgfalt herbeigebracht und kommentiert. Doch für den wahren Zauber der Dramaturgie sorgt das Museum selbst. Der spiralig angelegte Innenraum schickt die Objekte auf eine Zeitreise, die im Erdgeschoss loslegt und nach vielen Drehungen unter der Kuppel kulminiert: Dort hängt Tullio Cralis brillantes Gemälde von 1939, das einen Springer in die Tiefe sausen lässt – der Fallschirm des Soldaten ist noch nicht geöffnet, wie ein dunkles Geschoss strebt er dem Land zu, das sich friedlich unter ihm wölbt [s. Kopfbild].
Carlo Carrà, Begräbnis des Anarchisten Galli. 1910/11
Schock als Kalkül
So sinnlich präsent und farblich gedämpft gab sich der Futurismus eher selten und erst zur Zeit der späteren «aeropittura», als Luft und Himmel und die Begeisterung für kühne Flieger die Motive stellten und sie der Nähe des Lebens mit diskreter Hand entrückten. Am Anfang war der Teufel los. Er besass einen ersten Namen in Filippo Tommaso Marinetti. Der 1876 im ägyptischen Alexandria geborene, dann vor allem in Mailand und Rom wirkende Schriftsteller und Politiker wusste, dass seine Bewegung nur eine Chance hatte, wenn sie alle Register zog. Das berühmte Gründungsdokument, das am 20. Februar 1909 auch vom Pariser «Figaro» auf der Frontseite veröffentlicht wurde, sollte und musste eine Provokation sein. Pro und Contra kamen steil und scharf daher: für die Gefahr, den Mut, die Auflehnung; für die Schlaflosigkeit, die Ohrfeige, den Faustschlag; die Geschwindigkeit, den Krieg. Gegen Museen, die Akademien, die Bibliotheken; gegen die Bourgeoise, die romantische Liebe, die Frau. Ein aufheulendes Automobil sei schöner als die Nike von Samothrake, schrieb der mutwillige Brandstifter, was bis heute zitiert wird, und wähnte sich, nicht zu Unrecht, im Einklang mit anderen jugendbesessenen Köpfen des neuen Jahrhunderts.
Die Ausstellung reproduziert das herrisch über elf Punkte stolzierende Manifesto, das sich an die gesamte Menschheit wenden wollte, und sorgt, wen dürfte es wundern, im Erfinderland der «political correctness» für einige rote Köpfe unter den Lesenden. Wer nicht mit der europäischen Geistesgeschichte und näherhin mit dem Gedankenprofil zwischen Fin de Siècle und Erstem Weltkrieg vertraut wäre, also auch mit Nietzsche und Apollinaire, mit Bergson und Sorel, mit den Regenerationsphantasien und mancherlei Prometheus-Renaissance, verstünde nur rudimentär, um was es damals ging. Die typisch italienische Mixtur aus freiwilliger und ungewollter Komik spielte an den Rändern mit, doch den politisch-militärischen Grössenwahn einmal beiseitegelassen, ging es vor allem um die Kunst.
darf nicht fehlen: Umberto Boccioni, Forme uniche della continuità nello spazio, 1913
Nahe an den Dingen
Eine Kunst – nach und nach – als aufregende und spürbare Lebensweise; antimuseal und demokratisch; elitär und zugleich den Massen geöffnet; revolutionär Entwicklungen spiegelnd, die auch ohne sie stattfanden; zuletzt – und bereits wieder verbürgerlicht – als Dekor für zu Hause geeignet. Der Futurismus war damit auch ein Produkt der Widersprüche, und wie es sich für Avantgarden gehört, machten ihm teilweise ähnliche Strömungen schon bald sein Dasein schwer – der Kubismus, dann, mit mehr Effort und weniger Substanz, der Dadaismus. Auch der Kubismus pflanzte den Betrachter mitten ins Bild, verwirbelte die Perspektiven, stauchte die Räume. Doch seine Themen blieben – von der Gitarre bis zur Zigarette – allermeistens sanft.
