Donnerstag, 1. Juni 2017

Gibt es Süß und Salzig wirklich?

aus Die Presse, Wien,

Physiologie: Wir können Wasser schmecken
Das bisher auf fünf Richtungen beschränkte Repertoire unserer Geschmackssensoren hat Zuwachs bekommen. 

Wenn die Temperaturen nach oben schießen, mundet nichts besser als Wasser. Das kann dem exzellenten Beobachter Aristoteles nicht entgangen sein, trotzdem gilt bis heute sein Urteil, dass Wasser zwar „die feinste aller Flüssigkeiten“, aber „von Natur aus geschmacklos“ ist. Respektive dass wir keinen Geschmackssinn dafür haben. Das passt ins Gesamtbild, unser Geschmack ist ärmlich ausgestattet, lange kannte man nur vier Richtungen (süß, sauer, bitter, salzig), vor etwa 100 Jahren kam Umami dazu.

Zwar fanden sich immer wieder Kandidaten für weitere Nuancen – Fett etwa –, aber viel spricht nicht für sie. Für Wasser spricht seit Längerem, dass Insekten eigene Detektoren dafür haben, trotzdem sprach man ihm bei uns und anderen Säugetieren nur eine indirekte Rolle zu: Wer gerade etwas Salziges im Mund hatte und dann einen Schluck Wasser nimmt, empfindet den als süß. Dabei wäre es durchaus nützlich, wenn wir den Saft, aus dem wir zu 75 Prozent bestehen und dessen Aufnahme wir gut regulieren müssen, auch wahrnehmen könnten.

Wir können es, vorsichtiger: Mäuse können es, Yuki Oka (Caltech) hat es gezeigt (Nature Neuroscience 30. 5.): Er hat zunächst durch das Ausschalten der unterschiedlichsten Rezeptoren auf Mäusezungen die identifiziert, die auf Wasser reagieren – es dem Gehirn signalisieren –, es sind die, die für Saures zuständig sind, die reagieren auch auf Wasser, nicht aber auf eine geschmacklose Flüssigkeit ähnlicher Konsistenz.

Dann drehte Oka das Experiment herum und schaltete diese Rezeptoren künstlich ein, optogenetisch, mit Licht, das sie aktivierte: Nun leckten die Mäuse auch, wenn es gar kein Wasser zu lecken gab. Und wie geht das alles zu? Vermutlich dadurch, dass Wasser Speichel verdünnt, einen salzig-sauren Schleim, das verändert den pH-Wert, darauf sprechen die Sensoren an. (jl)


Nota. - Ist Salz wirklich salzig, ist Limonade wirklich süß? Das ist dieselbe Frage wie die, ob die Tomate wirklich rot und der Himmel wirklich blau ist. Es hatte einen evolutionären Zweck, nämlich einen biologischen Selektionsvorteil, dass wir für die unterschiedlichen Wellenlängen des Lichtes einen eigenen Sinn ausgebildet haben. Ob das subjektive Empfinden der einzelnen Individuen dabei jedesmal 'dasselbe' ist, lässt sich nicht objektivieren, jedenfalls nicht ermessen und in Begriffe fassen. Es lassen sich wohl Gedankenexperimente anstellen, nach denen man es vermuten darf, aber empirisch überprüfen lassen sie sich nicht.

Mag es einen evolutionären Vorteil geben, den 'Eigengeschmack' des Wassers von anderen Geschmäckern zu unterschei- den? Es ist biologisch von Nutzen, Meereswasser und Zuckerwasser unterscheiden zu können. Und gewisse Nuancen im Geschmack von Wasser aus Vichy und Wasser aus Selters kann der Gourmet durchaus unterscheiden. (Beachte: Reines H2O trinken wir nicht.) Aber für die Fortentwicklung der Gattung Mensch dürfte das ohne Bedeutung sein, zur Fixie- rung durch Entwicklung besonderer Sinneszellen ist kein Anlass.

Zu bedenken bleibt immer: Das eigentliche Mysterium bei den Geschmacksurteilen ist ja nicht, dass wir alle die gleichen fällen, sondern im Gegenteil, dass die Geschmäcker verschieden sind. Das wiederum lässt sich nur am Maßstab eines durchschnittlichen Normalgeschmacks erkennen.
JE

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