Montag, 28. September 2015

Cy Twombly in Basel.


aus Badische Zeitung,                                                                              Untitled (Gaeta) 1985                                                              
Fragment eines Traums
Cy Twombly: Malerei und Skulptur in Basel.

von Volker Bauermeister 

2010, im Jahr vor seinem Tod, fand Cy Twombly einen Platz im Louvre. In dem Deckengemälde der Salle des Bronzes ist von der bekannten lässig fahrigen Handschrift aber nichts. Kein Farbenüberschwang wie im malerischen Spätwerk. Ein befremdend ausdrucksloses Bild ist das da. Und doch ein Twombly. Der hat sich immer der Erwartung entzogen.
Louvre, Deckengemälde, Saal der griechischen Skulpturen

Eine kleine, klar konturierte Ausstellung des augenblicklich geschlossenen Kunstmuseums Basel in seiner Filiale für Gegenwartskunst zeigt Twombly in seinen früheren Jahren. Die Zeit bis knapp über 1970 hinaus (nur zwei Skulpturen sind später datiert) repräsentiert der dafür noch mit Leihgaben ergänzte museumseigene Werkblock. Mit Twombly exponiert Museumschef Bernhard Mendes Bürgi nach Frank Stella einen weiteren Amerikaner. Nun aber einen, der selbst auch in Basel, wo man die US-amerikanischen Zeitgenossen früher als anderswo in Europa wahrnahm, erst nach einigem Zögern Aufnahme fand. Mendes Bürgi zitiert einen Vorgänger im Amt, Franz Meyer, der sich an die Vorbehalte erinnerte. Bei Twombly missfiel, so Meyer, dass alles "offen, flüchtig" war – und der Mann obendrein so unverblümt lustvoll.
Untitled, 1954

Die schwarztonige, deckende Ölfarbe ist als dunkler Grund eingesetzt, in den die weisstonigen Pinselspuren hineingearbeitet sind und stellenweise in Grautöne übergehen. Diese Interaktion der Farbmaterie bleibt nicht auf der Fläche des Gemäldes stehen, sondern erzeugt einen subtilen Tiefeneffekt: Was scheinbar auf die Oberfläche des Bildes aufgetragen ist, sinkt in die dunkle Tiefe des Grundes ein. Zusammen mit den sehr sparsam aufgetragenen Spuren gelber und roter Farbe, die an gezielt gesetzte Glanzlichter erinnern, zeigt diese Tiefenwirkung Ähnlichkeit mit den Hell-Dunkel-Effekten und Körpermodellierungen der barocken Ölmalerei. (Aus dem Begleittext der Ausstellung)

Ja, Twombly gewöhnte sich alles ab, was gewöhnlich erwartet wird, was die Handschrift betrifft und das Bild als System. Ein Frühwerk von 1954 kehrt auf dunklem Grund abstrakt-expressionistische Gestik quasi ins Negativ. Schon in die anschließenden römischen Jahre gehört dann "Study for Presence of a Myth", das als erstes in die Sammlung kam. Ein junger Amerikaner, der im alten Europa den kulturellen Fond findet! Twombly rebellierte auf eine andere Weise gegen die etablierte Abstraktion als die Landsleute und Freunde, die zu Stichwortgebern der Pop Art wurden. Auf Kulturgeschichte zu rekurrieren, war nicht weniger gewagt als plötzlich den Alltag zu zitieren. Twombly gelingt beides: unmittelbar jetzig zu sein und verblüffend poetisch historisch.


Arcadia, Rom 1958

Das Wechselspiel von Zeichnung und Schrift erzeugt eine Unbestimmtheit, die sich für das Medium der Malerei als äusserst fruchtbar erweist. Prozesse des Sehens und des Lesens durchdringen sich spannungsvoll, beginnen miteinander zu interagieren. Die Malerei wird nicht in den Bereich der Sprache und Semiotik überführt, sondern das Register malerischer Möglichkeiten wird bereichert, womit sich ihr neue Möglichkeiten eröffnen. (Ausstellungstext)


"Study for Presence of a Myth" ist in einen weiß getünchten Grund eher gezeichnet als gemalt. Die "Studie" wirkt wie eine Notizblockseite im Gemäldemaßstab. Zahlenreihen, Graphismen, vehemente Streichungen, die bilden ein zerrissenes Gewölk. Der Titel skizziert noch den Horizont. "Präsenz eines Mythos". Ein Muster der Welterklärung wäre noch einmal gefragt? Ausgemalt ist – wie an der späten Pariser Decke mit den ins linkische Himmelblau geschriebenen Namen der griechisch-antiken Bildhauer – dann aber gar nichts. Ein nervöses Fragment von etwas. Das ist es: Bruchstück eines sehnsüchtigen Traums.
Untitled, Rom 1961

Es wäre verfehlt, die sinnliche Intensität dieses Bildes auf eine ursprüngliche und quasi präkulturelle Gebärde der Malerhand zu reduzieren, denn einmal mehr öffnen die figurativen, symbolischen und schriftlichen Elemente das Bild und bringen es in Verbindung mit einer kulturellen Ordnung jenseits des spontanen Malakts. So findet die exzessive Farbigkeit und Gestik eine Resonanz in den zahlreichen Herzen, in denen die ungezähmte Leiblichkeit auf symbolische Weise gebändigt und dargestellt wird. (Ausstellungstext)

Zur Malerei findet Twombly wieder zurück. Nicht aber zur volltönenden Formkunst. Was sich zeigt (im unbetitelten Großformat der Daros Collection aus dem Jahr 1961) ist rhapsodisch, ruppig, eruptiv. In freier Liebe lässt Twombly die Farbe blühen, sich in Fleischtönen entblößen. Hingekritzelte Zeichen bringen Liebesorgane ins Spiel. In einer Unzahl glücklich sinnlicher Momente wirkt dies Triebgemälde wie ein Fest ohne Grenzen. Bacchanal. Olymp und durchlebte Niederung in einem.
Untitled, 1969 (Steib-Schenkung)

