Donnerstag, 27. Februar 2014

Ist Kunst revolutionär?

El Lissitzki, Mit dem Keil, dem roten, schlagt die Weißen
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„Die meisten Künstler waren dem großen Publikum unbekannt“ / Rolle von Kultur in Konflikten
Isa Lange
Pressestelle 
Stiftung Universität Hildesheim   

26.02.2014 18:15  

Wie Dokumentarfilmer, Graffiti-Künstler, Schauspieler und Autoren gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben, diskutieren Künstler aus arabischen Ländern in dieser Woche in Berlin. Forscher der Universität Hildesheim untersuchen die Rolle von Künstlern in Umbrüchen. Politikwissenschaftler weisen auf die elementare Bedeutung von Kunst hin. Im September 2014 richtet die Uni den Weltkongress der Kulturpolitikforschung aus.
Das Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim veranstaltet in Kooperation mit dem ägyptischen Kulturforschungsinstitut Al Mawred vom 25. bis 27. Februar 2014 eine Fortbildung mit Experten der Kulturszenen aus den Ländern Algerien, Ägypten, Jemen, Jordanien, Libanon, Libyen, Mauretanien, Marokko, Syrien und Tunesien. Darunter sind 20 Mitglieder der „Arab Cultural Policy Group“, die sich 2009 auf Initiative von Al Mawred unter Leitung von Basma El Husseiny formiert hat. „Die politischen Umwälzungen seit Anfang 2011 haben in den meisten Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens dazu geführt, dass auch über kulturpolitische Rahmenbedingungen, die Freiheit der Künste und die Verbindung von Kulturszene und gesellschaftspolitischer Gestaltung neu nachgedacht wird“, sagt der Hildesheimer Kulturpolitikprofessor Wolfgang Schneider. Dies geschieht gerade außerhalb von Regierungsinstitutionen durch Akteure der Zivilgesellschaft. 
Die Beteiligten des Forschungsateliers diskutieren in dieser Woche in Berlin vergleichend zur kulturpolitischen Rahmengestaltung in der Bundesrepublik Ansätze für weitere Wege in den Ländern der beteiligten Gäste. Neben Gesprächen über theoretische Modelle suchen die Kulturschaffenden die Berliner Kulturszene auf. Dabei befassen sie sich auch mit dem Zugang zu den Künsten. Die Kulturschaffenden arbeiten an Konzepten, wie Infrastruktur für die Künste aufgebaut, wie Künstler unterstützt und wie die Teilhabe an Künsten gemanagt werden kann. Das Goethe Institut Kairo unterstützt das Treffen mit Mitteln der Transformationspartnerschaften des Auswärtigen Amtes. 
„Seit dem ersten Tag der Revolution waren Künstler dort draußen, in Tahrir Square, Bourguiba Street, Sahat al-Taghyir und den anderen ikonischen Orten des Aufstands. Die meisten Künstler waren zuvor dem großen Publikum unbekannt. Sie waren keine Stars der kommerziellen Filmindustrie und sie wurden von Arbeit, Medienauftritten und Reisen ausgeschlossen, die das Kulturministerium so lange nur einem bestimmten Teil der Kunstszene ermöglichte“, sagt Basma El-Husseiny zum Auftakt des Forschungsateliers in Berlin. 
Am UNESCO-Lehrstuhl der Universität Hildesheim – dem jüngsten von nur zehn in Deutschland – befasst sich ein Team um Prof. Dr. Wolfgang Schneider mit Kulturvermittlung, kultureller Vielfalt und kultureller Bildung im Mittelmeerraum, im südlichen Afrika und Nordafrika. Gemeinsame Ausbildungsprogramme im Kulturmanagement sollen entwickelt werden. Die Forscher untersuchen die Rolle von Künstlern in gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen und von Kultur in Konflikten. 
So werden etwa die Umbrüche in Nordafrika auch kulturell gestaltet: Dokumentarfilme, Graffitis, Musik und Performances zeigen, wie lebendig der politische Aufbruch in den nordafrikanischen Ländern ist. Das Forschungsatelier in Berlin wird so auch den Dokumentarfilm ART WAR zusammen mit dem Regisseur Marco Wilms diskutieren. Auch die Promovenden des internationalen Promotionskollegs „Kulturvermittlung", das an den Universitäten Hildesheim und Aix-Marseille jüngst gestartet ist, setzen an diesen Forschungsschwerpunkten an. 
„Kunst und Kultur spielen eine elementare Rolle in den Ländern des Arabischen Frühlings. Sie sind Ausdrucksform von Protest und konkreten politischen Forderungen. In Ägypten finden wir eine höchst lebhafte Kulturszene vor, die sich mit dem erfolgreichen Protest von 2011 weiter ausdifferenziert und auf eine schon in den Jahren zuvor sich etablierende 'freie' Kulturszene außerhalb des staatlich organisierten Kulturbetriebs zurückgreifen konnte, vor allem in den urbanen Zentren Kairo und Alexandria. Kunst und Kultur waren eine wichtige Ressource des Protests gegen Mubarak 2011“, sagt Thomas Demmelhuber von der Universität Hildesheim. Der Juniorprofessor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politik und Internet spricht während des Forschungsateliers am Donnerstag. „Wirkmächtige 'rote Linien' des Erlaubten im Kulturbetrieb waren mit dem Zusammenbruch des Mubarak-Regimes plötzlich Makulatur. Seit dem zweiten Regimewechsel im Juli 2013 und dem Sturz des 2012 gewählten Präsidenten Mursi ist aber ein wieder verstärktes staatliches Vorgehen gegen einzelne Akteure der Kultur- und Künstlerszene, gegen politisierte Kulturinhalte und für eine Deutungshoheit eines staatlich organisierten und beeinflussten Kulturbetriebs zu beobachten“, so Demmelhuber. 
Info: Weltkongress der Kulturpolitikforschung im September 2014 
Eine der größten Konferenzen für kulturpolitische Forschung macht im Herbst in Niedersachsen Station: Vom 9. bis 12. September 2014 richtet die Universität Hildesheim auf dem Kulturcampus den Weltkongress der Kulturpolitikforschung aus (http://www.iccpr2014.de). Bis heute wurden rund 400 Bewerbungen von Forschern aus rund 70 Ländern eingereicht. Dabei befassen sich die Forscher mit der Rolle von Kultur in Transformationsprozessen und welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, damit Künstler gesellschaftliche Wirkung erzielen können.
Mit Blick auf die Bundesrepublik befassen sich die Forscher mit der Frage, wie Kunst und Kultur zum Bestandteil im Alltag von Kindern und Jugendlichen werden kann. Besonders der Schule wird eine Schlüsselrolle zugeschrieben. Das größte Modellprogramm in Deutschland ist das Projekt „Kulturagenten für kreative Schulen". Seit 2011 sollen mit dem Programm der Bundeskulturstiftung und der Stiftung Mercator langfristige Kooperationen zwischen Künstlern und Kultureinrichtungen sowie 138 Schulen in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Berlin, Hamburg und Thüringen aufgebaut werden. Dabei kommen fast 50 Kulturagenten zum Einsatz, die die Zusammenarbeit begleiten. Das Institut für Kulturpolitik der Hildesheimer Uni untersucht nun die Wirkung und Qualität dieser Kooperationen in einer mehrjährigen Begleitforschung. Erste Ergebnisse sollen auf der Konferenz vorgestellt werden. Auf der Konferenz befassen sich die Fachleute mit Strategien im Kulturmanagement, um Menschen unterschiedlicher Millieus zu erreichen. Studien zur Kulturnutzung in mehreren Ländern werden vorgestellt, etwa aus Großbritannien („New Audience Program“). 
Statement from Basma El-Husseiny (in English), please ask:
Kontakt zu den Forschern und zu den Kulturschaffenden über die Pressestelle:
Isa Lange
05121.883-90100 und 0177.8605905
presse@uni-hildesheim.de Weitere Informationen: http://iccpr2014.de/timetable/ - Weltkongress der Kulturpolitikforschung 2014 an Uni Hildesheim
http://www.uni-hildesheim.de/fb2/institute/kulturpolitik/ - Institut für Kulturpolitik der Uni Hildesheim

Mittwoch, 26. Februar 2014

Paul Klee im Tate Modern.

aus NZZ, 26. 2. 2014                                                                                                                                 Feuer bei Vollmond 1933

Das Leben kein Traum
Grosse Paul-Klee-Retrospektive in der Londoner Tate Modern

von Marion Löhndorf 

Was lässt sich noch sagen zu Paul Klee, dem Vielgefeierten, -beschriebenen und -ausgestellten? Die Tate Modern versucht es mit einem Abgesang auf das Bild Klees als Mystiker der Moderne.

