Dienstag, 3. Juni 2014

Über Ästhetik - Zwischenbericht.


Brief über Ästhetik

Im Sommer 2002 hatte ich die Gelegenheit, die in meinen Sudelbüchern angesammelten Ästhetischen Splitter zu einem Zwischenergebnis zu bringen. Ich war im Gespräch mit einem autoritativen Kunsthistoriker, der mich beim Projekt eines Landschulheims musisch-ästhetischer Prägung in Fürstlich Drehna als Kurator unterstützte, und anläßlich eines Lichtbildvortrags im Schloß Branitz habe ich die folgende Zusammenfassung versucht. Er hat über die vielen Wörter gestaunt, wird aber verstanden haben, daß sie mehr zur Selbstverständigung bestimmt waren als zum Ausbau eines Standorts. Der beigefügte Vorspann stammt aus denselben Tagen; Variation zum Thema…

Vorspann. Eine Sache ‚bestimmen’ heißt: ihren Platz in einem Wirkungszusammenhang ausfindig machen. Daß sie in einem Wirkungszusammenhang steht, ist a priori vorausgesetzt. Dieses Apriori erscheint als ein logisches; ist aber ein historisches. Cf. Habermas: die Leistungen des transzendentalen Subjekts sind ein Erwerb der Gattungsgeschichte. Die ‚Idee’ eines Wirk-Zusammenhangs (Animismus) kommt auf, sobald die ‚Menschen’ (Hominiden) ihre ‚Welt’ selber machen: auf selbstgewählte Zwecke absehen und ihnen gemäß handeln. Die Idee der Kausalität - alles ist Wirkung, also hat alles eine Ursache - ist Teleologie a tergo [Nietzsche]. Zugrunde liegt die (‚unvordenklich’ gewordene) Frage: wozu mag das Ding taugen? Zuerst: mir taugen. Erweiterung: Wenn es zwar nicht mir taugt, dann wohl einem Andern... Was dieses Andere sei, ist das Problem der Metaphysik. Der Wirkungszusammenhang, der nicht meiner ist, ist das An-sich.

Im allgemeinen Wirkungszusammenhang (‚das Absolute’ in Fichtes Grundlagen...) wird das Eine durch das andere ‚bedeutet’: Nicht Es bedeutet ‚sich-selbst’, sondern das andere bedeutet Es. Nur darum kann ein ‚Wesen’ (das eigentliche Sein) von der ‚Erscheinung’ unterschieden werden. - Es ist Entwicklungsgeschichtlich aber nicht so, daß das ‚Wesen’ nachträglich zur Erscheinung hinzu tritt; sondern umgekehrt:

Der animistischen ‚Welt’-Anschauung erscheinen alle Dinge als mit eignem Willen begabt. Sie werden nicht von Anderem bedeutet, sondern bedeuten sich selber. Diese eigenwillige Selbstbedeutung kann man den Dingen und namentlich den Tieren ansehen; wohl nicht entziffern, aber doch erschauen: weniger erkennen als erraten. Ursprünglich besteht die Welt aus lauter Rätseln. Und zwar so, daß, was nicht zum Rätsel wird, in die ‚Welt’ gar nicht recht eintritt: als nichts-sagend. ‚Wissen’ ist ursprünglich Physio-Gnosis. Will sagen, ‚ursprünglich’ sind Anschauen und Begreifen nicht getrennt, sondern in der animistisch-magisch-mythischen Für-wahr-Nehmung eins. - Mit der Erweiterung des eigenen Wirkungskreises schiebt sich im angesammelten Gedächtnis vieler Generationen zwischen die Wahrnehmung der je einzelnen Wirkungsakte ‚belebter Dinge’ die Erfahrung von Wirkungs-Zusammenhängen - die im Gedächtnis nun als ein besonderes Bild (daimôn: der ‚zuteilt’, vgl. Prellwitz), neben den Abbildern der belebten Dinge, bewahrt werden können: Der Begriff tritt hinzu - und trägt, qua Abstraktion, in die Anschauung die Reflexion hinein. Jetzt erst scheiden sich Wesen und Erscheinung, indem das Werden (genesis=Wirkung) als Akzidens eines substanten Seins, alias Ur-Sache (ontos on = Zusammenhang der Wirkungen in einem Ursprung) gedacht werden kann. Die Anschauung wird "intellektual" - d. h. spekulativ; und scheidet sich von der gewöhnlichen, ‚sinnlichen’ Anschauung, die sie als roh verachtet. Seitdem zerfällt die Welt in Subjekt und Objekt. 

[Juni 2002]


 
Berlin, den 15. Juni 2002
Lieber Herr Professor Börsch-Supan,

anbei also meine ästhetischen Mutmaßungen anläßlich unserer Fahrt nach Br. Ich wollte das Ganze auf höchstens zwei Seiten eindämpfen, und das ist mir auch mehrfach gelungen - aber dann ging der Worterguß doch immer wieder in die Breite. Irgendwann muß man einen Punkt machen. Formal läßt der Text zu wünschen, aber er ist ja nicht für die Ewigkeit bestimmt.

