Freitag, 17. April 2015

Keltische Kunst ist noch immer eine Entdeckung.

Bulgarien
aus nzz.ch, 14. 6. 2009

Keltische Kunst sucht die Abstraktion
Keltische Kunstwerke aus ganz Europa in Bern zu sehen

Dass die Kelten eine eigenständige Kultur entwickelten, ist heute bekannt. Dass sie auch Kunst herstellten, ist dagegen zum ersten Mal zu sehen: Das Historische Museum Bern zeigt die schönsten keltischen Kunstwerke aus ganz Europa. Ein Interview mit Felix Müller, Professor an der Universität Bern und stellvertretender Direktor des Museums.

NZZ am Sonntag: Man braucht keine besondere Bildung, um ein Kunstwerk dem alten Ägypten, der Antike oder den Mayas zuzuordnen: Wir erkennen die Stilelemente sofort. Warum kennen wir die keltische Kultur so viel weniger, obwohl sie eigentlich unsere eigene ist?

Felix Müller: Kulturen, die mit einem klar begrenzten Gebiet oder gar einem Staat zusammenfallen, lassen sich besser fassen: das alte Ägypten, das Römische Reich. Schon die Phönizier mit ihren zerstreuten Territorialgebilden ums Mittelmeer herum sind nie so stark als Kultur wahrgenommen worden. So ist es auch bei den Kelten: Es handelte sich nie um einen Territorialstaat, und ihr Siedlungsgebiet erstreckt sich von Irland und Schottland über Zentraleuropa bis nach Rumänien. Erst spät hat man deshalb die Kelten als eigene archäologische Kultur erkannt: das heisst, sie mit bestimmten Formen der Bestattung, der Siedlungsweise und der Alltagsgegenstände in Verbindung gebracht. Und noch später hat man erkannt, dass sie eine eigene Kunst entwickelt haben.
Hallstadt

Die Kelten gelten als die ersten Europäer – sind sie es?

Im grossen Ganzen schon. 450 vor Christus hat der griechische Geschichtsschreiber Herodot die Kelten zum ersten Mal erwähnt als ein Volk, das nördlich der Alpen lebt, «im Gebiet, wo die Donau entspringt». Dieses Gebiet ist tatsächlich das Herz der keltischen Archäologie: Süddeutschland, Ostfrankreich und die Schweiz. Später hat sich dann die keltische Kultur in weiten Teilen Europas verbreitet.
Der prachtvolle Helm wurde in einer Höhle in Südwestfrankreich gefunden.
Der prachtvolle Helm wurde in einer Höhle in Südwestfrankreich gefunden.

Wer hat denn die Kelten «entdeckt»?

Als Erste haben die Sprachwissenschafter gesehen, dass es eine Sprachgruppe gibt, deren Trümmer sich an den Rändern Europas vorfinden, in der Bretagne, Irland und Schottland – also überall dort, wo das römische Imperium nicht darübergehobelt hat. Auch gab es schon früh Leute, die keltische Stücke in ihre Sammlungen von klassischen Altertümern aufnahmen. Aber die eigentliche Archäologie war lange im Banne der antiken Kulturen, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann man auch in Europa mit wissenschaftlichen Grabungen. Wichtige keltische Fürstengräber sind erst vor 30, 40 Jahren geöffnet worden. Das hat dazu geführt, dass wir heute die Kelten besser wahrnehmen.
Clermont-Ferrand

Mit anderen Worten: Wir erkennen erst heute den künstlerischen Wert dieses Kulturkreises?

So ist es. Es gab wichtige Ausstellungen über die Kelten, die erste, 1991 in Venedig, war ein grosses Ereignis. Aber unsere Ausstellung ist tatsächlich die erste, in der die Kunst den roten Faden darstellt. Wir wissen heute eben viel mehr über die Verbindungen zum Süden und die Einflüsse der etruskischen und der griechischen Kunst, die sehr wichtig waren. Wir können heute deshalb die keltische Kunst besser fassen.
Gundestrup-Platte

Was ist das eigentlich Keltische bei diesen Waffen und Töpfen, an diesem Schmuck?

Das Ornament spielt immer eine zentrale Rolle: Im Ornament zeigt sich die keltische Eigenheit am stärksten, und hier findet die keltische Kunst zu ihren Höchstleistungen. Hier zeigt sich auch die Kreativität der keltischen Handwerker und Künstler, etwa im Gegensatz zu den römischen: Sie übernehmen nicht einfach griechische Muster, sondern sie gestalten diese ganz eigenständig und neu. Man sieht die Ornamentik allerdings an den einzelnen Objekten nicht immer gut, da sie sehr fein gearbeitet sind. Oft muss das eigentliche Ornament ausgeleuchtet oder nachgezeichnet werden, damit es richtig sichtbar wird.
piktisch, Schottland

Das hört sich etwas kryptisch an.