Paul Klee lebte zwischen den Kategorien. Sein Werk überschneidet sich mit dem Expressionismus, dem Konstruktivismus, dem Kubismus und dem Surrealismus, aber in Wirklichkeit versagen die Ismen hier. Er experimentierte mit Inhalten, Formen und Techniken und überbrückte dabei die Pole von abstrakter und gegenständlicher Malerei. Bei der Wahl seiner Laufbahn schwankte er zwischen Malerei und Musik, auch Nationalität und Herkunft weisen ihn als Wanderer zwischen den Welten aus. 1879 in Münchenbuchsee im Kanton Bern geboren, wuchs er als Sohn einer schweizerischen Mutter und eines deutschen Vaters in der Schweiz auf, erhielt aber als deutscher Staatsbürger 1916 den Einberufungsbefehl. Nach dem Krieg arbeitete er in Deutschland und emigrierte 1933 in die Schweiz, wo er 1940 starb - kurz bevor ihm die Schweizer Staatsbürgerschaft zuerkannt worden wäre. Seine Grabinschrift beginnt mit den eigenen Worten «Diesseitig bin ich gar nicht fassbar». Sie führen ex negativo in eine weitere, letzte Gegenwelt, das Jenseits, und verorten ihren Autor als Einzelgänger - trotz seiner Zugehörigkeit zur Künstlergruppe «Der Blaue Reiter» und seiner langjährigen Tätigkeit am Bauhaus.

Architektur 1923

Entmystifizierung

Eine Retrospektive in der Londoner Tate Modern legt es nicht darauf an, den Widersprüchen und Spannungen im Leben und Werk des Künstlers nachzuspüren. Stattdessen wartet sie mit einer klaren Lesart auf, die Abstand nimmt von der Vorstellung von Klee als einem verträumten Mystiker und Radikalindividualisten. London präsentiert, im Fahrwasser einer jüngeren Generation von kritisch-nüchternen kunsthistorischen Beiträgen zum Thema Klee, eine entsakralisierte Version des Malers. Dabei erscheint seine Arbeit als eines der bedeutendsten Lehrer am Bauhaus und grosser Kenner und Theoretiker der Kunst des 20. Jahrhunderts in der Ausstellung selbst nur kursorisch in den begleitenden Texten. Sie hätte in einer zur Entmystifizierung entschlossenen Schau mehr Platz verdient. Erst der Katalog klärt vieles: Er erläutert die Anordnung der Werke, das didaktische Vorhaben der Präsentation und die mäandernde Entwicklung des darin gezeigten OEuvre selbst, das Wiederaufnehmen, Verändern und Vereinen von Themen, Motiven und Verfahren.

Wintertag kurz vor Mittag; Jahr?

Das Material wird chronologisch inszeniert. Tate-Direktor Chris Dercon hatte angekündigt, die Werke anhand des von Klee geführten Verzeichnisses zum ersten Mal so zu zeigen, wie er selbst sie der Öffentlichkeit präsentieren wollte. So strebt man also von Jahr zu Jahr, durch siebzehn Räume, vorbei an 131 Zeichnungen, Aquarellen und Gemälden aus Museen und Privatsammlungen aus der Zeit von 1912 bis 1940. Man tritt heran, man lehnt sich vor - jedes Bild will ganz genau angesehen werden, in seinem formalen Reichtum, seiner Detailfülle. Auf dem weitläufigen Parcours deutet sich die scheinbar grenzenlose Schaffenskraft des Künstlers an, der fast 9000 Werke hinterliess, mehr als die Hälfte davon Arbeiten auf Papier.

Stufen, 1929

Klees kleinformatige Bilder erscheinen an den massiven Wänden winzig. Die nüchterne Wucht der Räume und die Intimität der Kleeschen Kunst sind einander herzlich fremd. Doch dienen die Säle der Tate wohl auch der mit dieser Präsentation angestrebten Ausnüchterungskur: Der Mythos vom weltentrückten Lyriker der Malerei, der zu einer Art Heiligsprechung Klees führte, kommt hier nicht zur Entfaltung. Dass Klee an seinem Image als Künstler-Poet selbst nicht unbeteiligt war, indem er etwa von der «gleichnishaften Zusammengehörigkeit seiner Kunst zum Werke Gottes» sprach, bleibt unberücksichtigt. Der Surrealist René Crevel nannte Klees Kunst ein Museum unserer Träume, «un musée complet de nos rêves». Klees Vertrauter Will Grohmann aber fand, dass Klee «durchaus gesund fest auf seinen Beinen steht. Er ist in gar keiner Weise ein Träumer.» Das war die andere Seite des Malers, der eben auch das Pathos ablehnte und grosse Anstrengungen unternahm, das eigene Werk analytisch zu durchdringen und zu katalogisieren; und er war ein harter, unerbittlicher Arbeiter mit höchstem Anspruch an sich selbst. Träumer oder nicht: Die Londoner Schau interessiert sich für die unromantische Wesensseite des Künstlers und unternimmt keine Anstrengung, die Gegensätze einfach nebeneinander bestehen oder aufeinanderprallen zu lassen. Dass das unter der Hand und quasi ungebetenerweise dennoch passiert, liegt am hier gezeigten Werk selbst.

Sie beißen, 1920

Brüchige Verspieltheit

Klees schwebender Kosmos, dessen Leichtigkeit so hart erarbeitet war, erscheint in seiner Formen- und Themenvielfalt unerschöpflich, was auch für eine Robustheit seiner fragil erscheinenden Schöpfungen spricht. Sein Diktum von der Kunst, die nicht das Sichtbare wiedergebe, sondern sichtbar mache, ist der Schau als Titel eingeschrieben, «Making Visible». Darunter lässt sich vieles fassen. Wir begleiten Klee von seinen Radierungen und Zeichnungen der Vorkriegszeit und den Aquarellen der Tunisreise hin zu den magischen Quadraten der zwanziger Jahre und der strengeren Architektur seiner ägyptischen Landschaften. Ihnen folgen Anfang der dreissiger Jahre Farbkompositionen, die fast vollständig ohne den gezeichneten oder gemalten Strich auskommen. In den letzten Lebensjahren werden Anspielungen an Politisches und Persönliches leichter entzifferbar. Da klingen, mit wie immer verhaltener Ausdrücklichkeit, Klees Erfahrungen mit den Nationalsozialisten, die Emigration und seine letzte Krankheit an.

 Park bei Lu., 1938

Vermieden wird auch jeder Populismus, der Klee zum beliebten Postkarten- und Postermotiv macht, dank den reichen Farben und Mustern, den Graffiti-ähnlichen Elementen, den heiteren Studien über Farbharmonien, Improvisationen über Raum und Perspektive mit dunkleren, bedeutungsvollen Untertönen. Hervorgehoben werden sein Sinn für Humor, seine brüchige Verspieltheit und Eleganz, die gelegentlich morbide Handschrift, seine Zeitgenossenschaft und das systematische Erfragen und Erarbeiten einer künstlerischen Welt. Was so spielerisch aussah, folgte in Wahrheit, so lernen wir, einer konsequenten Methodik. Klee wird als besessener Archivar der eigenen Kunst erlebbar, der von 1911 an jedes Bild akribisch katalogisierte. Es gibt Beispiele seiner Buchführung, inklusive der Verkaufsvermerke. Nachzulesen ist auch seine minuziöse, handschriftliche Vorbereitung zu einer ersten Seminarstunde als Lehrer am Bauhaus.