Und in der Sache bin ich, das wissen Sie ja, nur ein dilettante ohne Anspruch auf Fachlichkeit. Meine Kenntnisse sind zufällig und unsystematisch, mit meinem Privatgeschmack als einzigem Ordnungsfaktor. Das vergessen Sie bitte nicht, wenn mir in den folgenden Zeilen unbescheidene Wortwahl unterlaufen sollte. Ich schreibe Ihnen nicht, um meine Ergebnisse zum Besten zu geben, sondern um schreibend die Gedanken zu sortieren. Und auch das nicht, weil ich auf „eigne Meinung“ aus wäre, sondern weil ich nicht riskieren will, später in meinem Landschulheim den Schülern aus Ratlosigkeit die Kunstwerke als bloßen Lernstoff verabfolgen zu müssen. Um Ihre Kommentare wage ich Sie nicht zu bitten, aber Sie wissen, daß sie willkommen sind.



Alles was sich aussprechen läßt, läßt sich klar aussprechen.
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. 
Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. 
Wittgenstein.

Mit dem Rätsel teilen die Kunstwerke die Zwieschlächtigkeit  
des Bestimmten und des Unbestimmten. Sie sind Fragezeichen. 
Adorno

Vorab: Blechen hab ich zuerst 1973 bei der Ausstelluung in der Nationalgalerie kennengelernt; dann 1977 in Paris bei der Ausstellung ‚deutsche Romantiker’ wiedergetroffen; schließlich in Berlin 1990.

Unser Thema: Was trägt die (vermutliche) Absicht des Künstlers zur ästhetischen Qualität (=’Washeit’) des Werks bei?


Ich fange an mit dem Bild Stürmische See mit Leuchtturm aus Hamburg, das Sie in Br. gezeigt haben: Natürlich kannte ich das Stück doch - es steht ja im Katalog. Nur hatte es mich dort kein bißchen gerührt! Ihr Dia in Br. war rotstichig, heller und wegen der diffusen Beleuchtung verschwommener. Im Katalog sieht man: eine Theaterkulisse! Was der Maler ‚gemeint’ hat, ist leider zu gut zu erkennen. Das hat weniger mit Ausdruck als mit Eindruckmachen zu tun. Ich würde sagen: Zwei ganz verschiedne Bilder.


Ein ähnlicher Effekt, aber umgekehrt, beim Galgenberg. Im Pariser Katalog ist er in krachenden Farben wiedergegeben, während das Original nach meiner Erinnerung der Reproduktion im Berliner Katalog von 1999 farblich viel mehr entspricht. Wiederum: zwei ganz verschiedene Bilder! Es mag platt klingen, aber: Wenn die Zufälle der Reproduktionstechnik die ästhetische Washeit eines Bildes so stark alterieren können, dann kann die Absicht des Künstlers bestenfalls ein Ingrediens, aber nicht die Determinante des Werks sein. Und es kommt sogar noch darauf an, auf welche Art und Weise die Absicht ins Bild eingeht: störend oder verstärkend?! Mich hat z. B. die offenkundig frömmelnde Absicht in den Bildern C.D. Friedrichs immer gestört - nicht weil er selber frömmelt, sondern weil er sein Frömmeln dem Betrachter aufdringen will. Seine Zeitgenossen mag das in der großen Mehrheit gar nicht gestört haben - weil er ihnen aus dem Herzen sprach. Aber nicht nur hatten sie eine andere Meinung von der Welt als die Heutigen; sie hatten vor allem auch eine andere Erwartung an die Kunst! Ich vermute daher: Viel wichtiger als die Absicht des Künstlers ist für die ästhetische Präsenz seines Werks die Absicht der Betrachter. (Die ist ihrerseits beeinflußt von deren Kenntnis über die Absichten des Künstlers; aber auf welche Art und Weise beeinflußt? Das bleibt immer die Frage.)

