Die heimliche Sehnsucht eines bahnbrechenden Neuerers
Unter dem Titel «Am Puls der Moderne» präsentiert die Kunsthalle Bremen die erste grosse Retrospektive des französischen Künstlers Emile Bernard, die auch sein kaum bekanntes Spätwerk einbezieht.
von Peter Bürger
«Hommage à Cézanne» lautet der Titel eines in der Kunsthalle Bremen aufbewahrten Entwurfs eines 1900 fertiggestellten programmatischen Bildes von Maurice Denis. Um ein Stillleben Cézannes sind im Gespräch mit Odilon Redon die jungen Maler placiert, die sich 1890 zur Gruppe der «Nabis» (der «Propheten») zusammenschlossen. Ausser Denis sieht man unter anderen Sérusier, Bonnard, Vuillard und den Galeristen Vollard. Emile Bernard fehlt auf dem Bild, obwohl er es gewesen ist, auf den der «Cloisonnisme» zurückgeht, eine Malweise, die, sich gleichermassen vom Akademismus wie vom Impressionismus absetzend, die dargestellten Gegenstände vereinfacht, mit Konturlinien einfasst und als farbige Flächen behandelt. Gauguin, der in den späten 1880er Jahren zusammen mit dem jungen Bernard in der Bretagne arbeitet, hat diesem Verfahren zum Durchbruch verholfen und wurde 1891 von dem Kunstkritiker Albert Aurier in einem einflussreichen Aufsatz als bahnbrechender Neuerer gefeiert. Die Kunstgeschichte hat diese Sicht weitgehend übernommen und durch ästhetische Werturteile noch pointiert.
Bretonische Frauen mit Sonnenschirmen 1892
Bestens ausgestattet
In Zusammenarbeit mit dem Pariser Musée d'Orsay macht sich die Kunsthalle Bremen nun daran, den Fall Bernard neu zur Diskussion zu stellen mit einer Ausstellung, die nicht nur das Frühwerk des «Cloisonnisten» Bernard, sondern auch sein Spätwerk zeigt, das sich zunächst an mittelalterlichen Fresken, später an der Malerei der Renaissance und des Manierismus ausrichtet. Die Kunsthalle Bremen ist dafür bestens ausgestattet. Nicht nur besitzt sie mit der «Blauen Kaffeekanne» ein herausragendes Stillleben des Cloisonnisme, sondern darüber hinaus ein monumentales Album, in das Bernard ein Leben lang Skizzen und Zeichnungen eingeklebt hat. Dorothee Hansen, die Kuratorin der Ausstellung, hat die Skizzenblätter von Bernards erster Reise durch die Bretagne, 1886, aus dem Konvolut herausgelöst und gesondert zugänglich gemacht, wodurch auch die von dem Zeichner genutzten Rückseiten der Blätter zum Vorschein kommen. Allein dieser Teil der Ausstellung, der zeigt, wie der junge Künstler mit den verschiedensten Techniken experimentiert, lohnt den Besuch.
Die blaue Kaffekanne 1888
Nur zweimal provoziert die Ausstellung Vergleiche zwischen Bernard und seinen heute berühmten Malerfreunden van Gogh und Gauguin, und beide Male erweist sich das Bild Bernards als das stärkere. Mit sicherem Griff wendet der 19-jährige Künstler im «Porträt der Grossmutter» von 1887 die gemeinsam mit Anquetin entwickelte flächige Malweise für die die alte Frau umgebenden Gegenstände an, so auf die Schaffung einer Raumillusion verzichtend, den Kopf der Alten jedoch modelliert er mit markanten Hell-Dunkel-Tönen, so dass das durch ein dreieckiges Lid hervorgehobene Auge den Betrachter fest in den Blick nimmt. Van Gogh dagegen evoziert in seinem ein Jahr später entstandenen Bild «Alte Frau aus Arles» den Raum mit dem herkömmlichen Mittel der verkleinerten Wiedergabe des Bettgestells. Auch die Weise, wie Bernard die Porträtierte ins Bild setzt, ist weitaus kühner als die Placierung in der Bildmitte bei van Gogh. Dessen in Gelb-, Grün- und Blautönen gehaltenes, sehr harmonisches Bild wirkt daher im Vergleich zu demjenigen Bernards fast traditionell. Das gilt auch von dem sehr ausgewogenen Stillleben Gauguins, das malerische Reize in den dargestellten Früchten zur Wirkung bringt, wo Bernard in seinem Bild deutlich mit farblichen Verfremdungseffekten arbeitet.