Klee im Tate Modern

Nach Jahren seiner unheilbaren Sklerodermie-Erkrankung, in denen er nicht mehr als 25 Werke produzierte, nahm sein Schaffen im vorletzten Lebensjahr einen enormen Aufschwung, den der Kranke, wie im Wettlauf mit dem Tod, gleich wieder numerisch bezeichnete: «Zwölfhundert Nummern im Jahr 39 sind aber doch eine Recordleistung.» Doch das Eindeutige, Buchhalterische behält naturgemäss nicht das letzte Wort. In Klees Werk, bis hin zu den letzten wiederum sehr verschiedenartigen Bildern, in die sich Verzweiflung, Abgeklärtheit oder Rätselhaftigkeit hineinlesen lassen, leben die Spannungen und Widersprüche im elegantesten, schönsten Schwebezustand fort.

Paul Klee - Making Visible. Tate Modern, London. Bis 9. März 2014. Katalog £ 24.99.

 Titel? 1927


Nota.

Einen so nichtssagenden Beitrag hätte ich in der Neuen Zürcher nicht erwartet; und dabei haben sie sich reichlich Zeit gelassen, die Ausstellung wurde im Oktober eröffnet.

Da ich nichts zu kommentierten habe, erzähle ich Ihnen eine Geschichte, die Sie kaum interessieren wird, die ich aber loswerden will: Mit Klee ist mir etwas Merkwürdiges widerfahren. Jahrelang habe ich auf meiner Festplatte jedes Bild von ihm gesammelt, das ich im Internet finden konnte, und als ich auf einem (inzwischen von Google gelöschten) Blog einen Beitrag über Picasso brachte, in dem dieser "der größte Maler des zwanzigsten Jahr- hunderts" genannt wurde, kommentierte ich: Da würden mir andere einfallen; und dachte natürlich an Max Ernst und Paul Klee. Und dann im vergangenen Herbst, pünktlich zur Eröffnung der Tate-Ausstellung, hatte ich seine Bilder über Nacht satt. Ich mochte sie nicht mehr sehen und kopierte nichts mehr auf meine Festplatte. 

Zu diesem Eintrag musste ich mir einen Ruck geben. Hab ich getan, und nun lade ich wieder einiges auf meine Festplatte. Aber es irritiert mich weiter.
JE

Sonntag, 23. Februar 2014

Gehry am Alexanderplatz - eine Stimme aus der Provinz.

aus Badische Zeitung, 21. 2. 2014                                                                Frank Gehrys Turm; links das Haus des Lehrers

Berlin wird Kinshasa.

Die Zerstörung der Stadt am Berliner Alexanderplatz

von Falk  Jaeger  

Der Alexanderplatz in Berlin, Hauptstadt der DDR, war für manche ein sehnsuchtsvoller Ort. Dort gab es bisweilen internationale Jugendveranstaltungen, behördlich ordnungsgemäß organisiert und, das wusste man, ebenso ordnungsgemäß beäugt von jenen Kräften, die für ein hohes Maß an Sicherheit und Ordnung zu sorgen hatten. Auch an normalen Tagen waren Touristen anzutreffen, dort an der Weltzeituhr, Wahrzeichen, Treffpunkt und mythischer Ort, an dem das Fernweh mit Händen zu greifen war.

 
Weltzeituhr,Hotelhochhaus
 

Ringsum hatte sich der Magistrat bemüht, die zerbombte und zerschlissene Kaiserzeit abzuräumen und durch Bauten im Internationalen Stil Weltniveau unter Beweis zu stellen. Den Beweis mit qualitätvoller Architektur erbracht hatte aus heutiger Sicht freilich nur Hermann Henselmann mit seinem Haus des Lehrers und der Kongresshalle. Es waren neben den beiden ohnehin sakrosankten Mendelsohn-Gebäuden die einzigen, denen Hans Kollhoff vor zwanzig Jahren Respekt bezeugte, als er seinen berühmten städtebaulichen Entwurf mit einem Dutzend Hochhäusern vorstellte.
  Brunnen der Völkerfreundschaft ('Nuttenbrosche'), Haus des Lehrers, Kongresshalle 

Ein Sammelsurium von Interessen

Kollhoff wollte den Platz durch zehngeschossige Sockelbauten fassen, aus denen die Turmhäuser emporwachsen. Er wollte damit einerseits den Platzraum schließen und den Raum erlebbar machen, andererseits ihn durch eine Hochhausfamilie umstellen und zum gesamtstädtischen Zeichen machen. Er bekam dafür viel Applaus, doch seine Pläne scheiterten an der Rezession. Der Boom, der noch den Potsdamer Platz und die Friedrichstraße beflügelt hatte, war zu Ende, die Investoren warteten ab. Kollhoffs nur vage ausformulierte Architekturformen erinnerten an Hochhäuser der 30er Jahre in den USA. Eines hatte er klar erkannt: Ein Hochhaus kann schön sein, spektakulär, faszinierend. Eine Gruppe solcher Türme, zufällig je nach Grundstücksverhältnissen und Investorenlaune zusammengewürfelt, ergibt ein schreckliches Bild, zu besichtigen von São Paulo bis Kinshasa, von Tel Aviv bis Shenzen, aber auch in Berlin, rings um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
 
"Zoofenster"; Hotel Waldorf-Astoria
 

Es gibt nur eine Chance: ein gestalterischer Mindestkonsens und ein städtebaulich stringenter Plan. Nur so sind Hochhäuser ästhetisch zu domestizieren. Man denkt an das New Yorker Rockefeller Center aus den dreißiger Jahren oder an die fünf Hochhausscheiben am Stockholmer Hötorget aus den sechziger Jahren, beides städtebauliche Ensembles von hohem Wiedererkennungswert.

Kollhoffs Plan, 1993

Kollhoffs Plan wurde den weiteren Planungen zugrunde gelegt, doch es ging wie immer in Berliner Rezessionszeiten, wenn der Senat keine Machtmittel mehr in Händen hält und eine starke Persönlichkeit in der Baudirektion fehlt. Eigentümer sanierten lieber die DDR-Plattenbauten am Alexanderplatz, als nach Kollhoffs Plänen neu zu bauen und torpedierten damit den schönen Plan. Jüngstes Beispiel: Der amerikanische Investor Hines, der vor vier Jahren schon das Elektronikkaufhaus Saturn am Alex baute (bauen durfte), ohne den von Kollhoff vorgesehenen Turm zu errichten oder zumindest im Sockelbau fundamentmäßig vorzubereiten, will nun doch als erster einen 150-Meter-Turm bauen – neben, nicht auf dem Saturnblock. Sündhaft teure Wohnungen soll es darin geben, und schon hofft so mancher, dass sich der Luxus an jenem Ort nicht verkaufen lässt und der Turm gar nicht erst zustande kommt.


Alexanderplatz von der S-Bahn aus; links und rechts die Behrens-Gebäude


Denn jüngst wurde ein Architektenwettbewerb dazu entschieden, und man fragt sich, was das Preisgericht zu seiner merkwürdigen Wahl getrieben hat. Jener Entwurf, der sich am wenigsten mit Kollhoffs Rahmenplan vereinbaren lässt, wurde ausgesucht. Der amerikanische Architekt Frank O. Gehry, der mit dem Guggenheim Museum in Bilbao berühmt wurde und der seitdem überall auf der Welt seine zerquälten Bauschwurbel hinterlässt, die, wohlwollend betrachtet, aussehen, als habe jemand zerknautschte postkubistische Gemälde dreidimensional aufgeblasen. Ganz so chaotisch scheint das für den Alexanderplatz entworfene Hochhaus nicht, aber es wird eine eitle Diva werden, die eines bestimmt nicht verspricht: mit anderen Hochhäusern zusammen eine gestalterische Familie zu bilden.