Ein ganz und gar konträres, strikt minimalistisches Stück gibt der Ausstellung den Anlass. Zum ersten Mal zu sehen ist das Geschenk des Basler Architektenehepaars Steib an das Kunstmuseum. Ein flächendeckendes Cremeweiß, darin ein rasch gezeichnetes Rechteck. Von einer "feinen fensterartigen Öffnung" spricht Mendes Bürgi. Allerdings versperrt Schraffur den Ausblick, und es ist die milchig helle Fläche drumherum, die ins Weite weist. Untergründig lässt sie auch Gewesenes durchscheinen. Das in dem "fensterartigen" Geviert pointierte Hier und Jetzt schließt so Erinnerung ein. Von der Geschichtlichkeit des Bildes wäre zu reden.
Nini's painting 1971 Rom

Die dynamisch gezogenen Linien und die All-over-Technik, mit der das gesamte Bildfeld gleichmässig und flächendeckend bearbeitet ist, erinnern an die Drip-Paintings von Jackson Pollock. Die Dynamik von «Nini's Painting» zeugt dabei weniger von einer kraftvollen Geste als vielmehr von einer leichten und zarten Linienführung, die dem Bild eine harmonische Rhythmik verleiht. So wirkt die eigentümliche Verdichtung von geschichteten Linien und Farbe keineswegs beengend, sondern im Gegenteil offen und leicht. (Ausstellungstext)


Und lichte Schichtenmalerei des römischen Twombly ist auch "Nini's Painting". Darin verflicht sich die Handschrift zur Textur und verwandelt die Fläche zum fluktuierenden Raum. Twombly sehen wir der Freundin Nini Pirandello nach deren Freitod frei aus dem Handgelenk ein Grabdenkmal zeichnen oder schreiben. Eine der fünf Fassungen ist in Basel. In der souveränen Flüchtigkeit klingt Vergänglichkeit an; der Schreibfluss fasst das dauernde Vergehen in eine klaglose Klage. So sieht Entgrenzung aus, wenn sie zum Bild wird.

Museum für Gegenwartskunst, Basel. Bis 13. März 2016, Di bis So 10-18 Uhr.

Und hier noch der Ausstellungstext zu meinem Kopfbild:

Das sichtbar aufgetragene und dabei nicht vollständig deckende Weiss verbindet die unterschiedlichen Teile zu einem ästhetischen Zusammenhang, indem es deren materielle Heterogenität der Oberfläche schafft; andererseits wird durch den sichtbaren Farbauftrag und die farbfreien Leerstellen die Farbe als Verbindung der Teile selbst akzentuiert.


Nota. - Das kann meine vierjährige Tochter auch, hat ein namhafter Zeitungsmann wohl gesagt, und das machte die Runde. Es hängt Twombly - außer bei den Aficionados - bis heute an. Bei vielen, ach, den meisten Stücken muss man sagen: zu Recht. 
Ionisches Meer, 1987. (Das könnte die vierjährige Tochter vielleicht doch nicht, oder höchstens zufällig, aber nicht mit Absicht. Und dann ist ein keine Kunst.)

Aber wenn daraus geschlossen wird, dann könne es keine Kunst sein, denn die kommt von Können, so wird es falsch. Wenn ihm das gefiel, wenn er es gerne malte, wenn Andre darauf etwas zu sehen meinen, was sie vorher nicht kannten - welchen handwerklichen Kanon verlangt man dann noch, und wieso? Wenn er wiedergeboren würde, würde er alles nochmal genauso malen, aber keinem Menschen zeigen und für sich behalten, hat er gesagt. Warum soll man ihm das nicht glauben? 

Vielleicht war er wohlhabend und auf den Verkaufspreis nicht angewiesen. Dann verstünde ich auch, warum ich das Gefühl nicht loswerde: Der Mann hat das alles zum Hohn auf den Kunstmarkt gemacht. Warum soll ich über meine Bilder reden? hat er gesagt. Ich habe sie doch gemalt. Das reicht. Wenn ich dann lese, welcher Tiefsinn den Ausstellern eingefallen ist, denke ich: Das ist ein Gesamtkunstwerk unter dem Titel Die Selbstreflexivität der Gegenwartskunst und ihres Geschäftsbetriebs.
Untitled 1985

Ich will aber nachtragen: Das ist ein bisschen ernst gemeint. Es ist nämlich nicht wahr, dass er nichts konnte. Ich habe einiges aus den 80er Jahren gesehen - sieh oben -, das man sich gut eine Weile lang anschauen kann. Vielleicht zeige ich das hier mal, aber vorher will ich mir doch erst noch ein wenig mehr ansehn.
JE



Sonntag, 27. September 2015

Wer hätte das gedacht! Er ist ein Schauspieler geworden.




aus nzz.ch, 27. 9. 2015

...Sie präsentieren am Festival in Zürich den Film «Maggie». Was hat Sie zu dem Stoff hingezogen? 

Ich las das Skript und wusste gleich, dass ich diesen Film machen musste. Die Rolle ist viel realer und emotionaler als alles, was ich jemals gespielt habe. Die Welt kennt mich als Übermenschen, den Actionhelden, den keine Kugel stoppen kann. In «Maggie» bin ich ein normaler Farmer, der versucht, seine Familie zu beschützen und die Zeit mit seiner Tochter bis zur letzten Sekunde auszukosten. Das war nicht nur eine Rolle für mich, ich fungierte auch als Produzent, was ich normalerweise nicht tue. «Maggie» ist auch für das Genre des Zombiefilms ein grosser Schritt. Es ist der menschlichste Zombiefilm, den man jemals gesehen hat. Ich glaube, wir haben einen Film gemacht, der die Leute nicht nur überraschen, sondern auch berühren wird. ...


