Freitag, 4. Juli 2014

Vor dreihundert Jahren: Christoph Willibald Gluck.

aus diePresse.com, 01.07.2014 | 18:29 |

Was sollen wir denn mit Christoph Willibald Gluck anfangen?
1714 kam in der Oberpfalz ein Förstersohn zur Welt, der zum Hofkomponisten in Wien und zum umstrittenen Opernreformator in Paris wurde, hoch geehrt von Meistern wie Beethoven, Wagner und Strauss - doch kaum noch beachtet von heutigen Musiktheaterintendanten.

 

Gluck? Der Förstersohn aus der Oberpfalz galt einst als „vierter Wiener Klassiker“, neben Haydn, Mozart und Beethoven. Mittlerweile hat das Publikum mangels Wunschkonzerten sogar schon verlernt, das „Ach, ich habe sie verloren“ mitzusummen. Die „Orpheus“-Arie bietet übrigens das beste Beispiel für die wackelige Position des Komponisten im Gefüge unseres Musikgeschichtsverständnisses: Der schönen C-Dur-Melodie könne jeglicher Text unterlegt werde, heißt es, und, für sich genommen, klinge sie alles andere als schmerzlich.

Das ist freilich eine Sache der Interpretation, doch davon später.

Die Frage, wie genial Gluck denn nun wirklich war, ob er überhaupt genial war, zieht sich wie ein roter Faden durch die Musikliteratur. Nikolaus Harnoncourt bekannte einmal: „So viel Geld können Sie mir gar nicht bezahlen, dass ich Gluck aufführen würde.“

Und doch weht noch ein leiser Bedeutungshauch um den Namen. Man weiß um die heftigen Debatten, die das Paris des Ancien régime führte. Worüber ist damals gestritten worden? Über die bewusste Erneuerung des Musiktheaters? Die Nachwelt höhnt: So modern war Glucks Musik auch wieder nicht. Restbestände von Opera buffa und seria hier, Anbiederung an die Tragédie lyrique in der Lully-Nachfolge da, zwischendrin Pathos – und ziemlich wenig Melodie...

Vielleicht nützt ein Blick auf eine der berühmtesten Szenen aus der Feder des Komponisten, um zumindest zu erahnen, was die Gemüter einst in Wallung geraten ließ. Gegen Ende des ersten Akts von „Alceste“ besingt die Titelheldin die Gottheiten der Unterwelt. Das Werk feierte am Wiener Burgtheater 1767 Premiere: Alceste beschwört die „Ombre, Larve“ in einer durchaus barocken Vorbildern abgekupferten Da-capo-Arie. Neun Jahre später, in Paris, gibt Gluck dem Monolog Profil, indem er die Sopranstimme über den ursprünglich rein instrumentalen Schlusstakten mit großem melodischen Schwung zum hohen B führt.

Aber der Feueratem der Callas!

Und plötzlich haben wir eine zukunftsweisende, expressive Gesangsszene vor uns. Freilich bedarf sie der Belebung durch eine fantasievolle Interpretin. Lang ist die Liste illustrer Gestalterinnen. Von Leontyne Price über Marilyn Horne bis zu Wagner-Heroinen vom Format Kirsten Flagstads spannt sich der Bogen. Wobei Alceste bei Christel Goltz wie ein Vorecho auf Beethovens Leonore klingt, bei der (deutsch singenden) Inge Borkh wie das Vorbild für Wagners Sieglinde – und das hat wenig mit der Sprache zu tun, sondern mit dem Gesangsstil!

Glucks dramaturgischer Geist beschwört offenbar wirklich die Opernzukunft. Und es ist eine Frage der interpretatorischen Intensität, nicht der stilistischen Ausrichtung, ob sich der erwünschte Effekt einstellt. Eine Sängerin von Brünnhilden-Format wie Helen Traubel serviert die Phrasen in einem, auf den Spitzenton zusteuernden großen Atemzug. Eine Stilistin wie Suzanne Danco erfüllt den Anspruch, belkanteske Linienführung durch ausdrucksvolle, aber behutsam dem melodischen Bogen einverleibte Nuancierung zu dramatisieren. Das klingt dann wie ein Brückenschlag zur aufführungspraktisch wohlinformierten Gegenwart einer Anne Sofie von Otter, die mit John Eliott Gardiner eine textlich noch dem Wiener Originallibretto angenäherte Version der französischen Szene aufgenommen hat; wobei Gardiner den Orchesterpart verlebendigt und aus seiner bloßen Begleitfunktion zu befreien versucht.

Was diesbezüglich möglich wäre, hört man bei Georges Prêtre, der Maria Callas assistiert hat. Die Primadonna assoluta kämpft da, spät in ihrer Karriere, schon um die Spitzentöne – doch hört man, auch weil Prêtre mit radikal markierten Posauneneinsätzen unterzündet, welch feurige Intensität sensiblere Geister im königlichen Theater in Paris einst irritiert haben könnte.

Wie die Callas in besseren Zeiten die „Divinités du Styx“ beschwor, lässt sich trotz miserabler Tonqualität auf dem Livemitschnitt aus Mailand unter Carlo Maria Giulini, 1954, erahnen. Und man denkt: Es war auch die Callas, die Donizetti und Bellini in die großen Theater zurückgeholt hat – Material für exzellente Gestalter wie die „Well-made Plays“ unserer Tage für große Schauspieler. Alles, wie gesagt, eine Sache der Interpretation. So gesehen hat Gluck ja auch mit 300 noch Chancen.


Nota. 

Auch Rousseau hatte sich bemüht, die französische Oper zu reformieren und natürlicher zu machen. Sein Devin du village war auch nicht ganz ohne Erfolg, aber gegen den Geschmack des Hofes kam er nicht an, und sein komposito- risches Talent war wohl auch nur ein kleines. 

Nun ist Ausdruck das heikelste Kapitel in der Kunst. Die Faustregel ist: Ein Künstler, der sich um Ausdruck bemüht, will eigentlich Eindruck machen - und beim arglosen großen Publikum gelingt es meistens. Aber auch das größte Publikum bleibt nicht ewig arglos, und schließlich kommt jeder Kitsch in Verruf.

Zu Glucks Zeiten ging es aber für den Komponisten gar nicht darum, in seiner Musik sich selber auszudrücken, das haben sie erst seit Berlioz versucht. Sondern darum, es den Musikern erstmals zu erlauben, die Musik zu interpretieren

Seit dem späten Mittelalter beherrschte die Affektenlehre die europäische Musik, nach der eine jede Tonart eine ganz bestimmte Gefühlsregung hervorruft, und sobald das gebildete Publikum - ein "großes" gab es ja noch nicht - die Tonart eines Stückes erkannt hatte, wusste es, was gemeint ist. Die Sänger oder gar die Instrumentalisten hatten gar keine Gelegenheit, in die Musik etwas Eigenes hineinzutun, sie mussten und durften nur virtuos sein: geschickt und kraftvoll. Nicht erst Rousseau hat die Unnatürlichkeit der zeitgenössischen Oper kritisiert, es war eine allgemeine Stimmung, die der Hamburger Komponist und Kritiker Johann Mattheson wiedergab, als er die "zu große Kunst" J. S. Bachs bemängelte. 

Und so bestand die musikhistorische Leistung Glucks nicht darin, dass er der Musik etwas hinzufügte - was man noch heute hören würde; sondern darin, dass er etwas wegließ - was nur die Zeitgenossen hören konnten.
JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen