Samstag, 7. November 2015

Semiologie, oder Das Reinästhetische gibt es gar nicht.

Gf. Goertz, Roventa-Toaster
aus nzz.ch, 7. 11. 2015

Roland Barthes, der Spurenleser und Mythenjäger
Der gute Wein und die Machenschaften des Sinns
Am kommenden 12. November würde der Literaturkritiker und Philosoph Roland Barthes hundert Jahre alt. Er beherrschte die Kunst, Alltagsphänomene zu «lesen» und Selbstverständlichkeiten als Mythen zu entlarven.

von Peter Geimer

Peter Geimer ist Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin. 2013 ist sein Buch «Derrida ist nicht zu Hause. Begegnungen mit Abwesenden» erschienen (bei Philo Fine Arts, Hamburg).


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Jochen Ebmeier 


Nota. - Bedeutend ist alles, was mich veranlassen kann, mein Verhalten zu ändern. Ästhetisch ist alles, was mir, ohne dass ich ein Interesse daran hätte, gefällt (oder missfällt). Alles, woran ich Interesse habe, veranlasst mich, mein Verhalten so oder anders einzurichten: Das macht eben mein Interesse aus. Ästhetisch wären Erscheinungen, die mir nichts bedeuten (und doch meinen Beifall oder mein Missfallen finden). 

Der Semiologe will sagen: Erscheinungen, die nichts bedeuten, gibt es gar nicht. Das heißt aber nur: Man kann alles, was erscheint, als ein Zeichen lesen - etwas, das für ein Anderes steht; und das ein Anderer gesetzt hat mit Absicht. Die Absichten der Andern sind allerdings etwas, das geeignet ist, mein Verhalten zu verändern. In überkomplexen postindustriellen Zivilisation kommt mir nur wenig vor, das nicht irgendwer mit Absicht so und nicht anders gemacht hat. Vielleicht nicht Wind und Wetter, aber die sind mir von sich aus bedeutend und verändern meine Absichten.

Will sagen, in weniger komplexen Gesellschaftszuständen begegneten den Menschen viel mehr Dinge ohne Absicht als heute; sie hätten sie um ihrer selbst willen betrachten (und ihrem Beifall und Missfallen aussetzen) können. Haben sie es getan, haben sie es gewollt? Wer genügend Muße hatte, vielleicht. Aber je komplexer die gesellschaftliche Arbeitsteilung wurde, auf umso mehr fremde Absichten mussten sie sich einstellen, sich daran gewöhnen, Zeichen zu deuten und rechtzeitig ihr Verhalten darauf einzustellen. Das Interpretieren von Zeichen wurde zur unumgänglichen Gewohnheit, eine tiefenpsychologische Schule hat darin einen sprudelnden Einkommensquell aufgetan. Ohne deren Verheerungen im öffentlichen Bewusstsein wäre Roland Barthes nicht auf seine Manie verfallen. Sie gehörte zu den drei, vier großen Mythen des 20. Jahrhunderts.

Man muss nämlich nicht alles als Zeichen deuten. Man kann es bleiben lassen. Richtig ist allerdings, mit zunehmender Komplexität der Lebenswelt braucht es immer größere Entschlossenheit, sich die semiotischen Anmutungen vom Leib zu halten und die Dinge ohne Interesse anzuschauen. Der ästhetische Zustand kommt immer seltener von allein. Aber umso begehrter wird er vielen.
JE


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