Alexanderplatz, Haus der Elektroindustrie (nach der Wiedervereinigung)


Berlin hätte mit dem Kollhoff’schen Alexanderplatz ein weltweites Alleinstellungsmerkmal, ein weiteres Wahrzeichen haben können – und einen schönen Stadtplatz, der nach wie vor die Touristen anzieht. Was sich nun abzeichnet, ist ein zufälliges Sammelsurium von Einzelinteressen der Investoren, die bauen, auf welchen Grundstücken sie wollen und was immer sie für lukrativ halten, Kinshasa eben.


Gehrys Turm 

Nota.

Frank Gehry war froh, dass sie ihn endlich mal ein normales Haus bauen lassen. Ein Hochhaus von 150 Metern, das kann man nicht verwurschteln und zusammenkneten, uff, das konnten die Berliner Dorfschulzen nicht von ihm verlangen. Aber ein Solitär ist es natürlich doch geworden (wenn auch ein ziemlich konventioneller), Frank Gehry kann nix andres.

Aber soll ich Ihnen was sagen, Herr Jaeger? So beklemmend wie Kollhoffs allzu reguläres Ensemble-Modell ist er nicht. Und zum Alleinstellen haben wir in Berlin dies und das. Zweck der Architektur braucht das nicht zu sein. Berlin soll nicht Kinshasa werden, aber Bilbao ist es eben auch nicht.
JE  

Samstag, 22. Februar 2014

Joachim Patinirs Weltlandschaft.

aus NZZ, 22. 2. 2014

Die Welt in ihrer ganzen Vielfalt  
Mit Joachim Patinir am Rheinfall - der enzyklopädische Anspruch seiner «Taufe Christi»

von Felix Thürlemann

Patinirs Landschaftsgemälde, aus zahllosen, präzise beobachteten Details zusammengefügt, simulieren die Welt als Ganzes. Die um 1515-20 entstandene «Taufe Christi» birgt ein bisher unbeachtetes Motiv: die erste bildliche Darstellung des Rheinfalls. 

Joachim Patinirs «Taufe Christi» im Kunsthistorischen Museum in Wien gilt als Hauptwerk des grossen niederländischen Landschaftsmalers. Das Thema ist nach der damals im Norden gültigen Formel dargestellt: Christus steht bis auf den weissen Lendenschurz nackt im Wasser; Johannes kniet am Ufer und giesst Christus aus der blossen Hand Wasser über das Haupt. Oberhalb des Täuflings erscheint in einer dunklen Wolke Gottvater, der die Geisttaube zu seinem Sohn sendet. Johannes erkennt man ein zweites Mal am linken Bildrand, wie er als Prediger dem jüdischen Volk das Kommen des Erlösers ankündigt. Auch Christus ist bereits vor der Taufe dargestellt. Er steht ganz allein in der Bildtiefe hinter dem Propheten und seinen Zuhörern und wartet auf sein Erlösungswerk. Etwa so lassen sich die handelnden Figuren beschreiben. Doch diese machen nur einen Teil des Werkes aus.


Wer vor der gemalten Tafel steht, erkennt als Bühne für die dargestellte biblische Episode eine weit ausladende, ungewöhnlich fein gegliederte Landschaft. Mit seinem einzigartigen Reichtum an prägnanten Details bietet das Gemälde den Betrachtern ein beinahe unerschöpfliches Sehvergnügen. Alles in dieser Landschaft wirkt echt und gleichzeitig bizarr übersteigert. Inmitten von sattgrünen Wiesen und dichten Büschen ragen mächtige grau-braune Felstürme auf, die mit ihren komplexen Schichtungen und den darin versteckten Gesichtern nicht nur Geologen zu faszinieren vermögen. Hinter dem riesigen Felsen, der die Hauptfigur zu verdoppeln scheint, dehnt sich ein unermesslich weites Plateau mit Hügeln und Bergen aus, das sich im blauen Dunst der weiten Ferne verliert. Getrieben vom Drang, möglichst viel von dem zu zeigen, was die sichtbare Welt ausmacht, schuf Patinir eine malerische Summe der Natur.

Rast auf der Flucht nach Ägypten 

Man pflegt das von Joachim Patinir entwickelte Bildkonzept mit «Weltlandschaft» zu bezeichnen. Die besondere Leistung gerade dieses Malers bestand darin, zwei widersprüchlichen Aufgaben gerecht zu werden. Es gelang ihm, innerhalb eines beschränkten Bildgevierts einen kohärenten Blick auf die Welt zu simulieren und gleichzeitig diese in ihrer ganzen Vielfalt, als Bild des Ganzen, erfahrbar zu machen. Auch im Nahblick wird der enzyklopädische Zugriff deutlich: etwa am Beispiel der minuziös gemalten Tiere, die die Erde neben zahlreichen Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen, bevölkern: durch die Echsen und Lurche, die sich um die Wurzeln des abgestorbenen Baumes links unten tummeln, den Hasen, der darüber aus der Höhle hoppelt, den Hirsch in der Bildmitte neben Christus oder den Fischreiher, der rechts am Ufer steht und dabei genauso ins Wasser starrt wie der Angler, der ihm gegenüber am Ufer sitzt.

Landschaft mit dem Hl. Hieronymus

Überhaupt zeigt das Gemälde - wie es die dargestellte Geschichte verlangt - viel Wasser. Ja, man könnte sagen, der eigentliche Akteur des Bildes ist nicht Christus, sondern der Fluss Jordan. Als schäumender Wasserfall stürzt er ins Bild hinein, um sich aber sogleich zu beruhigen. Glatt wie ein Spiegel breitet er sich in einem grossen weiten Bogen hinter dem Felsmassiv aus und bildet schliesslich am unteren Bildrand, vom Rahmen abgeschnitten, wie von ihm gestaut, eine Furt. Hier, dem Betrachter am nächsten, steht Christus im Wasser und empfängt vom Täufer das Sakrament.

Wiedererkennen

Der Blick springt zurück auf das Motiv des Falls, mit dem der Jordan ins Bild hineinbricht. Diese beiden charakteristischen Felsbrocken inmitten des schäumenden Wassers erscheinen einem vertraut. Natürlich, es muss der Rheinfall sein. Die Bildformel hat sich eingeprägt, wurde sie doch von frühester Jugend an immer wieder aufgefrischt, wenn man mit den Eltern zusammen den regelmässigen Ausflug nach Neuhausen bei Schaffhausen machte, möglichst nach einer längeren Regenperiode, damit das Wasser auch kräftig schäumte und mächtig donnerte.

Landschaft mit der Flucht nach Ägypten

Genau so wie in der schönsten Jugenderinnerung schäumt das Wasser auch in Patinirs Gemälde rund um die beiden eng beieinanderstehenden Felsen. Hinter dem Katarakt erhebt sich wie in der Wirklichkeit der grosse Hügel mit dem Schloss Laufen, das freilich seine jetzige Form erst später, nach der Übernahme durch die Zürcher im Jahre 1544, gefunden hat. Die Darstellung des Rheinfalls im Wiener Gemälde von Joachim Patinir ist eine Premiere. Sie entstand mehr als zwanzig Jahre vor der ältesten bisher bekannten Wiedergabe, dem Holzschnitt in Sebastian Münsters ebenfalls 1544 erschienener «Cosmographia». Man könnte sich mit dieser Feststellung begnügen. 

Triptychon mit dem Hl. Hieronymus; lks. Taufe Christi

Doch mit der Benennung der Entdeckung ist es nicht getan. Die Darstellung ist als überraschend präzises visuelles Protokoll eines Naturphänomens für das frühe 16. Jahrhundert höchst ungewöhnlich, gerade auch wenn man sie mit dem später entstandenen, ornamental aufgefassten Holzschnitt vergleicht. Die Entdeckung des Rheinfall-Motivs in Patinirs Gemälde mit der Taufe Christi führt zu neuen Fragen. Ihre Beantwortung kann Auskunft darüber geben, wie der Antwerpener Maler die Welt gesehen hat.