So ist es auch, keltische Kunst offenbart sich nur schwer und ist in diesem Sinne elitär. Nie sucht sie einfach die Natur abzubilden, im Gegenteil, sie sucht die Abstraktion. Auch deshalb wurde sie lange verkannt.

Was ist denn das Besondere an diesen Ornamenten?
Mšecké Žehrovice, Tschechien

Das Hintersinnige. Man kann in diesen Ornamenten oft nicht auseinanderhalten, ob es sich um rein pflanzliche Motive handelt – Ranken etwa oder Blüten – oder ob es nicht doch ein Tier ist oder sogar ein Mensch, der einen da anschaut. Man muss bei den Kelten immer darauf gefasst sein, dass uns irgendwo aus den Mustern heraus zwei Augen anschauen. Derartige versteckte Gesichter sind in der griechisch-römischen Kultur ganz unvorstellbar. Und dann gibt es noch eine weitere Eigenheit: Man sieht zum Beispiel weisse Schlingen- und Tropfenformen auf schwarzem Grund. Wenn man nun die Augen zusammenkneift und den schwarzen Hintergrund als das Motiv betrachtet, sieht man dieselben Schlingen- und Tropfenformen – das ist unglaublich raffiniert. Der Hintergrund bildet selbst auch ein Motiv, man weiss also nicht mehr, was Zeichnung ist und was Hintergrund ist.
Hochstadt

Wir haben in der Schweiz einen grossen Fundus an keltischen Fundgegenständen. In Bern sind Exponate aus ganz Europa zu sehen – was bieten diese zusätzlich?

Wir haben zuerst mit dem Landesmuseum Württemberg in Stuttgart einen Partner gefunden, der unsere eigene Sammlung in Bern sehr gut ergänzt. Dazu kommen viele schweizerische und über 30 ausländische Leihgeber von Irland bis Bulgarien. Es ist uns gelungen, die besten und schönsten Werke in Bern zusammenzutragen, darunter auch solche, die zum ersten Mal zu sehen sind. Es entstand eine einmalige Übersicht über das keltische Kunstschaffen in Europa.
 wo?

Sie haben sich sehr bemüht, die kostbaren Originale nach Bern zu bringen. Ist das wichtig?

Tatsächlich kann man heute in der Archäologie so gute Kopien von Gegenständen machen, dass man sie vom Original nicht unterscheiden kann. Aber es geht hier nicht um ein ästhetisches, sondern um ein ethisches Problem: Für ein Museum hat das Original mit seinem Fluidum einen ganz besonderen Stellenwert. Ich sehe einen Helm und weiss, dass ein Mensch vor langer Zeit diesen Helm getragen hat. Die Geschichte der Menschheit kommt über den Gegenstand zu uns. Noch intensiver ist das Erlebnis natürlich, wenn man einen Gegenstand in die Hand nehmen kann. Ich sehe zum Beispiel bei Schülern immer wieder, wie es sie beeindruckt, etwas in den Händen zu halten, das vor fünftausend Jahren gemacht worden ist. Dieses besondere Erlebnis, diese Nähe zur Vergangenheit möchten wir den Besuchern vermitteln. Das kann nur das Original.

Interview: Kathrin Meier-Rust

Felix Müller
Felix Müller ist stellvertretender Direktor am Historischen Museum in Bern und Honorarprofessor an der Universität Bern. Er gilt als der beste Kelten-Experte der Schweiz und hat die keltische Archäologie über Jahrzehnte erforscht.

Historischen Museum Bern die Ausstellung «Kunst der Kelten. 700 v. Chr.–700 n. Chr.» eröffnet. Dauer: bis 18. Oktober 2009.



Nota. - Er sagt es ja selbst: Diese Kunst ist ornamental, d. h. nicht darstellend, sondern verzierend. Eine Fläche wird in kleinste Teile aufgelöst. Die wiederholen sich typischerweise. Natürlich sind sie dann nicht naturalistisch, sondern... abstrakt? So verliert das Wort jeden Sinn. Stilisierung und Reduktion sind etwas anderes: Da wird auf etwas abgesehen und zum stilistischen, d. h. ästhetischen Merkmal gemacht - dasjenige, worauf der Gegenstand reduziert wird. Und das kann durchaus seine praktische Funktion und lebensweltliche Bedeutung sein. Das wäre allerdings das Gegenteil von Abstraktion.
Goldhelm, s. o.

(An dieser Stelle mag das pedantisch klingen, aber anderswo wäre es wesentlich: Streng stilisierend ist die japanische Kunst, extrem reduzierend die chinesische. So sehr das unsere westlichen Augen irritierend mag: Es ist ganz anders gemeint als die ungegenständliche Wendung der Kunst im 20. Jahrhundert.)
JE
s. o.


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