Porträt der Großmutter 1887
Schon das «Porträt der Grossmutter» zeigt, dass Bernard mit der Entdeckung der vereinfachenden, flächenhaften Malweise behutsam umgeht, dass er sich der Grenzen des neuen Verfahrens bewusst ist. Das trifft auch für seine radikalsten Bilder zu. In der «Weizenernte» scheint die fast das ganze Bild einnehmende gelbe Fläche hinter den vier Gestalten in bretonischer Tracht wie eine Wand aufzuragen, nicht als Teil einer gegliederten Landschaft. Trotzdem verzichtet Bernard nicht ganz auf die Andeutung einer räumlichen Illusion. Die beiden Frauen im Vordergrund rechts sind deutlich grösser als die beiden männlichen Gestalten im Mittelgrund. Und auch die gelbe Fläche ist in der unteren Bildhälfte durch den Wechsel von dunkleren und helleren Streifen andeutungsweise räumlich gegliedert. Zwar dominiert der Gegensatz zwischen dem leuchtenden Gelb des Feldes und dem Schwarz-Weiss der Gewänder das Bild und nähert es einer abstrakten Komposition an, zugleich aber sind die Gestalten in ihrer räumlichen Verortung und in ihren Bewegungen präzise erfasst. Bernard scheint der Auffassung zu sein, dass die flächige Malerei traditioneller Elemente bedarf, um sich davon abzusetzen.
Weizenernte
Der Begriff des Dekorativen
Auf der Rückseite hat Bernard die «Weizenernte» als «dekorative Tafel» bezeichnet. Nun muss man wissen, dass für die an einer Flächenmalerei arbeitenden Künstler der Begriff des Dekorativen nicht abwertend konnotiert ist, sondern, im Gegenteil, das Ziel benennt, das sie sich gesetzt haben: die Schaffung einer Komposition mit malerischen und zeichnerischen Mitteln, nicht die Wiedergabe eines Realitätsausschnitts. Von Monfreid, einem Maler-Freund Gauguins, ist der Satz überliefert: «Besteht die Malerei nicht vor allem darin, eine Fläche mit dem Mittel der Farbe und der Zeichnung zu dekorieren?» Bernard hat in der Epoche des Cloisonnisme diese Auffassung geteilt. Im Begriff des Dekorativen schwingt gleichwohl – auch wenn die Flächenmaler das damals nicht wahrhaben wollten – eine pejorative Nuance mit: das unfreiwillige Eingeständnis der Einschränkung der Malerei auf das Sinnliche. Damit tritt aber ihr malerisches Ziel in Widerspruch zu dem spirituellen Anspruch, den sie unter Berufung auf Redon erhoben und der in den religiösen Bildern Bernards einen nicht immer überzeugenden Ausdruck gefunden hat.
Sur la colline
Frühere Bernard-Ausstellungen haben sich weitgehend auf das Frühwerk des Malers beschränkt, das sich bruchlos in die herkömmliche Geschichte der modernen Malerei einfügt. Auch die Mannheimer Ausstellung von 1990 hat nur wenige Beispiele aus dem Spätwerk gezeigt, das mit der Moderne bricht. Die Provokation der Bremer Ausstellung liegt darin, dass sie dieses breit dokumentiert und den an der klassischen Moderne geschulten Betrachter auffordert, sich zu diesen postmodernen Werken avant la lettre zu verhalten.
Eisenbrücken in Asnières 1887
In den Jahren 1893 bis 1904, die er in Ägypten verbringt, malt Bernard mehrere grossformatige Frauenporträts, in denen sich die Rückkehr zu einer traditionellen Darstellung überdeutlich ankündigt. Neben den radikalen Frühwerken gehören diese Bilder zu den eindrucksvollsten der Ausstellung. «Die Afrikanerin» von 1895 zeigt die Frau des Künstlers im violetten Kleid auf einem Diwan sitzend. Den Kopf, nach links geneigt, mit der Hand abstützend, während die Rechte auf dem angezogenen Knie ruht, blickt sie mit gesenkten Lidern melancholisch vor sich hin. Man muss das Bild aus dem Folkwang-Museum Essen im Original sehen, um die abgründige Trauer dieses Blicks ganz zu erfassen. Dabei strahlen die Farben des Bildes – das den Diwan beherrschende Orange und das helle Violett des Kleides – eine Freude am Leben aus, die die hoffnungslose Niedergeschlagenheit der Frau umso stärker hervortreten lässt.