Giacomo Balla, Disgregazione x velocità, Penetrazioni dinamiche di un automobile , 1912
Gegen solches Schweigen schrie die Gruppe um Marinetti, Boccioni, Russolo, Balla und Carrà die Melodien der Bewegtheit. Bewegung war drinnen, in den Bewusstseinsströmen des Gehirns, im Sinne von «states of the mind», und sie war draussen, vor der Türe: in Fabriken, in Stadien, auf der Strasse, im Zug, im Rennwagen, in Reklamen, in Schriftzügen und wo immer sich nun die Technik schneller und schneller Raum und Zeit eroberte und unterwarf. Nur Gino Severini, der in seinen Bildern stets gut gelaunte Lyriker unter den Futuristen, versagte sich den martialischen Tritt. Die anderen deklamierten und experimentierten mit den Farben, den Motiven, den Abstraktionen einer in grosser Unruhe erfassten Welt, die zum Beispiel auch in den Fotografien von Anton Giulio Bragaglia ihre überraschenden Porträts fand. Von 1911 datiert eine Sepia-Aufnahme, die das fliegende Fingerwerk einer Stenotypistin vor ihrer Maschine des Namens «Sun» wie ein Filmstill avant la lettre präsentiert.
Anton Giulio Bragaglia, Il dattilografo, 1911.
Den Kosmos bestimmen
Die Guggenheim-Schau trägt den Untertitel «Reconstructing the Universe» und trifft damit das Ansinnen der meisten Futuristen perfekt. Mehr noch, in den vielen weiteren Manifesten, die dem Gründungstext folgten, als wollten sie ihn laufend aufdatieren, wurde der Anspruch der Rekonstruktion des Universums immer dringlicher. Russolo erfand eine Reihe von Lärmerzeugern, sogenannte «intonarumori», die als akustische Spiegel für eine Welt dienten, die – heroisch eben – nicht mehr mit einem Nocturne von Chopin schwanger ging, sondern im Rhythmus der Maschinenwunder dröhnte. Zu den Interessenten für das sicherlich scheussliche Gerät gehörten auch Strawinsky und Prokofjew. Marinetti verfasste Texte, die in der Art der «écriture automatique» die Sprache und ihre Semantik sprengen und den Wirklichkeiten kriegerischer Begegnungen Rechnung tragen wollten. Und der Architekt Antonio Sant'Elia, der schon 1916 an der Front gegen Österreich starb, erging sich mit seinen Visionen von Hochhäusern, Fabrikanlagen und Bahnhöfen in Dimensionen des Ungeheuren, das solchermassen realiter erst in Amerika erfahren werden konnte. Piranesi und die französische Revolutionsarchitektur liessen mit grüssen.
Fortunato Depero, Wolkenkratzer und Tunnels, 1930
Jedermann konnte damals spüren, wie Traditionen und Kontinuitäten innert kurzer Frist weggefegt wurden. Die Gegenwart bot schwankenden Grund, und umso mehr gediehen die Utopien auf eine Zukunft, die, sei es politisch, sei es ästhetisch, mit dem Reissbrett gebändigt werden sollte. Italien machte im Norden den Sprung nach vorne mit der Modernisierung der Industrie, was den «Duce» dazu veranlasste, das Volk insgesamt mit der Bewegung der Avantgarde zu identifizieren. Ein hypertropher Wunsch, der nicht allzu lange vorhielt.
TATO, Sorvolando in spirale il Colosseo, 1930.
Marinetti, der den Krieg als «sola igiene del mondo» gerühmt und das Libyen-Abenteuer der Italiener gegen das Osmanische Reich ins Mythische überhöht hatte, stürzte sich auch begeistert in den Weltkrieg. Weniger Glück widerfuhr seinem Gefährten Umberto Boccioni. Der interessante Maler und Plastiker starb 1915, allerdings ohne Feindeinwirkung: Er fiel von seinem Pferd. In den zwanziger Jahren versöhnte sich Marinetti mit Mussolini und dem Faschismus – auch deshalb, weil der starke Mann, anders als sein Verbündeter im Reich, undogmatisch offenblieb für die ästhetischen Strömungen und Gemengelagen des Zeitgeists. 1929 liess sich der einst so kompromisslose Verfasser der frühen Manifeste des Futurismus sogar in die italienische Akademie aufnehmen. Nachdem er von Mailand nach Rom gezogen war, wandte er sich vermehrt auch Fragen des sozial zeitgemässen Stils zu. Er erklärte – vielleicht mutiger, als es den Anschein geben könnte, weil er damit eine echte Heimatfront eröffnete – der Pasta den Krieg, weil sie träge und fahrig mache, und pries den Espresso als Gedankenbeschleuniger.
Carlo Carrà, Interventionistische Demonstration, 1914
International unterwegs
Gleichwohl gelang es dem Futurismus, über die Grenzen der Stammlande hinauszugreifen. Er errichtete Zweigstellen in Paris, in London, in Berlin, und sogar in Moskau kam er in Metamorphosen zu Ehren. Der Themenfächer trug dazu bei. Balla etwa entwarf auch Mode, in den sogenannten «serate» – Theaterabenden eines schrill improvisierenden Tohuwabohus – wurde der Dadaismus antizipiert, Reklame-Design machte Schluss mit dem symbolistischen Gewucher, Tanz und Pantomime ergänzten das Spektrum. Und während man glauben durfte, dass der Männlichkeitskult die Frauen aus dem futuristischen Kosmos vertrieben und vergrault hatte, zeigte die Schriftstellerin und Künstlerin Rosa Rosà das Gegenteil – sie war voll dabei.
Giacomo Balla, Abstract Speed + Sound,1913–14
In New York ist vieles seh- und lesbar. Die Ausstellung hat intellektuelles Format und befriedigt das Auge. Zeitlos bedeutend sind die Gemälde – Boccionis dynamisierte Industriekomplexe, Ballas abstrahierende Expansionen aus Geschwindigkeit und Form, Severinis farbliche Wunder auch bei harten Themen wie dem armierten Zug mit Geschütz, endlich die Luft- und Flugbilder aus der Spätphase der Bewegung. Tatos Quadrat von 1930, das den spiraligen Steigflug eines Doppeldeckers über dem Oval des römischen Kolosseums inszeniert, nimmt die Zukunft auch anders vorweg: nämlich aus der Rückschau wie ein Menetekel für den Zusammenbruch grosser Pläne und Taten.
Italian Futurism 1909–1944. Guggenheim Museum, New York. (Bis 1. September). Reich kommentierter und illustrierter Katalog.
Alessandro Bruschetti, Sintesi Fascista, Perugia 1935
Nota.
Je mehr er zur faschistischen Staatskunst aufstieg, umso plakativer und reklamiger wurde der Futurismus. Schließlich verschmolz er so weit mit dem damaligen westlichen Zeitgeschmack, den wir heute Art déco nennen, dass man ihn als dessen italienische Sonderform ansehen könnte. (Aber mal ganz unter uns: Allzuviel hat es auch vorher nicht getaugt, das Beste ist immer noch Boccionis obige Plastik.)
JE
Alessandro Bruschetti, Sintesi Fascista, Perugia 1935
Nota.
Je mehr er zur faschistischen Staatskunst aufstieg, umso plakativer und reklamiger wurde der Futurismus. Schließlich verschmolz er so weit mit dem damaligen westlichen Zeitgeschmack, den wir heute Art déco nennen, dass man ihn als dessen italienische Sonderform ansehen könnte. (Aber mal ganz unter uns: Allzuviel hat es auch vorher nicht getaugt, das Beste ist immer noch Boccionis obige Plastik.)
JE
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