Ausschneiden - wieder einfügen

Wer die visuelle Formel «Rheinfall» gespeichert hat, schneidet, wenn er vor das Gemälde tritt, das Motiv des Wasserfalls vor der Folie des Schlosshügels als eine prägnante Bildkonfiguration aus ihm heraus, um es mit einer erinnerten Bildvorstellung oder mit anderen seither entstandenen Bildern zu vergleichen - seien diese gemalt, in Holz geschnitten, in Kupfer gestochen oder fotografiert. Der Maler aber ist den umgekehrten Weg gegangen. Er hat das Motiv in der Natur entdeckt, es zeichnerisch festgehalten und schliesslich in eine malerische Darstellung der Welt eingebaut.

Hieronymus in der Einöde

Man kann sich vorstellen, wie Patinir in seinem Atelier, als er sich vornahm, eine grosse Landschaft mit dem Thema Wasser zu schaffen, sich an das Blatt erinnerte, das er während einer Reise in den Süden vielleicht schon etliche Jahre zuvor gezeichnet hatte. Er öffnete sein Skizzenbuch und entschied sich, die Erscheinung des Jordan in seinem Gemälde mit einem besonderen Ereignis zu verbinden: als Wasser, das in das Bild hineinstürzt. Das Motiv malerisch umzusetzen, um den Eindruck des Zischens und des Glänzens in der Sonne zu geben, war zweifellos nicht einfach. Es musste als Teil der grossen Welt mit dieser verbunden werden, und der rückwärtige Hügel mit dem Schloss musste in den Bildgrund, der sich bis zum fernen Horizont hin ausdehnte, integriert werden. Um dies zu bewerkstelligen, bediente der Maler sich eines raffinierten Tricks. Er machte aus dem einen Hügel, den er auf seiner Zeichnung festgehalten hatte, zwei: Vor die hohe, von der Burg bekrönte Kuppe, die sich mit ihrer klaren Silhouette vom Himmel abhob, setzte er zusätzlich einen kleineren Hügel, den er mit einem frei erfundenen Kirchenbau ausstattete. So war das von ihm zuvor isolierte Motiv wieder Teil der Welt, der von ihm erfundenen gemalten Welt.

Malerpilger und Naturforscher

Patinirs Wasserfall hat keinen Namen. Er ist, anders als der Holzschnitt in Münsters Kosmografie, keine Illustration für einen bekannten, im Text beschriebenen geografischen Ort. Patinirs Darstellung des Rheinfalls ist das Zeugnis einer Entdeckung, die der Maler während einer Reise gemacht hatte - und Reisen gehörte offenbar zu seinem Leben. - Geboren wurde Joachim Patinir um 1480 bei Dinant in Wallonien, der befestigten Stadt an der Maas mit ihren seltsam isolierten, hoch aufragenden Felsen direkt am Ufer des träg dahinfliessenden Stroms. Dieser Akkord aus ruhigem Wasser, flachem Land und steilen Bergen sollte Patinir prägen, und er prägt auch das Wiener Gemälde mit der Taufe Christi. 1515 gründete Patinir, der zuvor vermutlich in der Werkstatt von Gerard David in Brügge gearbeitet hatte, in der blühenden Handelsmetropole Antwerpen eine eigene Werkstatt und wurde Mitglied der Malergilde. Bald war er als Feinmaler und Spezialist für ungewöhnliche Landschaftsbilder bei reichen Sammlern so begehrt, dass er seine Werke immer grösser und thematisch immer anspruchsvoller anlegen konnte. Selbst vor dem mythologischen Thema mit Charon, der die Seele über den breiten Acheron übersetzt, schreckte er nicht zurück
 

Überfahrt ins Totenreich 

Doch Patinir hat nicht nur gemalt und gelesen. Er muss Antwerpen und zuvor Brügge auch regelmässig verlassen haben, um die Welt in ausgedehnten Wanderungen zu erkunden. Nur weil sie selbst das Kondensat von Reisen sind, können Patinirs Bilder den Betrachter dazu einladen, sich in ihnen - wie in der wirklichen Welt - sehend zu bewegen.

Als Beleg für eine solche Reise galt bisher ein kleines Täfelchen der Sammlung Ruzicka im Kunsthaus Zürich aus Patinirs Hand, das die Entrückung der Maria Magdalena darstellt. Die Landschaft, in der das Wunder stattfindet, entspricht der Felsarena von La Sainte-Baume in der Provence mit der Grotte, in der die Büsserin dreissig Jahre verbracht haben soll, in einzelnen Details so genau, dass die Darstellung auf Autopsie zurückgehen muss. Die Grotte war ein beliebtes Pilgerziel, dies vor allem nachdem Franz I. 1516, ein Jahr nach dem Sieg bei Marignano, eine Dankwallfahrt dorthin gemacht hatte. - Es ist eher unwahrscheinlich, dass es die gleiche Reise war, die Patinir in den provenzalischen Pilgerort und nach Schaffhausen führte. Vermutlich hat Patinir den Rheinfall auf der Rückkehr aus Italien kennengelernt, vielleicht anlässlich einer Pilgerfahrt nach Rom, wie sie damals viele - unter ihnen auch viele Maler - einmal im Leben unternahmen. Bei der Rückreise in den Norden, nach dem beschwerlichen Gang über die Alpen, bot sich neben dem Landweg als Alternative die Schifffahrt über den Bodensee und den Rhein nach Basel und weiter nach Köln an. Auch der Florentiner Humanist Poggio Bracciolini hatte den Wasserweg gewählt, als er im Jahre 1417, während des Konstanzer Konzils, die heissen Quellen von Baden besuchte, um seine Arthritis zu kurieren. Poggios berühmter Brief mit der Schilderung der damaligen Schweizer Badesitten enthält auch die erste Beschreibung des Rheinfalls, die uns überliefert ist. Und er zeigt, was der Fall für die Schiffsreisenden damals bedeutete: Er war Anlass für eine Unterbrechung und für einen kurzen, aber ziemlich beschwerlichen Fussweg, der direkt am Naturschauspiel vorbeiführte.

Die Versuchung des Hl. Antonius

Gesamtschau

Offenbar nutzte Patinir die Zeit, bis die Fässer und Ballen alle auf das neue Boot verladen waren. Er setzte sich mit seinem Skizzenbuch in den Hang über dem Becken gegenüber dem Rheinfall und hielt das Naturschauspiel vor dem Hintergrund von Schloss Laufen in einer detaillierten Zeichnung fest. Die von Patinir daraufhin in sein Gemälde integrierte Ansicht sollte einzigartig bleiben. Denn bereits im 17. Jahrhundert war der Blick auf den Rheinfall von dieser Position aus durch die Häuser, die man unterhalb der alten Mühlen zusätzlich auf die Felsen gesetzt hatte, verbaut. Wer sich heute dort niederlässt, wo der Maler sass, kann zwischen den Gebäuden bloss einen der beiden Felsen erspähen. Den Rheinfall aus der Perspektive, wie ihn Patinir gesehen hat, zeigt uns nur noch sein Gemälde mit der Taufe Christi im Kunsthistorischen Museum in Wien. Er ist integriert in eine Gesamtschau der Welt, die ihrerseits als Rahmen für die christliche Heilsgeschichte dient. Es sollte noch lange dauern, bis der Rheinfall zum ausschliesslichen Gegenstand zuerst von bildmässig aufgefassten grafischen Blättern und dann von malerischen Veduten werden konnte.

Prof. Felix Thürlemann lehrt Kunstgeschichte an der Uni Konstanz.

Der Untergang von Sodom und Gomorrha


Nota.

