Montag, 5. September 2016

Der Blaue Reiter in der Fondation Beyeler.


aus Badische Zeitung, 5. 9. 2016                                                                        Wassily Kandinsky, Fuga 1914

Himmlische Kuh, fliegende Formen
Befreite Dynamik und Farbenduft: Die Ausstellung "Kandinsky, Marc & Der Blaue Reiter" in der Fondation Beyeler.

von Volker Bauermeister

Der hundertste Geburtstag liegt noch nicht so lang zurück. Im Mai 1912 war "Der Blaue Reiter" in München erschienen. Ein Buch von Künstlern über Kunst, das eigentlich eine Reihe eröffnen sollte – und doch keine Nachfolge fand. Der Almanach "Der Blaue Reiter", Bilderbuch und Textsammlung, ist dabei wohl die prominenteste Programmschrift der künstlerischen Moderne. Ein paar Monate vorher schon, im Dezember 1911, war eine von der "Redaktion des Blauen Reiters" organisierte Ausstellung in der Münchner Galerie Thannhauser zu sehen. Die Akteure und Redakteure Wassily Kandinsky – der weitgereiste, vom Juristen zum Maler mutierte Russe – und Franz Marc stellten sich mit Freunden und Pariser Wahlverwandten vor. Die Ausstellung jetzt in der Fondation Beyeler in Riehen konzentriert sich aufs Duo Kandinsky und Marc.

Die "Animalisierung"der Kunst

"Der Blaue Reiter" war keine Künstlergruppe wie die Dresdner "Brücke": vielmehr ein Exempel expressionistischer Ideengeschichte. In der Sammlung von Ernst Beyeler spielt dies an sich keine Rolle. Beyeler sparte den Expressionismus aus, bezog aber Kandinsky, gerade mit Arbeiten der Münchner Periode, als Pionier der Abstrakten Kunst in sein sammlerisches Kalkül mit ein. Kandinskys "Improvisation 10" von 1910, die er in den 1950er Jahren in seiner Basler Galerie verkaufte und sich ins Wohnzimmer hängte, nachdem er sie zurück gekauft hatte, ist eine Keimzelle der Kollektion.

Franz Marc, Stallungen, 1913

Ein Bild, das in seiner befreiten Dynamik exakt an der Schwelle einer nicht mehr vom Gegenstand diktierten Malkunst steht. Benennbare Dinge spielen für Kandinsky nur mehr am Rand eine Rolle. Ein Regenbogen erscheint, ein altes Hoffnungszeichen. Eine Sammlung roter Kuppeln ist vielleicht eine Anspielung auf sein geliebtes Moskau. Den Farben gibt er eine Wirkmacht, die er zur selben Zeit in seiner Schrift "Über das Geistige in der Kunst" zu analysieren versucht. Die ausgekoppelte Grafik zieht sehnige Kurven.


Kandinsky, Improvisation 10

Farbe und Zeichnung bewähren sich als Ausdrucksmittel. Das oberbayrische Murnau war ein Ort der Anregung und praktischen Übung in der Richtung. Die durchdringend klaren Farben des Voralpenlandes gaben selbst auch den Träumereien Kandinskys von Rittern und Reitern eine ungeahnte Frische. Gabriele Münter, seine Partnerin in den Jahren, lernte bei Alexej Jawlensky, dem andern Russen im München-Schwabinger Kreis, den Landschaftsraum aus farbigen Feldern zu synthetisieren – und erkannte die Farbpoesie als ihren Part. Die Beyeler-Ausstellung setzt mit dem Murnaukapitel ein. Sie zeigt, wie man aus dem, was man wahrnimmt, herauszieht, was einen bewegt: den "inneren Inhalt", wie es im Almanach heißt. Einfühlsam malt Marc im nahen Sindelsdorf Pferde. 


Marc, Pferd in Landschaft 1910

Über einen schön gebogenen Pferdehals lässt er den Blick in die Landschaft gleiten und das Motiv dergestalt mit dem Bildraum verschmelzen. Er spricht von "Animalisierung" der Kunst und sucht im Tierbild eine im Menschenleben verloren geglaubte "Einheit des Seins". Als Hauptstück sind die "Die großen blauen Pferde" jetzt aus Minneapolis gekommen. Schwellende Kumulusleiber. Die Pferde quellen wie die Schönwetterwolken über dem Murnauer Berghorizont. Physische Präsenz ist in die blaue Farbe der Ferne getaucht. Koinzidenz von Raum und Figur im Namen eines gedachten Ganzen.