Big in the USA 

1947 in der Steiermark als Sohn eines Polizisten und einer Hausfrau geboren, machte Arnold Schwarzenegger zuerst als Bodybuilder Karriere. Er holte fünf Mr.-Universe- und sieben Mr.-Olympia-Titel. Dann schaffte er 1977 mit dem Dokfilm «Pumping Iron» den Durchbruch beim Film. Schwarzenegger versuchte in Hollywood gar nicht erst, sein Herkunfts-Handicap zu kaschieren. Er spielte in «Conan the Barbarian» (1982) einen wortkargen Kämpfer und in «The Terminator» (1984) eine teutonische Kampfmaschine. Ihr Spruch «I’ll be back» ist der meistzitierte Satz der Filmgeschichte. «Terminator 2» (1991) ging als erstes Sequel in die Geschichte ein, das besser war als das Original. Mit «Twins» und «Kindergarten Cop» feierte Arnie auch Erfolge als Komiker. Von 2003 bis 2011 war er Gouverneur von Kalifornien. Schwarzenegger ist mit Maria Shriver verheiratet, die beiden haben vier Kinder, leben aber getrennt, seit bekanntwurde, dass der Star mit der langjährigen Hausangestellten ein Kind zeugte. Am 30. 9. erhält Schwarzenegger am Zurich Film Festival den Golden Icon Award und stellt seinen Film «Maggie» vor. (cj.) 


Nota. - Die Kritiker sind perplex. Arnold Schwarzenegger sagte einmal, wenn er in seinen Pass als Beruf Schauspieler eintragen ließe, wäre das Irreführung der Behörden. Feingeister fanden aber immer, dass hinter seinem Hang zur Selbstparodie mehr steckte als die Koketterie eines Hollywoodstars. Bodybuilding-Weltmeister, Conan der Barbar, Terminator, Gouverneur von Kalifornien, Schauspieler - das ist eine Karriere, die einem Romantiker Ehre machen würde.
JE  

Samstag, 26. September 2015

Und nochmal Botticelli.

aus Tagesspiegel.de, 25.09.2015 14:23 Uhr                                                     aus Madonna mit den singenden Engeln

Die Macht und die Schönheit
Sandro Botticellis Werk fordert immer wieder zu Neuinterpretationen heraus. Die Berliner Ausstellung fügt ein weiteres Kapitel hinzu.

Von Horst Bredekamp

Die Wiederentdeckung Botticellis durch die englischen Präraffaeliten des neunzehnten Jahrhunderts hat dessen populäres Bild bis heute bestimmt. In seinen mythologischen Gemälden wie auch seinen Verkündigungen und Engelschören schien sich eine überirdische Schönheit gegen die Welt des Realen zu richten: verführerisch, elegisch, feinfühlig, aber auch widerständig.

In Herbert Hornes grundlegender Monographie aus dem Jahr 1911 kam jedoch eine zeitgenössische Deutung zu Wort, die dem Tenor dieser Deutung widersprach: Im Jahr 1492 verband ein Mailänder Kunstagent das Lob, Botticellis Stil sei mit „Überlegung“ und „Proportion“ entwickelt, mit der erstaunlichen Charakterisierung, er besitze „männlichen Ausdruck“. Dass die Bezeichnung des Virilen in ihrer Bedeutung schwankt, weiß kaum eine Epoche besser als die unsere. Aber dennoch mag die historische Geltung dieses Adjektivs Elemente der Kunst Botticellis zu erschließen, die üblicherweise nicht im Fokus stehen.

Entdeckung des Holofernes, um 1470

So kommt die kristallisch scharfe, klare Zentralperspektive der Bauwerke in den Sinn, in der Botticelli vor allem in seinem Spätwerk offenbarte, mit welcher Präzision er die mathematischen Regeln dieser Projektionsmethode beherrschte. Möglicherweise dachte der Kunstagent auch an die Unerbittlichkeit, mit der Botticelli den Betrachter in dem Florentiner Gemälde „Judith und Holofernes“ mit dem offenen Halsstumpf des geköpften Holofernes konfrontiert. Dies gilt auch für die Gewalt, mit der Botticelli die Legende der Nastagio degli Onesti ausstattete: Hunde reißen sich um die Eingeweide der im Rücken aufgeschlitzten Frau.

Nicht minder könnten im Urteil des Virilen auch Botticellis Schandbilder eine Rolle gespielt haben, mit denen er die acht gehenkten oder noch hinzurichtenden Verantwortlichen des Pazzi-Aufstandes an die Wände des Zollamts mit Stricken an Hals oder Füßen freskierte. Insbesondere die Gestalt des Erzbischofs von Pisa wurde von Seiten des Papstes als derartig verwerflich erachtet, dass die Abnahme dieses Freskos als Bedingung genannt wurde, um den zwischen Rom und Florenz entfesselten Krieg zu beenden. Es dürften all diese Eigenarten gewesen sein, die den Kunstagenten zu seiner Äußerung veranlassten.


Beweinung Christi, 1495

Dieses Bild Botticellis wurde bereits seit dem sechzehnten Jahrhundert durch zwei Mythen harmonisiert. Die wohl mächtigste war die rückwirkende Selbststilisierung der Arnostadt als eine utopisch gelungene Form der menschlichen Gemeinschaft. In der Tat hat sich im Florenz des 14. und 15. Jahrhundert eine Kultur aufgebaut, die wie kaum jemals zuvor oder danach das Verständnis und die Förderung von Kunst in das Zentrum der gesellschaftlichen Anliegen stellte. So gut wie sämtliche Lebenssphären, von der Haartracht, den Gesichtsfarben und dem Schmuck über die Kleidung zum Mobiliar und den teils bemalten Häuserwänden und zu den Reklameschildern und Fahnen waren anspruchsvoll gestaltet, und dies galt insbesondere für die Feste, Prozessionen, Turniere und Sportveranstaltungen. All dies gipfelte in den Werken der Musik, der Dichtung und der bildenden Kunst, die eine filigrane Gotik in die klassischen Regeln der Frührenaissance überführte. Jahr für Jahr pilgern Millionen von Menschen in die Arnostadt, um die Zeugnisse dieser über Generationen sich steigernden Entwicklung zu erfahren.