L'Africaine 1895
Was das Bild unmittelbar überzeugend macht, ist die Tatsache, dass es die Spannung zwischen zwei unterschiedlichen Malweisen austrägt. Während der Diwan flächig gehalten ist und so gut wie keine räumliche Illusion suggeriert und auch die Gestalt der Frau wie im Cloisonnisme teilweise mit einer dunklen Linie eingefasst ist, hat der Maler ihr Gesicht fein herausgearbeitet. Zwei undefinierte Objekte in der unteren rechten Bildecke wirken als Störfaktor, der den Eindruck der Harmonie, den das Bild auf den ersten Blick machen könnte, aufbricht.
Dieses Bild aus der Periode des Übergangs zu einer an der Renaissance orientierten Malerei ermöglicht, zumindest eine Hypothese darüber zu formulieren, was den Maler zu einem derart einschneidenden Stilwechsel hat motivieren können. Die herkömmliche Erklärung, dass er bei einem Spanien-Aufenthalt 1896/97 sich durch die Malerei Zurbaráns und Murillos habe beeindrucken lassen, lässt die Frage unbeantwortet, was ihn für «die plastische Erscheinung» empfänglich gemacht hat. Ganz davon abgesehen, dass die vor der Spanien-Reise vollendete «Afrikanerin» ihn bereits auf dem Weg zu einer anderen Malerei zeigt. Anders als bei seinem frühen «Porträt der Grossmutter», das das Ergebnis eines spontanen Wurfs sein dürfte, stellt sich Bernard in Ägypten das Porträt als bildkünstlerische Aufgabe, was bereits am repräsentativen Format der Bilder erkennbar wird.
Spanische Bettler, 1897
Vormoderne Verfahren?
Die Absicht, die seelische Befindlichkeit der dargestellten Frauen zu erfassen, hat ihn vermutlich bald zu der Einsicht kommen lassen, dass bei der Wiedergabe der Gesichtszüge das vereinfachende, die Flächigkeit des Bildes betonende Verfahren den Porträtmaler vor kaum zu lösende Probleme stellt. Macht es doch das Streben nach Vereinfachung dem Maler so gut wie unmöglich, Feinheiten des psychologischen Ausdrucks wiederzugeben. Mit der «Afrikanerin» zieht er daraus die Konsequenz und kehrt zunächst für die Gestalt zu einem vormodernen Verfahren zurück, das er später auch für den räumlichen Aufbau übernimmt.
Nach dem Bad
Picasso wird in seiner kubistischen Phase auf dasselbe Problem stossen. Mit «Olga im Lehnstuhl» von 1917 wendet auch er sich einer traditionellen, an Ingres erinnernden Malweise zu, freilich nicht dauerhaft. Übrigens wie Bernard in der «Afrikanerin» gestaltet auch Picasso den Lehnstuhl, auf dem Olga sitzt, flächig, dadurch das Bild als das eines modernen Malers kennzeichnend.
(Titel?)
Vielleicht ist das klassisch ausgewogene Bild die heimliche Sehnsucht des modernen Malers. Picasso jedenfalls hat es verstanden, sie sich zu erfüllen bei gleichzeitiger Verformung der menschlichen Gestalt. (Ich denke dabei vor allem an die Bilder der späten 1920er und 1930er Jahre, die 2005 in der Fondation Beyeler in Riehen zu sehen waren.) Bernard dagegen wendet sich 1908 den Venezianern zu und malt drei nackte Frauen «Nach dem Bad» – ein Ruhe ausstrahlendes Bild, das fast von Giorgione sein könnte.
Emile Bernard – Am Puls der Moderne. Kunsthalle Bremen. Bis 31. Mai 2015.
Ein Bordell, 1890
Nota. - Was heißt hier Spätwerk? Bernard hat bis 1941 gelebt. Was ist aus seiner Malerei geworden? Wenn er wirklich zu den alten Meistern zurückgekehrt ist, wäre auch das ein höchst bemerkendwerter Beitrag zur "Moderne" (langsam hasse ich das Wort und mag es nicht mehr ohne Gänsefüßchen gelten lassen).
JE
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