Mittwoch, 18. November 2015

Postromantische Schwüle.


Tristanakkord

— Es war in der That damals die höchste Zeit, Abschied zu nehmen: alsbald schon bekam ich den Beweis dafür. Richard Wagner, scheinbar der Siegreichste, in Wahrheit ein morsch gewordener, verzweifelnder Romantiker, sank plötzlich, hülflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze nieder… Hat denn kein Deutscher für dieses schauerliche Schauspiel damals Augen im Kopfe, Mitgefühl in seinem Gewissen gehabt? War ich der Einzige, der an ihm — litt? 

Genug, mir selbst gab dies unerwartete Ereigniss wie ein Blitz Klarheit über den Ort, den ich verlassen hatte, — und auch jenen nachträglichen Schrecken, wie ihn Jeder empfindet, der unbewusst durch eine ungeheure Gefahr gelaufen ist. Als ich allein weiter gieng, zitterte ich; nicht lange darauf, und ich war krank, mehr als krank, nämlich müde, aus der unaufhaltsamen Enttäuschung über Alles, was uns modernen Menschen zur Begeisterung übrig blieb, über die allerorts vergeudete Kraft, Arbeit, Hoffnung, Jugend, Liebe; müde aus Ekel vor dem Femininischen und Schwärmerisch-Zuchtlosen dieser Romantik, vor der ganzen idealistischen Lügnerei und Gewissens-Verweichlichung, die hier wieder einmal den Sieg über Einen der Tapfersten davongetragen hatte; müde endlich, und nicht am wenigsten aus dem Gram eines unerbittlichen Argwohns, — dass ich, nach dieser Enttäuschung, verurtheilt sei, tiefer zu misstrauen, tiefer zu verachten, tiefer allein zu sein, als je vorher. 

Meine Aufgabe — wohin war sie? Wie? schien es jetzt nicht, als ob sich meine Aufgabe von mir zurückziehe, als ob ich nun für lange kein Recht mehr auf sie habe? Was thun, um grösste Entbehrung auszuhalten? — Ich begann damit, dass ich mir gründlich und grundsätzlich alle romantische Musik verbot , diese zweideutige grossthuerische schwüle Kunst, welche den Geist um seine Strenge und Lustigkeit bringt und jede Art unklarer Sehnsucht, schwammichter Begehrlichkeit wuchern macht. 

„Cave musicam“ ist auch heute noch mein Rath an Alle, die Manns genug sind, um in Dingen des Geistes auf Reinlichkeit zu halten; solche Musik entnervt, erweicht, verweiblicht, ihr „Ewig-Weibliches“ zieht uns — hinab! Gegen die romantische Musik wendete sich damals mein erster Argwohn, meine nächste Vorsicht; und wenn ich überhaupt noch etwas von der Musik hoffte, so war es in der Erwartung, es möchte ein Musiker kommen, kühn, fein, boshaft, südlich, übergesund genug, um an jener Musik auf eine unsterbliche Weise Rache zu nehmen. —
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Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Band II, 2. Ausgabe, Vorrede, N° 3



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