"Kettenplan"

Das "goldene Zeitalter" war nicht so friedlich, wie es schien

Diese Leistungen beeindrucken umso mehr, als die Zeiten keinesfalls so friedlich waren, wie es die politische Utopie eines „goldenen Zeitalters“ erscheinen lässt. Zu jedem Zeitpunkt waren mächtige Familien gezwungen, in das Exil zu gehen. So hieß es im Umkreis von Medici-Gegnern bereits im Jahr 1465, Florenz sei „ein Paradies, aber von Teufeln bevölkert.“ Die Verbitterung kam in Form der Pazzi-Verschwörung des Jahres 1478 zum Ausbruch, während der Lorenzo de' Medici, der ungekrönte König von Florenz, im Dom durch einen Stich im Hals verletzt wurde. Er kam mit dem Leben davon, sein Bruder Giuliano wurde ermordet.


Giuliano I. de' Medici (1453 - 1478), Italienischer Politiker und als Mitregent seines Bruders Lorenzo Stadtherr von Florenz, wurde 1478 bei der Pazzi-Verschwörung ermordet.

Die von Botticelli gemalte Serie von Bildnissen dieses Sprösslings der Medici hatten offenkundig den Sinn, die Auftraggeber in den Besitz von Memorialbildern des Getöteten zu bringen, um auf diese Weise ihre Treue zu den Medici bekunden zu können. Diese Bildnisse waren vermutlich eine Reaktion auf die Rachejustiz, mit der zahlreiche Verschwörer an den Fenstern des Regierungspalastes gehenkt wurden. Botticellis Schandbilder hielten diese Strafe zur ewigen Abschreckung fest.

Im Gegenzug wurde er nach dem Friedensschluss mit Sixtus IV. mitsamt der Crème der Florentiner Maler beauftragt, die Kapelle des Papstes im Vatikan durch einen Moses- und Christuszyklus auszustatten. Mit diesen Fresken der Sixtinischen Kapelle waren die Verschwörung und der sich anschließende Krieg zwischen Rom und Florenz spektakulär besiegelt.


Sixtinische Kapelle, Punizione dei ribelli, 1482

Botticelli malte für die jüngere Medici-Linie

Der zweite Mythos liegt darin, dass der Name der „Medici“ mit einer Aura der Eintracht versehen wurde, welche die inneren Kämpfe der Familienzweige überblendete. Aber bereits die „Primavera“ wie auch die einzigartigen, in Berlin befindlichen Illustrationen zu Dantes Göttlicher Komödie malte Botticelli keinesfalls für den herrschenden Familienzweig des Lorenzo de' Medici, sondern für Lorenzo di Pierfrancesco und damit für das Haupt der jüngeren Medici-Linie. Dieser war bereits in jungen Jahren als Alternative zu Lorenzo ins Spiel gebracht worden, und als die Hauptlinie durch Savonarola im Jahr 1494 aus Florenz vertrieben wurde, legte er den Medici-Namen ab, um gemeinsam mit seinem Bruder unter dem neuen Namen „Volksfreund“ (Popolano) zu dessen Partei überzulaufen. Michelangelo, der 1496 nach Rom wechselte, hielt über Botticelli und Lorenzo di Pierfrancesco Kontakt nach Florenz.

Thronende Maria mit dem Kind und den beiden Johannes (Bardi-Altar). Gemälde auf Pappelholz (1484/1485) von Sandro Botticelli [um 1445- 1510].

So umstritten sich Botticellis Parteinahme für Savonarola in der Forschung auch darstellt – in jedem Fall bezeugt das Londoner Gemälde der „Mystischen Geburt“ durch seinen neogotischen Stil und durch seine apokalyptische Inschrift jenes mentale Klima, das der ekstatische Bettelmönch in Florenz entfesselt hatte. Der Auftraggeber dieses Gemäldes war ein überzeugter Anhänger Savonarolas.

Der erste Biograph Botticellis, Giorgio Vasari, hat in diesem Zusammenhang ein erstaunliches Bekenntnis geäußert. Er verurteilt Botticelli zunächst dafür, dass dieser die Medici, die ihn entdeckt und berühmt gemacht hätten, durch seinen Übertritt zu ihren Feinden verraten habe; er sei ein veritabler „Parteigänger“ Savonarolas geworden. Dann jedoch spricht er ein Lob aus, das paradigmatisch für das Verhältnis zwischen Kunst und Politik werden sollte: „Das beste, was man von ihm sieht, ist der Triumph des Glaubens des Bruders Girolamo Savonarola aus Ferrara“. Das gerühmte Werk ist heute verloren, so dass Vasaris Urteil nicht überprüft werden kann. Es bleibt aber der Umstand, dass Vasari in einer Kultur, die von der Alleinherrschaft der Medici geprägt war, ein Gemälde lobte, das deren Todfeind verherrlichte. Durch die Qualität seiner Malweise hatte es Vasari zufolge alle politischen Prägungen und Fesseln hinter sich gelassen: die Kunst stand jenseits aller politischen Verrechnung.


Mystische Geburt

Die in der Berliner Gemäldegalerie wie auch im Kupferstichkabinett gesammelten Werke bieten ein unvergleichlich komplexes Bild all dieser Aspekte von Botticellis Werk. Berlin gelang es bereits im 19. Jahrhundert, eine der größten Sammlungen von Werken des Florentiner Malers zu erwerben. Durch den in der englischen Presse mit Empörung quittierten Ankauf der Sammlung des Kaufmannes Edward Solly im Jahr 1823 kamen Botticellis Hl. Sebastian, die Venus und die Madonna dei Candelabri in Berliner Besitz, und im Jahr 1828 gelangte der Bardi-Altar als ein Schlüsselwerk hinzu. 
Sandro Botticelli Der Hl. Sebastian, 1474.

1875 wurde das Bildnis einer jungen Frau erworben, und drei Jahre später gelangte das Profilporträt Giuliano de' Medicis als eine Art Pendant nach Berlin. Im Jahr 1882 wurden unter dem argwöhnischen Blick der internationalen Öffentlichkeit 88 der insgesamt 96 Zeichnungen Botticellis zu Dantes Göttlicher Komödie aus schottischem Besitz angekauft, und wiederum zwei Jahre später, 1884, kam das Gemälde der Maria mit Kind und acht Engeln als Dauerleihgabe aus dem Besitz von Graf Athanasius Raczynski in das Museum.


