Sonntag, 29. Juni 2014

Architekten und Ingenieure.

Zusammenklang von Architektur und Ingenieurtechnik – Santiago Calatravas rechtswissenschaftliche Bibliothek der Universität Zürich. 
aus nzz.ch, 29. 6. Santiago Calatravas rechtswissenschaftliche Bibliothek der Universität Zürich

Architekt und Ingenieur
Die Unteilbarkeit der Baukunst



Der Homo Faber, wie ihn Max Frisch geschaffen hat, war ein Ingenieur, ein Mensch, der alles im Reich der Technik begriff und die Welt auf das Machbare, das Funktionierende reduzierte. Mit dieser – alles andere als untypischen – Einstellung hat er sich in eine selbstgewählte Isolation begeben, die im Metier selbst keineswegs angelegt ist. Denn Ingenieure wie Architekten beziehen sich auf ein und dasselbe: den Baumeister. Gleichwohl ist das heutige Verhältnis zwischen Architekten und Ingenieuren – freundlich gesagt – verbesserungsfähig. Wenn diese auf jene gucken, dann häufig mit boshafter Distanz. Erinnert sei hier an das Speichenrad. Hier herrscht die Meinung, dass man dieses Pars pro Toto als Werk eines Ingenieurs sehen müsse: Die Felge mit ihrem Querschnitt zur Aufnahme des Reifens, die spannbaren Speichen, ihre Abwicklung, die Nabe, der Schlauch, das alles macht ein komplexes, wiewohl überzeugendes Produkt. Hätte man einen Architekten mit dem Entwurf eines Fahrrads beauftragt, so wäre unter Umständen aus einem Vollwandmaterial eine Kreisscheibe ausgeschnitten und rot, gelb oder blau angemalt worden. Umgekehrt lassen sich die Architekten zumeist nicht lumpen, wenn es die Fähigkeiten und Leistungen des Ingenieurs zu «würdigen» gilt: etwa als «Zahlenknecht», der über die Berechnung der Biegesteifigkeit die Komplexität der Entwurfsanforderungen aus den Augen verliert.

Zweckerfüllung ohne Gestaltungswillen

Sind solche Zuschreibungen schon recht ernüchternd, so fällt der Befund insgesamt noch schwerwiegender aus: Unter dem Stichwort Baukultur guckt man – mit Ausnahme der Brücken, die derzeit ja viel Aufmerksamkeit erfahren – nicht auf jene zahlreichen Errungenschaften, die als Ingenieurbauten subsumiert werden: Strassen, Eisenbahnlinien, Starkstromleitungen, Kraftwerke und Müllverbrennungsanlagen, Kläranlagen, Wasserwerke und Sendemasten. In diesen Bauwerken steckt ein Investitionsvolumen, das dem in Architektur und Hochbau zumindest ebenbürtig ist. Sie stehen zumeist unübersehbar in der Landschaft und werden doch kaum wahrgenommen. Das Auge hat sich an ihre Belanglosigkeit gewöhnt. Das sind «Zweckbauten», lautet die stille Übereinkunft, und es verbietet sich fast, an sie besondere Ansprüche zu stellen. Warum eigentlich?

Coalbrookdale-Bridge über den Fluss Severn

Offenbar tut es Not, daran zu erinnern, dass es Ingenieurbauten waren, die die Architektur revolutionierten: Abraham Darbys Coalbrookdale-Bridge über den Fluss Severn, zwischen 1775 und 1778 als erste gusseiserne Brückenkonstruktion verwirklicht, ebenso wie achtzig Jahre später Joseph Paxtons Crystal Palace zur Weltausstellung in London. Solche Eisenkonstruktionen, meinte vor fast hundert Jahren der Kunsthistoriker A. G. Meyer, bedürften zu ihrer Entstehung arithmetischer Operationen und algebraischer Formeln, und dies sei eine Angelegenheit, die sich durchaus auf rationalem Boden abspiele. Damit aber sei es nicht getan, denn das Rechnen ziele auf das Bauen ab, setze also einen anderen Schritt voraus, welcher erlaube, sich das fertige Gebilde schon vor seiner Entstehung bildlich vorzustellen. Also das Ende eines synthetischen Weges, auf dem sich konstruierende Verstandestätigkeit und sinnliche Vorstellungskraft – jenes Vermögen, das gemeinhin den Künstler auszeichnet – vermählen.

Crystal Palace

Allerdings scheint die Mehrzahl dieser Zweckbauten seit dem Zweiten Weltkrieg keine allzu grosse Herausforderungen an die Erfindungsgabe der Entwerfer gestellt zu haben. Es ist müssig zu diskutieren, was Ursache und Wirkung dieses Phänomens ist, ob Unkenntnis der grundlegenden statischen Prinzipien seitens der Architekten zu einer Verkümmerung des Formenrepertoires führte oder ob im Gegenteil die aus einer philosophisch-künstlerischen Haltung entsprungene Selbstbeschränkung den Verlust dieses Wissens verursachte. Hat der Berufsstand der Bauingenieure seinen Blick von allem abgewendet, was jenseits des numerisch Fassbaren liegt? Vernachlässigt er den intuitiven Zugang, die imaginativen bildhaften Methoden der Lösungsfindung?

