Sonntag, 1. Juni 2014

Malevitch in Bonn und Basel.

Ein Ausbruch aus der «Leere» der geometrischen Form? «Bauern» von Kasimir Malewitsch, 1930er Jahre, Öl auf Leinwand.
aus nzz.ch, 31. Mai 2014, 05:30                                                                                                        Bauern, 30er Jahre




«Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde» – eine Ausstellung in Bonn
Besiegte Sonne


Mit seinem «Schwarzen Quadrat» schuf Kasimir Malewitsch 1915 eine Ikone der modernen 
Malerei. Die derzeit in Bonn gastierende Gross-Retrospektive zu diesem Heros der Avantgarde betont jedoch, dass gegenstandslose Werke in seinem Schaffen nur eine Episode bildeten.

Das Universum? Ein weisser Abgrund, durchpulst von unsichtbaren Kräften. Aus seiner unermesslichen Tiefe schweben schattenlose geometrische Farbflächen heran: Das ist Kunst für Menschen, die aus philosophischen oder spirituellen Gründen darauf verzichten können, sich durch das Betrachten gemalter Figuren oder Objekte der sichtbaren Alltagswirklichkeit zu versichern. In der suprematistischen Kunst, die der russische Maler Kasimir Malewitsch (1878–1935) zur Zeit des Ersten Weltkriegs kühn aus der Taufe hob, ging es – wie der Begriff schon sagt – um Hohes und Höchstes. Blosse Abstraktion von Objekten oder Figuren reichte diesem Meister anders als so vielen anderen Schrittmachern der Avantgarde nicht; sein Suprematismus entfaltete sich in und aus einer metaphysischen Sphäre radikal jenseits der gegenständlichen Welt.

Arbeiterin, 1933.

Ikonen ohne Heilige

Einen wichtigen Ansatzpunkt zum Verständnis suprematistischer Bilder bietet die russische Ikonenmalerei. Dort ist die Bedeutung der Farben hierarchisch gestuft: Gold gehört zu Gott, Blau steht für den Geist und Rot für die Schönheit. Zu diesen drei überirdischen Farben kommen in den Ikonen zwei irdische: Rosa symbolisiert Frühling und Geburt, Grün das Leben, während Schwarz und Weiss Ende und Anfang markieren. Dieser Hintergrund schwingt auch in Malewitschs gegenstandslosen Kompositionen mit, welche – allerdings bar jedes erzählerischen Moments – die Existenz des Menschen in einem als gewichtlos verstandenen Universum zur Anschauung bringen sollen.

Suprematismus, 1915.

Überfülle und eiserne Ökonomie der formalen Mittel berührten sich bei diesem Künstler unmittelbar. 1915 übermalte er eine zunächst farbige Komposition mit seinem legendären «Schwarzen Quadrat» – dieser bis heute folgenschweren Keimzelle totaler künstlerischer Autonomie. Anderthalb Jahre zuvor hatte er zusammen mit dem Komponisten Michail Matjuschin und dem Dichter Alexei Krutschonych in St. Petersburg die provokante Oper «Sieg über die Sonne» zur Aufführung gebracht. Im ersten Akt bezwingen futuristische Kraftmenschen in kubistischen Kostümen den als Symbol für Vernunft und Schönheit dienenden Himmelskörper. Da er der Welt nun fehlt, spielen Zeit oder Richtung in der Handlung des zweiten Aktes keinerlei Rolle mehr. 

Schwarzer Kreis, um 1923

Nach einigem Chaos inklusive eines Flugzeugabsturzes trägt der unverletzte Pilot am Schluss der Vorstellung eine Arie in der für vernunftgesteuerte Wesen absichtlich unverständlichen «Zaum»-Sprache vor. Im Rückblick wertete Malewitsch die frei schwebenden Farbflächen, die – vorerst noch kombiniert mit Fragmenten erkennbarer Gegenstände – seine Bühnenbilder zu diesem irrwitzig ontologischen Zukunftstheater gliederten, als Vorboten des Suprematismus.

Sieg über die Sonne (wann? wo?)

Bauern und Landschaften

Die Radikalität seiner gegenstandslosen Werke hat das übrige Schaffen des rastlos kreativen Meisters lange überblendet. Erstmals im Westen waren 1989 bei der Malewitsch-Retrospektive im Stedelijk-Museum in Amsterdam auch späte Werke aus den Jahren nach 1928 zu sehen. Man rieb sich die quadratisch konditionierten Augen: Mit Darstellungen russischer Bauern oder mit Landschaften unter blauem Himmel hatte man nicht gerechnet! Ob diese Kehrtwende zur gegenständlichen Malerei als Reaktion auf stalinistischen Druck zustande kam oder ob sie nur einen Versuch des Künstlers darstellte, sein 1927 teilweise in Berlin deponiertes Frühwerk zu rekonstruieren, ist immer noch nicht ganz geklärt.

o. T., o. J.