Il tondo Raczynski

Das hieraus sich ergebende Bild des Malers reichte von der antiken Mythologie über die christliche Ikonographie bis zu privaten und politischen Porträts sowie dem Komplex höchst verfeinerter, aber auch drastisch kolorierter Zeichnungen. Nicht nur die Zahl, auch die Themen und Malweisen dieser Werke machen Berlin neben Florenz zu einem besonderen Ort, an dem Sandro Botticelli in seiner widersprüchlichen Komplexität studiert und begriffen werden kann.

"Allzu biegsam" oder "männlich"?

Mit Aby Warburgs Dissertation zu den Venus-Darstellungen Botticellis aus dem Jahr 1892 wird der Beginn der modernen Kunstgeschichte verbunden. Trotz höchster Wertschätzung sprach Warburg von Botticelli als einem Maler, der bereits „allzu biegsam“ gewesen sei. Zwischen dieser Äußerung und der Einschätzung des Mailänder Kunstagenten, Botticelli verfüge über einen bemerkenswert „männlichen“ Stil, baut sich das Rätsel seiner Gestalten auf. Die Berliner Ausstellung, in ihrer Ausrichtung eine gänzlich neue Zuwendung zum Werk Botticellis, bezeugt die nicht enden wollende Faszination dieses Malers auf die Kunst der folgenden Jahrhunderte bis in unsere Zeit.


Venus und die drei Grazien, 1482

Im Spiegel dieser künstlerischen Deutungen kommt ein weitaus komplexeres Bild Botticellis zustande, als es seit dem neunzehnten Jahrhundert gepflegt worden ist. Es könnte den Anlass bilden, in einem weiteren Schritt das Leben und das Werk Botticellis endgültig nicht als einen gelebten Traum, sondern als eine Konfliktgeschichte zu schreiben, aus der die Kunst eine nochmals gesteigerte Dimension bezog.

Der Autor ist Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt Universität zu Berlin


Madonna vom Magnifikat, Ausschnitt

Nota. - Allzu biegsam? Da muss man nicht lange suchen - Sein heiligere Sebastian schlängelt sich so graziös an seinem Marterpfahl wie die Venus in ihrer Muschel, nicht zu reden von den schwebenden Jungfrauen und Sylphiden, die bis 1490 über seine Bilder tanzen. Und männlich - das war wohl schon im Vergleich gemeint mit dem Sfumato des gar nicht männlichen Leonardo, dessen Stern gerade über Florenz aufgegangen war; denn seine knabenhaften Engelsgestalten sind ja nur jung, aber doch nicht unmännlich...

Auch dieser Autor huscht über Savonarola nur so eben hin. Dass es ein Wendepunkt in Botticellis Privatleben war, wird ja keiner bestreiten wollen. Aber je mehr ich mir seine Bilder daraufhin beschaue, umso deutlicher glaube ich zu sehen, dass es auch ein Wendepunkt in seiner Malerei war. "Neugotisch" ist ein passendes Wort für die Mystische Geburt, nicht nur der 'Geist', sondern auch der Stil ist ein anderer geworden. Dass er sich allerdings nie auf Frühling und Venus festgelegt hatte, zeigt schon der sozusagen "vorbarocke" Leichnam des Holofernes. Jedenfalls erscheint mir durch diese Ausstellung Botticelli eigener, als zumindest ich bislang dachte, andre vielleicht auch.
JE




Freitag, 25. September 2015

Botticelli und Savonarola.

Die Verzweifelte, um 1495

Ungern reden die Kunsthistoriker über Botticellis Verhältnis zu dem Bußprediger Girolamo Savonarola, der ab 1490 Florenz beherrschte und eine blutige Diktatur der Tugend errichtete, und es fehlt auch in der gegenwärtigen Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie. Savonarola hatte die Medici aus der Stadt vertrieben und viele Werke ihrer Schützlinge auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Deren prominentester war Botticelli, und obwohl auch einige seiner Bilder verbrannt waren, schloss er sich Savonarolas Gemeinde der "Trauernden" an. Seither malte er nur noch Bilder geistlichen Inhalts. Er hielt Savonarola auch nach dessen Feuertod 1498 die Treue, eine Venus oder einen Frühling malte er nie wieder. 

Die Mystische Geburt, um 1500

Das, was er gemalt hat, hat sich geändert, und es konnte nicht ausbleiben, dass sich auch änderte, wie er gemalt hat.



Donnerstag, 24. September 2015

Botticelli-Renaissance in der Berliner Gemäldegalerie.

Die Venus von Andy WarholAndy Warhols Details of Renaissance Paintintgs (Sandro Botticelli, Birth of Venus,1482), 1984 

aus Tagesspiegel.de, 24. 9. 2015

Der Hype um Botticelli ist enttarnt
„The Botticelli Renaissance“ in der Berliner Gemäldegalerie wird garantiert zum Publikumshit. Und das, obwohl die Schau den Maler und seine Nachahmer entzaubert.

Von Nicola Kuhn

Diese Ausstellung hat das Zeug zum Skandal. Wer sie gesehen hat, dessen Botticelli-Bild ist erschüttert, und der Glaube an die Institution Museum gerät ins Wanken. Die Berliner Gemäldegalerie traut sich was. Das Wahre, Gute, Schöne – hier galt es bislang als gesichert.

„The Botticelli Renaissance“, der neue Coup nach der Erfolgsschau „Gesichter der Renaissance“ vor vier Jahren im Bode-Museum, ködert mit sechzig Werken des großen Meisters, mit hundert Anverwandlungen seiner Motive durch spätere Künstler wie Andy Warhol und Cindy Sherman – um am Ende Botticelli als eine der populärsten Figuren der Kunstgeschichte zu demontieren. Zuletzt bleiben gerade zwei gesicherte Werke übrig. Sie tragen die Signatur von Sandro di Mariano, dessen Benennung als Botticelli erst viel später hinzukam und für die Nachwelt zum Markennamen wurde. 