Natürlich ist Joachim Patinir der erst große Landschaftsmaler. Ihm dient die Landschaft aber nicht dazu, das Thema der Darstellung in den Hintergrund zu setzen und die ästhetische Seite des Gemäldes hervorzukehren; er erfindet seine Landschaften so, dass sie das Thema der Erzählung vertiefen und charakterisieren (und nicht nur illustrieren). Bei Claude Lorrain erscheinen die Menschen und was sie tun immer mehr bloß als Vorwand für ein Landschaftsstück, und da kann er ohne weiteres auch reale Landschaften porträtieren. Da ist Patinir Jahrhunderte von entfernt. Doch dass er die Landschaft beim Thema mitreden ließ, war ziemlich einzig.
JE

Freitag, 21. Februar 2014

Architektur ist keine Bildende Kunst.



Seit in der Malerei das historisch-motivisch-Thematische hinter das rein-Ästhetische zurückgetreten ist, wurde das Neue allerdings zu einer notwendigen Bedingung der Bildenden Kunst. Nicht mehr sein Gegenstnd kann das Werk rechtfertigen, sondern allein seine ästhetische Qualität. Und die muss, je mehr man "alles schon mal gesehen hat", eine neue sein: Der Künstler rechtfertigt sich, indem er dem Publikum die Augen öffnet für etwas, das vorher nicht sichtbar war.


Da müssen sie sich seit gut einem halben Jahrhunderet immer fester an den Finger saugen, damit was kommt, und die Unken im Tümpel lassen vernehmen: "Das Tafelbild ist erschöpft, mit der Malerei geht es zu Ende."


Die Architektur ist keine Bildende Kunst, sondern ein nützliches Handwerk. Sie schafft Räume, die für Zwecke bestimmt sind. Wenn sie ihrem Zweck gerecht werden, gefällt es dem Bauherrn - aus Interesse. Aber Bauwerke stehen - je größer sie sind, umso auffälliger - in der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit fragt, soweit sie nicht selber zu den Nutzern zählt, nicht nach der Funktion, sondern "ob es in seine Umgebung passt". Darüber kann gestritten werden; aber nicht dafür baut der Architekt ein Haus, sondern damit es eben seinen Zwecken entspricht. 


Repräsentation gehört zu den möglichen Zwecken eines Bauwerks (und eines Gemäldes, solange Kunst auch aus Interesse gefallen sollte). Dies auf der einen, der zwie- oder mehrspältige Anspruch der Öffentlichkeit, 'dass es in seine Umgebung passt', auf der andern Seite eröffnet der Architektur einen weiten ästhetischen Spielraum; macht sie aber nicht zu einer Bildenden Kunst. Macht die Architekten nicht zu Künstlern, aber womöglich zu mehr als das. Anders als jene können sie nämlich nicht in Beliebigkeit versacken. Denn ihrem Zweck entsprechen müssen die Bauwerke nun einmal, da führt kein noch so einfallsreicher Weg vorbei, und irgendwie aussehen werden sie auch, selbst wenn dem Baumeister gar nichts einfiel. 


Das ist eine Herausforderung, um die, vielleicht ohne es zu wissen, mancher Künstler den Architekten beneidet. Denn dass es für sie keine Herausforderungen mehr gibt, sieht man den Werken so vieler Maler leider an.
JE  

Donnerstag, 20. Februar 2014

Das Neue.

aus NZZ, 15. 2. 2014                                                                                                    L. Mies van der Rohen, Neue Nationalgalerie

Das Neue als Sucht oder Suche
Betrachtungen zur Frage der Notwendigkeit formaler Innovation in der Architektur

von Tom Schoper 

Eine grundlegende Frage beschäftigt die Architektur seit der Moderne: Wie neu muss ein Bauwerk in seiner Formensprache sein, um zu überzeugen? Am Beispiel von Peter Zumthors «Werkraum Haus» in Andelsbuch im Bregenzerwald lässt sich dieses Phänomen in der zeitgenössischen Architektur kontrovers diskutieren. 

Woran bemessen wir die Qualität von Architektur? Jedem mögen eigene Kriterien dazu einfallen: die Schönheit der Räume, die Harmonie der verwendeten Elemente, die Selbstverständlichkeit im Gebrauch. Vonseiten der entwerfenden Architekten kommt ein weiteres Kriterium: die Neuheit der architektonischen Form. Diesem selbstauferlegten Sog folgen die Architekten in unterschiedlicher Weise - meist durch das, was man von aussen als speziellen «Stil» des Architekten bezeichnet. 

Nicht selten aber werden aus Stilismen reine Stilblüten, insbesondere, wenn das vermeintlich Neue nicht so neu ist, wie es zunächst erscheint. Die Architekturzeitschrift «Bauwelt» hat lange auf ihrer «Letzten Seite» unter der Überschrift «Original und Fälschung» das architektonische Abwandeln bereits bekannter Entwürfe gebrandmarkt. Üblicherweise waren in dieser Kategorie jene Architekturbüros vertreten, die noch keinen eigenen Stil entwickelt hatten. Nun aber betrifft diese Frage nicht mehr Büros, die im Wettbewerbsstress schlecht kopiert haben und dabei erwischt wurden; nun wird in Kommentaren im Internet ein Meister der Architektur der Kopie bezichtigt. Was ist geschehen?

Mimesis, Metamorphose, Innovation

Im Sommer des vergangenen Jahres ist im kleinen Ort Andelsbuch im Bregenzerwald ein neues Gebäude von Peter Zumthor eröffnet worden, das «Werkraum Haus». Es dient als Ausstellungsraum für Handwerksfirmen und Objektgestalter aus der näheren Umgebung; es ist zu verstehen als Bühne für die in den vergangenen Jahren aufgekommene Rückbesinnung auf handwerkliche Tradition im Bregenzerwald. Bauten des Pritzkerpreisträgers Peter Zumthor werden üblicherweise medial schnell verbreitet und überschwänglich gelobt - doch in Bezug auf das «Werkraum Haus» hält sich die Zahl der Publikationen in Grenzen. Ist es das Gebäude nicht wert, besprochen zu werden? Ist es qualitativ nicht gut gemacht? Das trifft es nicht; und doch haftet dem Objekt ein scheinbarer Makel an, mit dem die zeitgenössische Architekturdebatte (noch) nicht recht umzugehen weiss: Das Gebäude ist in seiner Erscheinung nicht so ausdrücklich «neu», wie es die Architektenszene möglicherweise erwartet oder gewünscht hätte. Dem schnellen Blick erscheint es vielmehr als Nachbildung eines omnipräsenten Vorbildes: Ludwig Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie aus den späten 1960er Jahren in Berlin [s. Kopfbild].

Peter Zumthor, Werkraum Haus 

Angesichts des breiten schwarzen Dachrahmens, der umlaufenden Verglasung und der beiden eingestellten massiven Kerne scheint dieser Vergleich auf der Hand zu liegen. In etlichen Online-Kommentaren wird diese Analogie herangezogen, die Szene reagiert verwirrt bis verärgert, wenngleich die wenigsten der Kommentatoren das «Werkraum Haus» selbst vor Ort gesehen haben dürften, und Begriffe wie «Plagiat» und «Kopie» machen vorschnell die Runde. Dass man einem unbestrittenen Meister nicht mit solchen Urteilen beikommt, versteht sich angesichts der architektonischen Leistungen Zumthors von selbst. Und doch erscheint an diesem Phänomen ja gerade interessant, dass ein anerkannter Schöpfer des «Neuen» der Kopie verdächtigt wird. Das Symptom der Diskussion ist hier also von Interesse: Warum diese vehemente Forderung nach dem Neuen? Oder anders gefragt: Wie «neu» muss ein Gebäude sein, um zu überzeugen?