Bei der Rückkehr zur Figuration spielte vielleicht aber auch ein künstlerisches Problem eine Rolle, das jüngst wieder von dem russische Künstler Ilya Kabakov in seiner Bilderserie «Flying» (2009) thematisiert wurde: Das Aussagespektrum der geometrischen Formen des Suprematismus kann sich auf die Dauer schlicht als zu eng erweisen. Wie Kabakov dazu sagt: «War es die Sache wert, so radikal mit der Tradition der bildlichen Darstellung und ihrer humanistischen Komponente zugleich zu brechen, um stattdessen die ‹Leere› anzubieten?» Malewitsch war ein zu leidenschaftlicher Denker, als dass man annehmen möchte, er habe sich diese Frage nicht schon selbst gestellt.

 Blumenmädchen, 1903

Passionierter Pädagoge

Wie auch immer – zweifellos sind suprematistische Erfahrungen in seine späten Figurenbilder mit ihren starken Farben und vereinfachten Formen eingeflossen. Den «Kopf eines Bauern» (1928/29) legte er in je zwei roten und weissen, diagonal versetzten Flächen an und positionierte ihn im Close-up vor einer Landschaft streng gestreifter Felder, die von überirdisch beleuchteten Bäuerinnen bewirtschaftet werden und über denen vier Miniflugzeuge in einen prophetisch dunklen Himmel starten. Ein neuer grosser Stil oder erschöpfte Resignation? Die unterschiedlichen Formcharaktere wollen nicht recht zueinanderfinden, der Bildraum setzt sich aus Kleinigkeiten zusammen, und das bildbeherrschende Bauernantlitz macht den Menschen der Zukunft zum sprachlosen, wenn auch sakral überhöhten Pappkameraden.

Kopf eines Bauern, 1928/29

Mit über 300 Werken präsentiert die derzeit in der Bonner Bundeskunsthalle gastierende, wiederum aus Amsterdam gekommene Retrospektive den ganzen Malewitsch, angefangen bei seinen impressionistischen, symbolistischen und fauvistischen Frühwerken sowie den neoprimitivistischen und kubofuturistischen Bildwelten, die er vor 1915 wie im Zeitraffer durchpflügte, über die Sonnenoper und den Suprematismus bis hin zum oben erwähnten figürlichen Spätwerk.



Kasimir Malewitsch: «Selbstportrait», 1908–1910. Aquarell und Gouache auf Papier.
Selbstportrait, 1908–1910.
 
Hinzu kommen Zeugnisse seiner Lehrtätigkeit an der Spitze der Künstlergruppe Unowis in Witebsk (1919–22) und aus der Zeit seines Direktorats am Staatlichen Institut für künstlerische Kultur (GINChUK) in Leningrad (1924–26), als er nicht nur den malerischen Suprematismus in unheimliche utopische Architekturvisionen übersetzte, sondern mit seinen Schülern auch suprematistische Textilien und Porzellanobjekte entwarf. Naturwissenschaftlich anmutende form- und farbanalytische Diagramme zeigen eine andere Seite dieses sendungsbewussten Pädagogen.
o.T., o.J.

Kunst im Keimstadium

«Also, da ist Bewegung, Formen jedweder Gestalt, Linien, Flächen, Volumen, Punkte und Klänge bildend, in statischen und dynamischen Zuständen, unterteilt in Farbtöne, Farbgebungen, Strukturen, Fakturen, Konstruktion und System.» Der erste Satz in Kasimir Malewitschs Programmschrift «Die Welt als Ungegenständlichkeit» buchstabiert das Grundvokabular der bildenden Kunst wie eine Beschwörung. Alles ist darin enthalten, vom ersten Strich bis zum komplexen Farb- und Formgebilde. Er ruft die Kunst in ihrem Ursprung auf und zeigt damit an, dass er sie neu formulieren will. 

Empfindung des Verklingens, von 1927

Die 1927 im Bauhaus-Verlag erschienene Publikation ist das Manifest des Künstlers und die einzige Schrift, die zu seinen Lebzeiten in westlicher Sprache gedruckt wurde. Malewitsch, 1878 in Kiew geboren, ist der Begründer des Suprematismus, der Bewegung, die sich analog zum Beginn der abstrakten Moderne im Westen formierte. Mit der «Welt als Ungegenständlichkeit» hatte er ein Werk geschaffen, in dem Text und Illustrationen gleichwertig komponiert sind. Beide sind daher auch die Basis der forscherisch konzipierten Ausstellung im Kunstmuseum Basel