Geburt der Venus

Eine deprimierende Bilanz.

Ein Aufschrei müsste durch das Publikum gehen, die Leihgeber der vermeintlichen Botticellis müssten ihre Werke zurückverlangen, um sie vor einer solchen Entblößung zu schützen. Nichts von alledem wird geschehen. Dafür ist die Ausstellung zu schön, zu opulent, eine Augenweide noch das Medici-Porträt, bei dem nun sternenklar ist, dass es garantiert nicht von Botticelli stammt. Aber der Stachel sitzt im Fleisch, die Fragen bleiben: Wie konstituiert sich Bedeutung? Worauf springen wir an und warum? Welche Funktion hat das Museum, wenn es den Wahnsinn auch noch mit befördert? Oder wollen wir lieber doch die große Illusion?


Berliner Venus

In den Augen der Betrachter ist Botticelli Venus und Primavera

Botticelli eignet sich perfekt für solch brutale Entlarvung, er übersteht das ohnehin. Das Motiv der Venus, der Primavera hat sich längst verselbständigt, von der historischen Figur des Malers abgelöst. Wie desillusioniert die beiden Kuratoren Stefan Weppelmann und Ruben Rebmann sind, zeigt die banale Autofelge eines italienischen Herstellers als erstes Ausstellungsstück in der Rotunde der Gemäldegalerie, die den Namen des Meisters trägt. Steht er nun für Schönheit, Schnelligkeit, Italianità? Egal, er ist ein Verkaufsargument selbst für Fernseher, das Pony von Barbie. Werbung, Design, Mode, alle bedienen sich bei ihm. Lady Gaga trat 2013 in London im „Venus-Dress“ von Dolce & Gabbana auf.


Zur Premiere ihres Albums "Venus" trug Lady Gaga am 26. Oktober 2013 ein Kleid von Dolce & Gabbana mit Motiven der "Geburt der Venus" von Sandro Botticelli.

Hier setzt die Ausstellung an. Ausgehend von der aktuellen Wahrnehmung, der Auseinandersetzung zeitgenössischer Künstler tritt sie rückwärts die Zeitreise an und untersucht in ihrem ersten Kapitel, wie Maler, Bildhauer, Fotografen der Gegenwart auf Botticelli reagieren, dessen Wahrnehmung sich seit seiner Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert auf die Ikonen Venus und Primavera reduziert. Die Gemäldegalerie nimmt die Epigonen trotzdem ernst und räumt ihnen den Botticelli-Saal frei. Dort hängen Robert Rauschenberg, die ölig glänzenden Modells von David LaChapelle, die intuitiv wie Botticellis Schönheitsgöttin am Strand posierenden Teenies von Rineke Dijkstra auf grauem Samt, ausgeleuchtet wie sonst die Alten Meister.


David LaChapelle

Das ist kühn, unterstreicht die Benutzbarkeit des Vorbilds. Die Künstler bedienen sich seiner als Anspielung auf Schönheit und Natürlichkeit, um deren Korrumpierung vorzuführen. Valie Export und Ulrike Rosenbach bekämpfen Rollenklischees, indem sie das gesenkte Haupt, die flatternden Haare, die grazilen Posen in ihren Performances adaptieren. Vik Muniz dienen die Grazien zur Warnung vor Umweltsünden. Er collagiert mit alten Computern, Autositzen, Kabelrollen, Kordeln eine Geburt der Venus aus den Tiefen des Mülls. Alain Jacques lässt die Schönheitsgöttin mit einer Tanksäule verschmelzen, das Shell-Signet passenderweise in Höhe ihres Venushügels.


Ein Walross posiert als Geburt der Venus im Yokohama Hakkeijima Sea Paradise Aquarium in Yokohama im September 2015

"Botticelli Renaissance" in der Gemäldegalerie

Liegt es an Botticelli selbst, dass alles dünn bleibt, selbst zum Klischee wird? Die Ausstellung lässt den Betrachter allein mit dem Phänomen, nennt die Ursachen nicht. Eine Erklärung könnte Andy Warhol liefern, dieser Bilderbeschleuniger der Popart. Indem er die ikonischen Qualitäten der Venus übersteigert, entzaubert er auch schon die Mysterien des Sandro di Mariano: Warhol knallt noch mehr mit den Farben, betont härter die Linien, zoomt weiter an die ohnehin monumentale Figur heran. Die Flächigkeit im Gesicht, die Leere in den Augen tritt endgültig zutage. Sie wird zum Pin-up. Davon profitiert auch Ursula Andress als üppiges Bond-Girl, das 1962 im weißen Bikini dem Meer entsteigt. Das Filmstill aus „Dr. No“ ist in den Kanon der Kinogeschichte eingegangen.


Dante Gabriel Rossetti, Der Tagtraum, 1880

Dante Gabriel Rossetti, der Wiederentdecker Botticellis in Großbritannien, würde sich vermutlich im Grab umdrehen, bewunderte er doch gerade die natürliche Reinheit der Grazien. Er hatte 1867 für nur 20 Pfund das Porträt einer Dame („Smeralda Bandinelli“) gekauft und damit eine Renaissance des Künstlers ausgelöst, der in den letzten 200 Jahren vergessen war. Dieser Wiedergeburt widmet sich der zweite Ausstellungsteil und prunkt auch hier mit Leihgaben nicht nur der Präraffaeliten, die sich auf Botticelli als Leitfigur beriefen. Die elegischen Schönheiten von Rossetti, die kühlen Frauenfiguren von William Morris und Edward Burne-Jones, die sinnlichen, blond gelockten Akte von Walter Crane und Evelyn de Morgan wären ohne Botticelli kaum denkbar.