Fragen wir zunächst danach, woher diese ständige Suche nach dem Neuen in Kunst und Gestaltung rührt. Ein Blick auf die Geschichte der Gestaltung erlaubt es uns, daraus eine Entwicklung der inneren Gesetzmässigkeit, der Motivation zum Neuen hin abzuleiten. In ihrem Ursprung, d. h. ausgehend von der Antike, ist die künstlerische Gestaltung «Mimesis», also Nachbildung der Natur, egal, ob in der Malerei, der Bildhauerei oder der Dichtkunst. In diesem Denkraum ist der beste Künstler derjenige, der handwerklich dem Ideal der Natur weitestgehend nahekommt. Die Geschichte vom antiken Wettstreit der «Trauben des Zeuxis» fasst dieses mimetische Ideal in eine anschauliche Anekdote mit überraschendem Ausgang (da nicht Zeuxis der Sieger des Wettstreites ist, an dessen Bild der Trauben die Vögel picken, sondern sein Rivale Parrhasios, der einen Vorhang malt, den sogar Zeuxis wegzuziehen versucht!). In der Architektur dagegen zeigt sich die Mimesis als ein strenges Befolgen eines einmal gefundenen Bautyps: Jeder Tempel ist Abbild eines bestehenden Typus. Es gibt nicht schöne oder weniger schöne Tempel - es gibt nur Tempel als solche.

Friedrich August Stüler, Alte Nationalgalerie, Berlin

Mit dem Humanismus und der Renaissance findet im 14. Jahrhundert ein neuer Begriff Eingang in das künstlerische Schaffen: das Konzept des «disegno», hinter dem wir schon den uns vertrauten Begriff des Designs bemerken. Nach Francesco Petrarca gibt diese erweiterte Konzeption von Gestaltung nun dem Künstler die Möglichkeit an die Hand, gemäss seiner eigenen Interpretation zu gestalten, also nicht nur darzustellen, was er in einem Gegenstand objektiv erkennt, sondern, was er subjektiv darin sieht. Dieses Konzept eröffnet dem Künstler eine neue Position des eigenen Schaffens. Die gestaltete Welt wird zu einem «Pergament», auf dem Künstler, Musiker, Schriftsteller, Architekten ihre Sichtweise im Sinne eines «Ausdrucks», einer «Aussage» in das Werk einfliessen lassen. Dieses repräsentiert damit mehr als dasjenige, was der Betrachter konkret vor sich hat, es verfolgt eine Intention, eine (durchaus auch politisch-zielgerichtete oder belehrende) Aussage, die über das eigentlich Sichtbare hinausgeht. Solange die Welt der Gestaltung dabei noch dem institutionalisierten Ideal des Schönen, Guten, Wahren folgt (in wechselseitiger Ergänzung zueinander), sind die in den Werken getroffenen Aussagen in unseren heutigen Augen allerdings nicht radikal «neu», vielmehr geprägt von einer grundlegenden Ähnlichkeit und einer sanften Metamorphose.

 
Schinkel, Altes Museum, Berlin

Die Aufklärung, insbesondere Kants «Kritik der Urteilskraft», überantwortet schliesslich das gesellschaftliche Gestalt-Ideal dem Geschmack des einzelnen Subjektes. In diesem Gedankengut, im Zurückdrängen des Religiös-Metaphysischen und Gottesfürchtigen zugunsten des durchgreifenden Prinzips des Rationalen, entsteht letztlich der Glaube an das radikal Neue. Denn wo Gott tot ist, wie Nietzsche schliesslich formuliert, da sucht der Mensch nach einem selbstgestalteten Äquivalent. Es reicht nicht mehr allein die Nachbildung der Natur als Schöpfung Gottes, wie sie als «Mimesis» über Jahrtausende das Wesen der Kunst ausgemacht hatte; in seiner selbstbestimmten Mündigkeit zielt der Mensch auf die eigene Schöpfung, auf das Neue aus eigener Hand. Boris Groys umschreibt dies in seinem Buch «Über das Neue» (1992) wie folgt: «Seit der Aufklärung wird von dem Schöpfer eines <neuen> Werkes verlangt, er solle alle Traditionen, Vorurteile, Fertigkeiten und Formen der äusseren, rationalen Kontrolle abwerfen und die verborgenen Kräfte zur Macht kommen lassen (. . .).» Auf der Ebene von Kunst und Gestaltung zielt das Erschaffen damit auf eine andauernde Hinterfragung der Gegenstände des Alltags und ihrer Wahrnehmung. Macher und Betrachter sind gleichermassen aufgefordert, sich einem Objekt anzunähern, welches nicht mehr durch objektive Ähnlichkeit unserer gewohnten Lebenswelt entspricht, sondern welches die Lebenswelt durch seine eigene «Objektität» durchstösst und damit auf die Wahrnehmung des Einzelnen zielt.

Schinkel. Neue Wache, Berlin

Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty hat diesem Streben besonderen Ausdruck gegeben, wenn er schreibt: «Das Sein verlangt Schöpfungen von uns, damit wir es erfahren.» Das gestaltende Hervorbringen entspringt einer ursächlichen Suche nach der Wahrheit unseres Seins. Die Schöpfungen, welche die Kunst, die Musik, die Literatur oder die Architektur hervorbringen, werden zu Gegenbildern unserer selbst, in denen wir den Sinn unseres Daseins zu entschlüsseln suchen.

Vom Abbild zum Affekt

Der Existenz- und Erkenntnis-Sinn eines Werkes liegt damit nicht mehr in der Wiederholung einer bereits gemachten Erfahrung oder in dem Wiedererkennen von Objekten, sondern in der Herausforderung einer neuen Erfahrung: vom Abbild zum Affekt. Der Betrachter soll berührt werden durch das Werk - nicht belehrt. Der Affekt aber besteht auf seiner Alleinstellung. Kommt es im Modus unserer zeitgemässen Affekt-Erwartung zu einer mimetischen Wiederholung, so ist das Wesen der Suche nach dem Neuen untergraben: Die Wiederholung eines bereits bekannten Reizes entspricht nicht der Erwartung, das Erlebnis gleicht daher einer Enttäuschung. Die Suche nach immer neuen Wahrnehmungserfahrungen wird so mehr und mehr zu einer Sucht, die alle Gestaltungsdisziplinen im Griff hat, ohne differenzierte Sicht auf die spezifischen Charakteristika der Disziplinen selbst. Die Paradoxie dieses Phänomens für die Architektur liegt in der doppelten Richtigkeit der sich hier entgegenstehenden Aussagen: Denn weder will man sich der Monotonie und Selbstgenügsamkeit einer Umwelt ohne gestalterische Impulse aussetzen, noch will man sich die visuelle Lautstärke einer Welt vorstellen, die nur auf den Affekt des Neuen setzt.

 
Leo v. Klenze, Walhalla 

Gegen den Teufelskreis des Neuen, der um des Neuen willen neue Formen gebiert, der den Inhalt und die darin beheimatete Idee einer Architektur aber vernachlässigt, hat Peter Zumthor immer schon gearbeitet - und hat auf seine Weise in seinen Werken Räume geschaffen, die unsere Wahrnehmung mit ungeahnten Erfahrungen bereichern. Denn, wie Zumthor richtig bemerkt, der vermeintliche Mehrwert des Neuen liegt nicht im sogenannten Bilbao-Effekt begründet, weil Bauten wie das Guggenheim-Museum von Frank O. Gehry nicht die Architektur selbst, ihren Raum und ihren Gebrauch, sondern das Besondere an der Baugestalt, das Sensationsdenken um das Gebäude und damit einen momentanen touristischen Mehrwert in den Fokus der Auseinandersetzung rücken. Zumthor dagegen sucht in seinen Entwürfen - von den frühen Schutzbauten über römischen Ruinen in Chur (1986) über die Kapelle in Sogn Benedetg (1988) und die Therme Vals (1996) bis zum Museum Kolumba (2007) in Köln - jeweils nach «passenden Bildern». Für den Betrachter waren diese angemessen «uneindeutig» in ihrem Ursprung. Es waren Bilder, die für ein Anonym-Vertrautes in der Architektur standen und aus denen Zumthor in seiner spezifischen Umformulierung dann eine Gestalt gewonnen hat, der man durchaus das Prädikat «neu», vor allem aber das Attribut «angemessen» verleihen konnte.

Jean-Jacques-Marie Huvé, Église de la Madeleine, Paris 

Im «Werkraum Haus» scheint sich Zumthor aber anders als sonst in seiner Arbeitsweise der Abwandlung passender Bilder zu versagen. Oder ist das hier gewählte Vorbild des schwebenden schwarzen Gitterrostes schlicht zu stark, zu prägend, zu wenig anonym und damit in seiner ursprünglichen Autorschaft zu bindend?