Landschaft mit 5 Häusern, um 1932

Britta Dümpelmann, die Kuratorin, hat Malewitschs Schrift in neuer Übersetzung herausgegeben und umfassend kommentiert. Mit einem Konvolut von rund 50 Zeichnungen aus der Grafischen Sammlung des Kunstmuseums wird die analytische Untersuchung der Kunst lesbar gemacht; einige Gemälde aus dem Frühwerk des Künstlers, Fotos und Schriftmaterial ergänzen die dicht angelegte Schau. Selbstverständlich ist auch die Ikone der abstrakten Moderne präsent, das «Schwarze Quadrat». Ein vergilbtes Blatt von 1913 zeigt das Grundelement des Suprematismus als schlichte Bleistiftzeichnung. Für Malewitsch war das «Schwarze Quadrat» die Keimform, aus der alles entstehen konnte, die essenzielle Botschaft seiner Kunst. Wie alle Skizzen birgt sie das Geheimnis 

des Anfangs mehr als das fertige Bild. So ist es eigentlich mit jedem Werk der auf den ersten Blick ein wenig trocken wirkenden Ausstellung. Lässt man sich auf das serielle Lesen der Blätter, auf die Striche, Kurven, Kreuze und Häkchen ein, offenbart sich ein Denken in Chiffren, das nichts Geringeres will als eine neue künstlerische Weltordnung. Hier wird am besten deutlich, wie Malewitsch Text und Bild zur Einheit verbindet, um seine Mission für die Nachwelt festzuhalten.
 
Das Besondere an der jetzigen Retrospektive, in deren Katalog ärgerlicherweise trotz einzelnen Abbildungen nicht ausgestellter Stücke eine Exponatenliste fehlt, ist die grosse Zahl von Werken aus der heute in Amsterdam bewahrten Stiftung des Literaturkritikers Nikolai Chardschijew (1903–96), die Malewitsch vor allem als Zeichner entdecken lassen, und aus der inzwischen in Thessaloniki beheimateten Sammlung von George Costakis. Dabei beleuchtet die Schau mit kleineren Werkgruppen von Kollegen oder Adepten Malewitschs wie Michail Larionow, El Lissitzky, Gustav Klucis und Ilja Tschaschnik punktuell sein künstlerisches Umfeld. Wer sich intensiver mit seiner Rolle als Theoretiker beschäftigen will, der wird im Kunstmuseum Basel die gleichzeitige Schau «Kasimir Malewitsch. Die Welt als Ungegenständlichkeit» (bis 22. Juni) beachten.

Kasimir Malewitsch und die russische Avantgarde. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn. Bis 22. Juni 2014. Anschliessend in der Tate Modern, London. Katalog (Kerber-Verlag, Bielefeld) € 32.–.

Suprematist Ornaments originally 1927, recreated by Paul Pedersen, 1978, Centre Georges Pompidou Paris

Nota .

"Das Aussagespektrum der geometrischen Formen des Suprematismus kann sich auf die Dauer schlicht als zu eng erweisen" - ach, das ist mal hübsch gesagt; und so rücksichtsvoll! Wie Sie es verstehen dürfen, erkennen sie auf dem Bild gleich darüber. Der Suprematismus verliert sich in dekorativer Tändelei.

Erlauben Sie, dass ich mich wiederhole:

"Es gehört sich, über Malevitch nur Anerkennendes zu sagen. Nichts gegen die Anerkennung; aber man muss auch mal was anderes sagen können. Nämlich: Dass Malevitch es der stalinistischen Kulturpolitik verdankt, dass er nicht selber einsehen musste, wie sehr sich seine suprematistische Manier schon von allein totgelaufen hatte. 

Noch heute ist es ja so, dass einem die erste Begegnung mit Malewitsch sozusagen die Augen auswischt. Bei mir liegt sie nun aber schon eine ganze Weile zurück, und seit es das Internet gibt, habe ich eine Menge gesehen. Und irgendwann war's mir genug. Angefangen bei einem schwarzen Quadrat; und dann hier angekommen:


Suprematismus N° 56

Da ist nichts mehr klar, nichts mehr radikal, nichts mehr eindeutig-fraglich. Das kann man tausendmal variieren, auf den Kopf stellen, die Seiten verkehren, die Farben ändern, statt der Rechtecke Kreise einsetzen - es ist Manier.

Und zwar wohl nicht aus malerischen, sondern aus doktrinären Motiven. Das macht die Sache suspekt. Manch anderer ist beim Malen mit einer gewissen Folgerichtigkeit auf die Abstraktion gekommen - die Landschaft hat dabei eine treibende Rolle gespielt. Bei Malevitch habe ich den Eindruck - ich bin kein Kunsthistoriker, ich kann mir solche Mutmaßungen leisten -, als hätte er in jungen Jahren hier mal dies, da mal das ausprobiert, 





























 
und als sich ein eigner Stil partout nicht von alleine einstellen wollte, hat er eine Doktrin übers Knie gebrochen. Natürlich konnte oder musste er auf diesem Weg zunächst einmal ganz originelle Sachen fertigbringen. Aber Ästhetik verträgt keine Doktrin. Dass ihm dann eine andere Doktrin dazwischenfuhr, hat ihn davor bewahrt, einen Holzweg als solchen erkennen zu müssen."
 
JE

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