Edward Burne-Jones, Die Fabrik, 1870

In dieser Phase beginnt der große Hype um den Renaissance-Maler: In den Uffizien werden die neuen Publikumslieblinge „Geburt der Venus“ und „Primavera“ ins Zentrum gerückt. Der Kult um das klassische Schönheitsideal, die Bewunderung für die fließenden Gewänder und die ätherischen Bewegungen breitet sich innerhalb kürzester Zeit aus. Botticelli findet leibhaftige Nachahmerinnen wie Lady Lavery, die Lady Gaga des frühen 20. Jahrhunderts. Bei gesellschaftlichen Anlässen tritt sie im blumenbesetzten Kostüm der Flora auf und wird damit prompt im Society-Journal „The Sphere“ ganzseitig abgebildet. Die ModernDance-Begründerin Isadora Duncan orientiert sich mit ihren tänzerischen Bewegungen, umweht von Schleiern, am Reigen der Grazien.


The Orchard, 1890 by William Morris, John Henry Dearle and others

Nicht nur in Großbritannien und bei den Nazarenern in Deutschland schlug sich der Botticelli-Boom nieder, auch die französischen Künstler erfasste der Rausch, wie die Berliner Ausstellung erstmals zeigt. Edgar Degas, Jean-AugusteDominique Ingres und Gustave Moreau pilgerten in die Uffizien, um dort Zeichnungen nach dem Vorbild des Meisters anzufertigen. Die heute im Musée d’Orsay hängende „Geburt der Venus“ von William Bouguereau drückt die ganze Bewunderung aus: die gleichen wehenden Haare, die gleichen Verkürzungen, die gleiche Untersicht.


William Bouguereau, Geburt der Venus, 1879

Im dritten Schritt erst gelangt die Ausstellung zu ihren Quellen, und damit wird es ernst. War das Original bisher nur durch seine Interpretationen gefiltert zu sehen, so öffnet sich nun das Tor zur Renaissance selber. In Hans-Jörg Hartungs Ausstellungsarchitektur für die Wandelhalle der Gemäldegalerie ist dies buchstäblich zu erleben. Erstmals wird das gigantische Entree für die Alten Meister komplett umgewandelt und Walter de Marias Brunnen zum Verschwinden gebracht. Der Besucher stößt zunächst auf eine schwarze Schieferwand, in deren Zentrum ein goldener Rahmen von Karl-Friedrich Schinkel prangt. Das Tondo „Maria mit dem Kind“ von 1485/95 aus dem Kaiser-Friedrich-Museum ist 1945 verbrannt. Diese riesige Leerstelle intoniert, was auf den nächsten Metern geschieht. Rechts und links entlang des gewaltigen Schiefer-Kubus werden knapp sechzig Gemälde hintereinander ins kalte Licht gehängt, als wären sie beim Beschauer.

Sandro Botticelli, Portret of a Youth, ca. 1482-85

Erkennt der Besucher den Zauber des wahren Botticelli?

Selbst der Laie bemerkt sofort, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht. All die Madonnen, Engel, porträtierten Damen und Herren können kaum aus der Hand eines einzigen Künstlers stammen. Es sind Zuschreibungen, teilweise Fälschungen, manches seit Jahrzehnten ins Depot verbannt. Nach der Tour de Force rückwärts durch die Jahrhunderte soll der Besucher nun erkennen, welches Gemälde die Aura eines Meisters besitzt und welches nicht. Mit dieser Entzauberung, der Gleichstellung von gelungenen und weniger gelungenen Werken, die im besten Fall aus dem 15. Jahrhundert stammen, werde der wahre Sandro di Mariano offenbart, dem Betrachter zurückgegeben, sind die Ausstellungsmacher überzeugt. Erkennt man es wirklich? Ein Trugschluss.


Edgar Degas 1859

Der Hype um Botticelli ist enttarnt, der Ursprung der Begeisterung im 19. Jahrhundert verortet, der Künstler selbst aber tritt weiter zurück denn je. Die beiden einzigen nachweislich von seiner Hand stammenden Bilder, besiegelt durch die Signatur – die „Mystische Geburt“ aus der National Gallery in London und die Zeichnung zu Dantes „Göttlicher Komödie“ aus Berlin – werden pathetisch im rotwandigen Inneren des Schiefer-Kubus präsentiert. Die Last der später nachfolgenden Adaptionen zu tragen, kann ihnen nicht gelingen, die Kraft, Maßstab für das zuvor Gezeigte zu sein, besitzen sie kaum. Das große Finale versackt, ein Meister geht in die Knie. Das Museum stellt seine Bestimmungshoheit zur Diskussion. Und befeuert doch den Hype, den es hinterfragt.


Walter Crane The Renaissance of Venus 


Nota. - Nazarener und Präraffaeliten in einem Atem? Frau Kugler! Wegen sowas fällt man bei der Prüfung durch. Botticelli und Bouguereau? Seh'n Sie genau hin, dann erkennen Sie, dass die Gegenbewegung der Präraffaleliten ohne solche Abscheulichkeiten wie die von Bouguereau gar nicht möglich geworden wäre; wenn die sie auch nicht entschul-digen können.
JE


Mittwoch, 23. September 2015

Ist die Gotik eine Erfindung des 19. Jahrhun-derts?

aus nzz.ch, 22.9.2015, 05:30 Uhr

Der frisch renovierte Berner Münsterturm
Konstruktion der Moderne
Der im 19. Jahrhundert vollendete Berner Münsterturm wurde jüngst erstmals restauriert. Das Vorhaben rückt die enge Beziehung der Architektur des 20. Jahrhunderts zu jener der Gotik in den Fokus.

von Tobias Erb

Erstmals seit Jahren zeigt sich die Turmspitze des Berner Münsters frei von flächigen Baugerüsten; und nach der Demontage der letzten zur Sanierung der Innenräume verbliebenen Plattformen im kommenden Jahr wird sich der gesamte Turm wieder ganz ohne Baugerüste zeigen. Die Restaurierung der Turmspitze in 100 Meter Höhe liess dem Baudenkmal und seiner Pflege eine breite Öffentlichkeit zuteil werden. Die Entstehung des die Ansicht der Stadt Bern prägenden Spitzhelms im 19. Jahrhundert wurde dabei bisher erstaunlicherweise kaum thematisiert. Vor Beginn der 1893 vollendeten Bauarbeiten ...