Das Neue jenseits der neuen Form

Zumthors Entwurfsstrategie gleicht hier einer Suche nach dem Grundprinzip «Ausstellungsraum». Was braucht es dazu? Ein Dach, eine transluzente Hülle sowie massive Kerne zur konstruktiven Aussteifung und zur Aufnahme von Nebenräumen. In diesen wenigen architektonischen Elementen findet sich die Idee «Öffentlicher Schaukasten» wieder - und nolens volens wohl auch die formale Verwandtschaft zur Nationalgalerie. Ist umgekehrt also die Forderung nach Neuheit der Form angesichts der Fülle an architektonischer Produktion und ihrer medialen Verbreitung schlicht überholt? Der Wert der von Zumthor vorgenommenen analogen Anpassung mag in diesem Sinne darin liegen, das grundlegend Architektonische hier über das subjektive Erlebnis zu stellen, quasi als Gegenmotiv zum Neuheitsdogma. In der Berliner Nationalgalerie erkennt Zumthor ein grundlegendes architektonisches Prinzip, das als strukturelle Idee auch anderweitig nutzbar sein mag und das auf diese Weise «geerdet» wird. Das «Werkraum Haus» ist somit eine rein prinzipielle Betrachtung zum Typus Ausstellungsraum. Er führt das Besondere zum Allgemeinen zurück, er stellt die Idee des Raumes über die Autorschaft. Darin können wir eine übergeordnete Botschaft lesen: Architektur wird hier als kulturelles Prinzip aufgefasst, nicht als Objekt eines Starkultes, nicht als Kunstwerk mit Anspruch auf Einzigartigkeit; eine «Mimesis» im Gewand eines Readymade. Das Neue ist nicht die Form als solche, sondern ihre Wirkung und Wertung vor Ort.

Maison Carrée, Nîmes 

Doch ist das Readymade ein Prinzip, das in der Architektur funktioniert? In der Literatur vermag die «Kopie» als eine witzige, ironisch-intellektuelle Spielerei zu erscheinen, so wie Jorge Luis Borges in seinem «Pierre Menard. Autor des Quijote» die Geschichte des Cervantes Jahrhunderte später von dem Autor Menard wortgleich nachbilden lässt - doch Borges schreibt nur über die Kopie, er lässt den Leser nicht die Kopie selbst lesen. Auch in der Kunst würde niemand die Brillo-Boxes aus Andy Warhols Factory eine Kopie nennen - die Nachbildungen von Kartons mit Putzreinigern gelten als Kunstwerke, als Kommentar zu unserem Konsumverhalten, damit zu uns selbst. In der Architektur aber steht die konkrete Existenz eines Bauwerks über seiner Interpretation. Der Architektur fehlt der repräsentierende Rahmen der Galerie oder des Museums, der gleichermassen Schutzmantel vom Alltag ist, wie er Interpretationsmöglichkeiten für die ausgestellten Objekte eröffnet. Architektur lebt mehr vom Erleben als vom Interpretieren.

Neuheit oder Angemessenheit

Zudem gilt in der Architektur neben der Neuheit ein weiteres Kriterium, das in den benachbarten Gestaltdisziplinen der Kunst oder der Literatur einen geringeren Stellenwert hat: Es ist die Angemessenheit - in ökonomischer, ökologischer, aber auch in semantischer Hinsicht. Es verbirgt sich dahinter die Frage, welche Aussage von der Form ausgeht. Wesentlich für das architektonische Werk ist also das Verhältnis von formaler Neuheit und semantischer Angemessenheit. Und auch wenn das Publikum nach Neuheit ruft, so tut der Architekt doch gut daran, diesem Ruf nicht blind zu folgen; denn die Frage sollte weniger lauten, ob das «Werkraum Haus» als architektonische Form «neu» ist - wesentlicher ist es zu fragen, ob seine Form in der Analogie zum Miesschen Vorbild «angemessen» ist. Und hier können wir mit unserer Kritik sicherer ansetzen: Denn wenn, worauf man sich allgemein verständigt hat, die Nationalgalerie ein «Tempel der Kunst» ist, soll dann das «Werkraum Haus» ein «Tempel des ländlichen Möbelbaus» sein? Mit anderen Worten: Stimmen hier die semantischen Proportionen?


Parthenon, Athen 

Eine ernstzunehmende Kritik am «Werkraum Haus» fragt also nicht nach Kopie oder Plagiat - denn ein einfacher Blick reicht aus, um diese Verdächtigung im Detail zu widerlegen. Doch steht das «Werkraum Haus» als Bauwerk mehr für die Wiederholung einer bereits gemachten Raum-Erfahrung und repräsentiert damit auch die Bedeutungen seines Vorbildes. In diesem Sinne ist vielleicht die harsche Kritik in den Social Media zu lesen: Indem Zumthor einem bekannten Prinzip folgt, hat er eine erwartbare Antwort gegeben und die Hoffnung auf eine neue Erfahrung (nach Merleau-Ponty) nicht erfüllt; die erwartbare Antwort aber sagt uns nur, was wir bereits wissen.

Dr. Tom Schoper lehrt an der Architekturfakultät der TU Dresden und untersucht die Wechselbeziehung von Architektur, bildender Kunst und Philosophie.

Franz J. Gehry, Starwood Hotel, Riscal, Baskenland; nach dem Guggenheim Museum im benachbarten Bilbao auch nicht mehr ganz neu.


Kommentar.

Seit in der Malerei das historisch-motivisch-Thematische hinter das rein-Ästhetische zurückgetreten ist, wurde das Neue allerdings zu einer notwendigen Bedingung der Bildenden Kunst. Nicht mehr sein Gegenstnd kann das Werk rechtfertigen, sondern allein seine ästhetische Qualität. Und die muss, je mehr man "alles schon mal gesehen hat", eine neue sein: Der Künstler rechtfertigt sich, indem er dem Publikum die Augen öffnet für etwas, das vorher nicht sichtbar war.

Da müssen sie sich seit gut einem halben Jahrhunderet immer fester an den Finger saugen, damit was kommt, und die Unken im Tümpel lassen vernehmen: "Das Tafelbild ist erschöpft, mit der Malerei geht es zu Ende."

Die Architektur ist keine Bildende Kunst, sondern ein nützliches Handwerk. Sie schafft Räume, die für Zwecke bestimmt sind. Wenn sie ihrem Zweck gerecht werden, gefällt es dem Bauherrn - aus Interesse. Aber Bauwerke stehen, je größer sie sind, umso auffälliger, in der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit fragt, soweit sie nicht selber zu den Nutzern zählt, nicht nach der Funktion, sondern "ob es in seine Umgebung passt". Darüber kann gestritten werden; aber nicht dafür baut der Architekt ein Haus, sondern damit es eben seinen Zwecken entspricht. 

Repräsentation gehört zu den möglichen Zwecken eines Bauwerks (und eines Gemäldes, solange Kunst auch aus Interesse gefallen sollte). Dies auf der einen, der zwie- oder mehrspältige Anspruch der Öffentlichkeit, 'dass es in seine Umgebung passt', auf der andern Seite eröffnet der Architektur einen weiten ästhetischen Spielraum; macht sie aber nicht zu einer Bildenden Kunst. Macht die Architekten nicht zu Künstlern, aber womöglich zu mehr als das. Anders als jene können sie nämlich nicht in Beliebigkeit versinken. Denn ihrem Zweck entsprechen müssen die Bauwerke nun einmal, da führt kein noch so einfallsreicher Weg vorbei, und irgendwie aussehen werden sie auch, selbst wenn dem Baumeister gar nichts einfiel. 

Das ist eine Herausforderung, um die, vielleicht ohne es zu wissen, mancher Künstler den Architekten beneidet. Denn dass es für sie keine Herausforderungen mehr gibt, sieht man den Werken so vieler Maler leider an.
JE