Gewiss gibt es hervorragende Beispiele für die virtuose Gestaltung von Tragwerken. Persönlichkeiten wie Nervi, Maillart, Candela haben sie hervorgebracht. Zunächst also Ingenieure, die einen ausgeprägten Sinn für Form, Gestalt und Harmonie besassen. Sie hatten teilweise noch zusätzlich als praktizierende Unternehmer Einflussmöglichkeit auf die Ausführung ihrer Bauten. Auch Architekten wie Buckminster Fuller, Konrad Wachsmann oder Jean Prouvé schufen Beispielhaftes, insbesondere auf dem Gebiet der Formfindung, Konstruktion und industriellen Fertigung.

Buckminster Fuller, Dymaxion House 1927

Unter den Zeitgenossen spielt namentlich Santiago Calatrava eine eminente Rolle, da er sich gleichermassen als Konstrukteur und Baukünstler versteht, wie etwa der Zürcher Bahnhof Stadelhofen oder die Bibliothek des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich zeigen. Bei der Bibliothek implementierte er in den Kern eines Altbaus eine ovale, sechsgeschossige Stahlkonstruktion mit elaborierten Details und von verblüffend schwereloser Wirkung. Der geschwungene Raum fliesst harmonisch, um sich nach zwei Seiten hin zu verjüngen. Unter einer Glaskuppel werden hier unterschiedliche bauliche Strukturen so spektakulär wie detailversessen integriert. Auch der 2007 verstorbene Tessiner Architekt Livio Vacchini offenbarte sich immer wieder als Anhänger der Ingenieurskunst, etwa in der skulptural facettierten Müllverbrennungsanlage bei Bellinzona. Diese ist weniger ein Zweckbau in einer einprägsamen Form als vielmehr Ausdruck des Versuchs, eine Vielzahl von Aspekten und Funktionen in einen einzigen, logischen Körper einzubinden, dessen Massen, Hohlräume und Aufrisse aufgrund präziser Geometrien entworfen und wirkungsvoll zur Geltung gebracht wurden.

Livio Vacchini Müllverbrennungsanlage bei Bellinzona

Welche Art Denken, Arbeiten, Planen, Entwickeln kann zu solch integrativen und innovativen Meisterleistungen führen? Für die Suche nach Neuem sind ja nicht unbedingt freie Experimentierfelder nötig, kann sie doch auch innerhalb eines strikten formalen Kanons erfolgen. Man denke nur an die Kathedralbaumeister, die, typologisch, liturgisch und statisch-konstruktiv eingeschränkt, trotzdem lebhaft – und mit Erfolg – laborierten.

Kooperation im kreativen Prozess

Nun ist allerdings die Kooperation in einem schöpferischen Akt nicht so einfach. Weder lässt sie sich postulieren oder verordnen, noch führt sie zwangsläufig zum Erfolg. Es ist sogar fraglich, ob der eigentliche kreative Akt des konzeptionellen Entwerfens in Teamarbeit geleistet werden kann. Zumindest spricht einiges dafür, dass es einen Spiritus Rector geben muss, der den Entwurf durchgängig bestimmt. Die beeindruckende Stadionanlage, die anlässlich der Olympischen Spiele von 1972 in München realisiert wurde, ist das Produkt einer Idee: des Architekten Günter Behnisch. Dass sie verwirklicht werden konnte, verdankt sich aber wesentlich der Arbeit von Ingenieuren. Zumindest die wichtige Phase der Verifizierung wurde massgebend von Fritz Leonhardt, Frei Otto und Jörg Schlaich mitgetragen. Offensichtlich war die Idee stark genug, um bei der Vollendung des kreativen Prozesses mitzuwirken und eine neue, unpathetische und leichtfüssige Architektur durch eine innovative, anspruchsvolle Technik zu zeitloser Baukunst aufzuwerten.

Olympiastadion, München

Es ist freilich nicht mit der Forderung getan, dass der Ingenieur Gestaltungskompetenz erwerben muss. Zumal das eigentliche Problem heute weniger in der Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst liegt als vielmehr in der fortschreitenden Erosion von Kultur ganz allgemein. Wenn sich alles nur noch darum dreht, so billig wie möglich zu bauen, dann avanciert der Bauunternehmer, der sich im Allgemeinen nicht um kulturelle Werte schert, zur Zentralfigur. Und mit ihm, so Richard Rogers, «steigt dann ein neuer Typ des Ingenieurs empor, der ‹Buchhalter-Ingenieur›, der eine echte Gefahr bedeuten kann, denn Buchführung sucht nicht nach Langzeitlösungen, sondern rechnet kurzfristig». – Wenn es stimmt, dass Baukunst unteilbar ist, dann kann es keine getrennte Verantwortung für die Gestalt einerseits und die Statik andererseits geben. Architekten und Ingenieure müssen eine neue Kreativität im Zusammenspiel entwickeln – und diese für Qualität nutzen.

Robert Kaltenbrunner ist Architekt und arbeitet beim Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung in Bonn und Berlin.
Modellino di rivellino, da un disegno di Leonardo da Vinci


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