Marc, Die großen blauen Pferde, Minneapolis

Als wahrhaft tonnenschweres Ereignis führt Marc eine gelbe Kuh ins Feld. In der Leinwand, in die sie hinein prescht, hält sie ein Gitter aus Bäumen. Ihre Bildmacht lässt an die altägyptische Himmelskuh denken. Weltbilder sind diese Arbeiten ja allesamt. Die romantisch erträumte Rückkehr des unglücklich versprengten Ichs in einen Weltgrund will das Bild des (in sich) ruhenden Tiers spiegeln. Doch geht der idyllische Klang Marc bald verloren. Schon beim "Reh im Walde" setzt ein Baumstumpf einen Schnitt. Widerstreitende Formen greifen um sich. Kampfmetaphern setzten sich durch. Auch wird dem begeisterten Tiermaler die Optik zunehmend abstrakt verfremdet.


Marc, Die gelbe Kuh 1911

Kandinsky, der die Murnaulandschaft mit flüchtig zitiertem Kirchturm und Sonnenblumen zum polyphonen Farbereignis gestaltet hatte und begann, im Ausdruckstanz der Formen ausufernde Dramen zu choreographieren, war damit zum Anlass einer neuen Sezession geworden. Die Gefährten in der Münchner Neuen Künstlervereinigung hatten seine abstrakte "Komposition V" abgelehnt, ausjuriert. Die geplante Gruppenschau fand dann ohne Kandinsky, Marc und Münter statt, die zur selben Zeit am selben Ort – der Galerie Thannhauser – spontan in jener Gegenausstellung auftraten, die den Namen "Der Blaue Reiter" allererst öffentlich machte. Kandinsky hatte die Spaltung kommen sehen. Seine in anspruchsvollen "Kompositionen" manifestierte Bildkunst war ästhetisch brisant. Titel und Untertitel spielten nicht von ungefähr auf mythische Momente der Wende an. "Jüngstes Gericht" nannte er seine "Komposition V", deren Stelle bei Beyeler nun gewissermaßen die kapitale "Komposition VII" einnimmt.


Kandinsky, Komposition V, 1911

Dem Bildraum ist da der Boden glatt entzogen. Kandinsky erlaubt sich, was die gefühlte "innere Notwendigkeit" fordert. Dies ist für ihn ein Schlüsselwort. Ein Bild soll von nun an in der Wirklichkeit der Empfindung begründet sein. In nichts anderm. Dies will bedeuten: keine festen Gefüge mehr, nur noch "Vibration" und unermessliche Weite. Nicht enden wollende Erregung. Das ins Geschehen verwickelte Betrachterauge bringt so ein Bild kaum mehr in eins. Bei seiner zukunftsfrohen Befreiung vom Gegenstand liebäugelt Kandinsky mit der immateriellen Schwesterkunst: der Musik. Die spielt auch im Buch keine Nebenrolle.



Kandinsky, Komposition VII, 1913

Und überhaupt zeichnet dies ein weit greifendes, frappierend weltoffenes Muster der Bezüge. Die Suche nach dem authentischen, vom Ich aus bestimmten Bild – nach der "Wiedergeburt unseres Kunstfühlens", wie Marc an den Freund August Macke schreibt: Sie lässt mit aller Gewohnheit brechen. In den zahlreichen Abbildungen inszeniert der Almanach die glückliche Entgleisung des Blicks. Er stellt ins Zentrum, was ästhetisch als unwichtig und unwürdig galt. Volkskunst in Gestalt von bäuerlichen Hinterglasbildern, außereuropäische, sogenannte primitive Bildwerke, Kinderzeichnungen und Gemälde vom "Zöllner" Rousseau. In den Parcours bei Beyeler hat Kurator Ulf Küster ein Kabinett eingebaut, das – dicht gefüllt – im Original vergegenwärtigt, was das Buch reproduziert: was es zu einer neuen Definition von Bildmacht und künstlerischer Wahrhaftigkeit beiträgt.

Entgleisung des Blicks

Und wer mit der von Kandinsky beschworenen "großen geistigen Epoche" wenig anfangen kann, mit der Erlösungssehnsucht, dem idealistischen Kampfjargon des Almanachs, dem bleiben noch immer die bildnerischen Schlüsse der Maler. Man spürt ohne Zweifel, selbst wenn einem die Ideologie der Innerlichkeit und der Weltbeglückung fremd bleibt, den Enthusiasmus, die in den Bildern entfesselte Vitalität. "Starke Äußerungen starken Lebens", um es mit dem jungen "Reiter" und Mitautor August Macke zu sagen, sind das Resultat der künstlerischen Exkursion unter der Chiffre des "Blauen Reiters".


Kandinsky, Der blaue Reiter, 1903

August Macke, dem der Predigtton des Theoretikers Kandinsky am Ende missbehagte, ist mit seinen Spaziergängern im Wald, in den Blumen und im Farbenduft in der Fondation in einem Raum präsent. Wer Augen hat, zu sehen, der steht dem Paradies manchmal nicht fern. So verstehen wir ihn. Auch dies ist ein malerisches Credo.

Fondation Beyeler, Riehen/Basel. Bis 22. Januar, täglich 10–18, Mi bis 20 Uhr.


August Macke, Landschaft am Tegernsee






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