Die NZZ hat mir rückwirkend die Verbreitung ihrer Inhalte untersagt. Ich werde sie nach und nach von meinen Blogs löschen 
Jochen Ebmeier 



Bern, Altstadt mit Münster




Lausanne, Kathedrale


Ulmer Münster 1887
.


Ulm, Münster heute




Kölner Dom 1851



Viollet-le-Duc, St. Denis de L'Estrée in St. Denis


Karl Indermühle, Schulhaus Stapfenacker, Bern



Berner Münster, Tympanon überm Hauptportal

Nota. - 1Dass er seinen Stoff beherrscht, zeigt ein Autor am besten durch schlichte Wortwahl. 2. Ich für mein' Teil werde künftig den Ausdruck "die Moderne" zu vermeiden suchen. 3. Viollet-le-Ducs bekannteste Werke sind der Neuaufbau von Carcassonne, des Papstpalastes in Avignon und der Abteikirche von Vézelay. Er hatte viel Phantasie, doch nirgends hat er ihr so frei die Zügel schießen lassen wie im Schloss Pierrefonds nordwestlich von Paris. - Er hat im Übrigen auch den Vierungsturm auf der Kathedrale von Lausanne [s.o.] restauriert.
JE


Dienstag, 22. September 2015

Caravaggios Amor in Wien.























aus Die Presse, Wien, 17. 9. 2015

Caravaggios „Schlafender Amor“: 
Aber wehe, wenn er geweckt!
Das Kunsthistorische Museum hat einen so eigenartigen wie prominenten Gast in der Gemäldegalerie: Aus Florenz kam Caravaggios „Schlafender Amor“.

von Almuth Spiegler

Süß, denkt man sich erst. Ein schlafendes Bübchen, ein schlummernder Amor-Putto, semi-erotisch aufgebettet. Sie haben ja keine Ahnung! Schon das Gesicht ist gar nicht so süß, wie man annehmen könnte, es schaut eher aus wie das Ekel in der Kindergartengruppe. Irgendwie ist man froh, dass es schläft. Ein Vorzeichen! Das Kunsthistorische Museum hat eigenartigen Besuch: Caravaggios „Amor“, ein Spätwerk von 1608, wurde gegen Tizians „Lucretia“ getauscht – sie wankte nach Florenz in den Palazzo Pitti, er kam stattdessen angeflattert. Bis 1. Dezember schläft er in einer schwarzen Koje im Caravaggio-Saal der Gemäldegalerie, recht unbeeindruckt davon ist gleich nebenan die eingesessene Caravaggio-Riege des Hauses, die Rosenkranz-Madonna und der David, der das Haupt des Goliath hält.

Die „Dornenkrönung“ ist auf Tournee in den USA, so kam Gemäldegalerie-Direktor Stefan Weppelmann auf die Idee, für „Ersatz“ zu sorgen. Der Tausch erinnert an die historisch-freundschaftlichen Beziehungen der Sammlungen Wien und Florenz: Ab 1792 tauschten die Habsburger, Kaiser und Großherzog, Bilder, um Lücken ihrer Sammlungen zu schließen. Caravaggio war keiner darunter, der Wüterich unter den Malern war ein Star für sich. Schon zu Lebzeiten, als er gehetzt durch die Lande zog und sich von einer Schlägerei in die nächste stürzte. So musste er 1606 aus Rom fliehen und kam über Neapel nach Malta. Hier wurde er 1608 zum Ritter des Malteserordens geschlagen.
Eine (kurzfristige) Ehre, die mit der Entstehung des „Schlafenden Amors“ im selben Jahr in direktem Zusammenhang steht. War es ein Geschenk? Ein Auftrag? Oder gar Bestechung? Jedenfalls befand sich das Bild im Besitz des Sekretärs des Großmeisters der Malteser. Viel Glück hat dieses Geschäft dem Maler allerdings nicht gebracht – nur wenig später saß er wieder im Gefängnis, er floh, ein allerletztes Mal, nach Sizilien.
Umstrittenes Leben, umstrittenes Werk

Zwei Jahre später war er begnadigt, aber auch schon tot, gestorben bei der Rückreise nach Rom 1610. Nur fünf Bilder malte er noch nach dem Amor. Wie viele insgesamt in seinem nur 39-jährigen Leben? Das ist umstritten – um die 90 heißt es, davon sind aber nur rund 30, 35 unumstritten (zu denen der „Amor“ wie auch die drei Wiener KHM-Bilder zählen), so Weppelmann. Ähnlich umstritten ist Caravaggios Privatleben – war er schwul? Kam daher so manch offenherzige „Amor“-Darstellung? Nein, meint Caravaggio-Experte Wolfgang Prohaska, der den Sammlungskatalog der Caravaggisten im KHM erarbeitete (mit Gudrun Swoboda). Warum aber malte Caravaggio dann einen schlafenden Amor für einen Malteser Ordensmann? Ausgerechnet?
Der siegreiche Amor
Eine gefinkelte Angelegenheit. Die Malteser Ritter hatten zölibatär zu leben. Woran der schlafende Amor den guten Chef-Sekretär Francesco dell'Antella wohl sanft erinnern sollte. Was für eine Symbolik! Die Zeit hat ihres dazu getan, dass sich das pagan-fromme Motiv zu einem zynischen steigerte. Erstens heißt schlafend ja nicht tot, Amor könnte jederzeit erwachen, sich die Pfeile und den schlaffen Bogen an seiner Seite schnappen – aus wär's mit der Enthaltsamkeit.
Der schlechte Erhaltungszustand des Bildes verschärft die drohende Gefahr noch: Die schwarzen Flügel, auf denen Amor ruht, sind praktisch im dunklen Bildhintergrund verschwunden. So wirkt der weißgefiederte Rand seiner rechten Schwinge wie eine Feder, die gerade herniederschwebt – um ihn an der Nase zu kitzeln. Seine Erweckung scheint also recht absehbar. Was für ein Danaer-Geschenk, Palazzo Pitti! Mille Grazie.
Kunsthistorisches Museum Wien, bis 1.12.
Gianbattista Caracciolo, Schlafender Amor, 1618