Kunstmuseum Basel zeigt Zeichnungen und Aquarelle Cézannes
Die Freiheit des Zeichners
von Hans Dieter Fronz
von Hans Dieter Fronz
Denkt man an Paul Cézanne (1839–1906), so treten spontan die Gemälde vors innere Auge. Die viel seltener ausgestellten Arbeiten auf Papier führen demgegenüber auch in unserem Bildgedächtnis ein Schattendasein. Man weiß heute von rund 950 Zeichnungen und Aquarellen; vermutet werden weit mehr. Das Kupferstichkabinett im Kunstmuseum Basel besitzt allein 154 Papierarbeiten – soviel wie keine andere Sammlung. Weil 75 Blätter auf beiden Seiten Zeichnungen aufweisen, kann das Museum genau genommen 229 Zeichnungen sein eigen nennen. Wie die anderen Papierarbeiten stammen sie zum weit überwiegenden Teil aus Skizzenbüchern, von denen nur wenige einigermaßen intakt zu uns gekommen sind.
Bord du lac d'Annecy 1896
So wurden aus 15 der 21 heute bekannten Skizzenbücher nach Cézannes Tod Blätter herausgelöst, einzeln verkauft und in alle Winde verstreut. Die Basler Blätter lassen sich diesen mehr virtuell existierenden Skizzenbüchern weitgehend zweifelsfrei zuordnen. Drei Skizzenbücher sind nach dem Standort des jeweils größten Konvoluts am Rheinknie benannt. So befinden sich mehr als die Hälfte der ursprünglich wohl gut fünfzig Blätter des Skizzenbuchs Basel III im Besitz des Kupferstichkabinetts. Einzigartig ist der Basler Zeichnungsbestand hinsichtlich der stilistischen und motivischen Vielfalt der Blätter: von Porträts und Figurendarstellungen über Landschaften bis zu Stillleben.
Das Château Noir und das Gebirge Sainte-Victoire
Die Ausstellung "Der verborgene Cézanne. Vom Skizzenbuch zur Leinwand" im Neubau des Kunstmuseums holt die Papierarbeiten jetzt in ihrer Gesamtheit ans Licht; die Blätter mit Zeichnungen auf beiden Seiten lassen sich in räumlicher Präsentation beidseitig betrachtet. Den Papierarbeiten gesellen sich fünf der sechs Ölgemälde des Kunstmuseums zu (das "Porträt Antoine-Fortuné Marion" befindet sich zurzeit in einer Ausstellung in Paris); des weiteren rund fünfzig Zeichnungen und Gemälde aus anderen Sammlungen.
Die Badenden (Vorderseite)
Zuletzt ausgestellt waren die Zeichnungen vor einem Vierteljahrhundert. Materialtechnische Untersuchungen erbrachten zwischenzeitlich neue Ergebnisse und manche Korrektur in der Zuordnung zu den Skizzenbüchern. Doch nicht diese Erkenntnisse waren Anlass für die Schau. Vielmehr liefern die Zeichnungen im Hinblick auf das Gesamtwerk wichtige Aufschlüsse über den Schaffensprozess im Schritt von der Bleistift- zur Pinselzeichnung und zum Gemälde. Die verwandelnde Umsetzung des Motivs bei Cézanne scheint derzeit auch sonst ein wichtiges Thema zu sein. So führt die für den Herbst angekündigte Große Landesausstellung der Kunsthalle Karlsruhe die Entwicklungsdynamik des Œuvres schon im Titel: "Cézanne. Metamorphosen"
Männlicher Akt und Kopf eines Jungen (Rückseite)
Der Erwerb der Basler Blätter Mitte der 1930er-Jahre ist ein ebenso interessantes wie ruhmreiches Kapitel der Sammlungsgeschichte des Kunstmuseums. Aufgrund fallender Preise für Gemälde infolge der Weltwirtschaftskrise wurden vermehrt Zeichnungen aus dem Nachlass zum Verkauf angeboten – man könnte auch sagen: verscherbelt. Nach anfänglichem Zögern sprach sich die Basler Kunstkommission für den Kauf von 141 angebotenen Zeichnungen aus. Der konnte schließlich mit Unterstützung von privater Seite getätigt werden. Damit war das Kunstmuseum die erste Institution, die in großem Umfang Zeichnungen erwarb – und so ihrer weiteren Verstreuung vorbeugte.
Bäume am Fluss
Oft wurden die herausgelösten Blätter vor der Veräußerung an den Rändern beschnitten, ja zerteilt, um einen höheren Kaufpreis zu erzielen. Schon Cézanne ging mit seinen Skizzenbüchern wenig zimperlich um. Manche führte er, um sie jederzeit zur Verfügung zu haben, jahrelang in der Manteltasche mit sich. Die Blätter, nicht weniger Bücher, weisen Spuren der Verunreinigung auf wie ölhaltige Flecken oder Farbspritzer. Ein Skizzenbuch nagelte er kurzerhand an die Wand.
Gipscupido
Man darf Cézannes Zeichnungen, für die ein Kunsthistoriker einmal das einprägsame Wort vom "Rückgrat der Malerei" fand, als eine Art künstlerisches Tagebuch betrachten – mit intimen nicht nur künstlerischen Einträgen bis hin zu Briefentwürfen oder Rechnungen. Für Anita Haldemann, Leiterin des Kupferstichkabinetts und Kuratorin der Schau, ermöglichen sie als Blick über die Schulter des Künstlers intime Einsichten in den Schaffensprozess. Sie zeigen gleichsam den privaten Cézanne. Die feinnervige Fragilität der Lineatur eines Selbstporträts etwa hätte sich Cézanne in einem "offiziellen" Selbstbildnis in Öl so wohl nicht gestattet.
Nature morte au cupidon de plâtre, 1895
Viele Blätter zeigen auf ein und derselben Seite ganz unterschiedliche Sujets – eine Prunkvase neben Figurenstudien, ein Detail nach Delacroix über einer Brückenansicht. Sie enthalten Vorstudien für eigene Gemälde so gut wie Studien nach alten Meistern – Veronese etwa, Raffael oder Michelangelo, für die Cézanne häufig in den Louvre ging. Den "Ruhenden Herkules" des französischen Barockbildhauers Pierre Puget zeichnete er aus verschiedenen Perspektiven – und in den Proportionen wenig realistisch. Was keineswegs ein Indiz zeichnerischen Unvermögens ist: Wie frühe Blätter belegen, beherrschte Cézanne die akademischen Standards vollkommen.
Titel?
Der freiere Strich seit Ende der 1850er-Jahre ist vielmehr Ausdruck künstlerischer Autonomie – einer inneren Gelöstheit oder zeichnerischen désinvolture (ungezwungenen Haltung), die man in den fließenden Linien und sich auflösenden Konturen der Studien für das Ölgemälde "Bathseba" impressionistisch nennen möchte. Dem "deformierten" Herkules der Zeichnungen zeitlich unmittelbar benachbart ist der von realistischer Figurendarstellung sich ebenfalls entfernende "Harlekin" in Öl; und man weiß ja um die spätere Bedeutung dieses Sujets für die Kunst der Moderne. In den "Fünf Badenden" eines Mitte der 1880er-Jahre entstandenen Ölgemäldes aber zeichnen sich bereits die Konturen von Pablo Picassos Quintett der "Demoiselles d’Avignon" ab.
Kunstmuseum Basel, St. Alban-Graben. Bis 24. September, Di bis So 10–18 Uhr.
Bäume am Wasser
Nota. - Dem Berichterstatter scheint es ganz selbstverständlich zu sein, dass die Zeichnung für Cézanne nur als Entwurf zur weiteren Ausarbeitung in Betracht kam, nicht aber selbst als Kunst. Tatsächlich sind auch reine Stricharbeiten mit Stift oder Feder ganz rar, fast immer sind sie schon koloriert, und sei es nur ein klein bisschen um die Konturen: Ganz ohne Farbe mag er kein Blatt lassen.
Kein Wunder - wer die Räume in lauter kleine Flächen auflöst und die Körper aus der dritten Dimension in nur zweie plättet, kann kaum ein Freund der Linie sein. Sein Sujet war und blieb die Landschaft, ein wenig das Stillleben; aber kaum der lebendige Mensch, der ohne Körper keiner ist. Cézannes Menschendarstellungen sind so statisch wie seine zweidimensionalen Landschaften, die anderswo ungeliebten Kurven sind gezwungen, die Proportionen sind schief wie bei einem italienischen Manieristen. Suchte er sich in den Fesseln der ewigen Landschaften Luft zu verschaffen wie Gainsborough mit den Landschaften von den Porträts? Aber er konnte sich's noch nicht aussuchen. Wer von der Körperlichkeit des wirklichen Lebens abstrahieren und allein den ästhetischen Schein zurückbehalten will, muss das zuerst an der Landschaft tun. Die Kollegen nach ihm hatten wieder freiere Wahl.
Summa: Nichts, was die Ausstellungsmacher uns hätten 'entbergen' können.
JE
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