Ich komme zu den Badenden Mädchen. Ihre Interpretation des dunklen, wegelosen Vordergrunds ohne Ausgang zum hellen und überhöhten Hintergrund ist ja bestechend; vor allem, wenn Sie die mehrfache Wiederkehr des Motivs zeigen. Aber vielleicht ist es eine Petitio principii? Es könnte ja sein , daß es sich „bloß“ um einen Topos handelt - ein malerische Floskel, die wiederholt wird, weil sie „sich gut macht“. Ich glaube mich aber zu erinnern, daß sich auf manch einem spätgotischen oder Frührenaissance-Gemälde die dramatische Szene in einem geschlossenen Vordergrund abspielt, von dem keine Verbindung zu einem idealischen, mythologischen Hintergrund besteht. Hieß es nicht, Blechen habe mehr als seine Zeitgenossen die Meister der Vergangenheit studiert? Die Interpretation, daß kein Ausweg ist, hat aber nur Sinn in einer Epoche, wo die Menschen sich vor allem als Gehende ansehn - solche, die zu einem Ziel gelangen sollen. Für Menschen, die sich eher als Seßhafte verstehen, kann derselbe Topos nicht dieselbe Bedeutung haben. Nicht, daß ich mich zu einer „eignen“ Interpretation erkühnte; mich hat ja Ihre Interpretation bestochen, nämlich aus dem unmittelbaren Erlebnis heraus, daß ich auf den Bildern danach mehr sehen konnte. (Wer mehr sieht, hat recht - soll eine Redensart von Edmund Husserl gewesen sein.) Aber ich habe einen Verdacht: Je mehr Ihre Interpretationsweise zutrifft, will sagen, je mehr der Künstler eine Absicht nicht nur hatte, sondern ihrer auch noch bewußt war - umso wahrscheinlicher wird er seine Wirkung beim (heutigen) Betrachter verfehlen.


 
Ich verstehe, daß Sie mit der absichtsvollen Persönlichkeit der Künstler gerade die Singularität ihrer Werke verteidigen wollen, damit sie nicht zu Epiphänomenen eines „Entwicklungsprozesses“ herabgestuft werden - einer Art Selbstbewegung der Form (aus den Grotten von Lascaux bis zur jüngsten Documenta) in Analogie zu Hegels Selbstbewegung der Idee; wenn nicht gar zu einem „Ausdruck gesellschaftlicher Interessen“. Das liegt mir auch fern. Vielmehr juckt mich das Eigentümliche der ‚ästhetischen Wirkung’ (wie ich das hilfsweise nenne) beim Betrachter, und dabei geht es viel mehr um das Werk selbst als um die Absicht des Künstlers (die doch auf so verschiedene Art und Weise in den Blick des Betrachters eingehen kann). Diese pp. ästhetische Wirkung geschieht nicht als die Übertragung einer Information X aus einem Speicher A (dem Gegenstand) in einen Speicher B (den Betrachter); sondern als dessen persönliche Wert-Schätzung. Nicht receptio, sondern conceptio.



 
Das Verwunderliche ist nun, daß einem Künstler gelingt - wenn es gelingt -, das, was er ‚gemeint’ hat, so darzustellen, da? der Betrachter dasselbe ‚meint’! Das Mysterium ist dabei aber weder das Gemeinte selbst, noch der Gegenstand, an dem es dargestellt ist; sondern die gelungene Wahl der Darstellungsmittel. (Nämlich eines andern Mittels als des sprachlichen.) Ein solches Gelingen ist darum verwunderlich, als das Besondere der sprachlichen Darstellungsmittel ihre Fähigkeit zur Bestimmtheit ist - nämlich ihre Diskursivität, die auf der Digitalität sprachlichen Ausdrucks beruht; sodaß ein sprachlicher Ausdruck, dem es nicht gelingt, im Angesprochenen dieselbe Vorstellung zu erzeugen, als mißlungen gilt; während die ästhetische Darstellungsweise analog, anschaulich und eo ipso uneindeutig ist. Verwunderlich also, wenn ein uneindeutiges ‚Zeichen’ vom ‚Empfänger’ genau in dem Sinn ‚decodiert’ wird, wie es vom ‚Absender’ gemeint war. 



 
Daß dies einem Künstler tatsächlich ‚immer wieder’ gelingt, gilt daher als seine Kunst. Seine Kunst, die nicht gelingen könnte ohne die ästhetische Qualität seines Werks; aber nicht schon diese ästhetische Qualität selber ist! (Naive Kinderkunst hat gelegentlich großen ästhetischen Reiz; aber weil das Kind nicht ‚etwas’ darstellen, sondern lediglich sich ‚ausdrücken’ [oder - wieder was andres - eine Geschichte erzählen] wollte, reden wir nicht von Kunst.) Wenn aber ein Künstler auf Nummer sicher geht, weil er der Trefflichkeit seiner Wahl der Darstellungsmittel (also seiner Kunst!) nicht traut und seiner Botschaft durch pseudo-diskursive (=quasi-digitale) Vereindeutigung unter die Arme greift, wenn er also ‚zu dick aufträgt’, dann... reden wir von Kitsch. So geht es manchem heutigen Betrachter mit manchem Bild von C.D. Friedrich. Nämlich wenn einzelne Ingredienzien wie Vokabeln behandelt werden, die je bestimmte Bedeutungen ‚bezeichnen’. (Wenn doch aber die Bedeutung bestimmt wäre, dann hätte sie diskursiv ausgesagt zu werden; wird sie stattdessen ästhetisch ausgesagt, soll sie nicht so tun, als ob sie bestimmt wäre; denn der mit der Überdeutlichkeit beabsichtigte Betrug des naiven Zuschauers ist es, der als Kitsch empfunden wird. Trivialprägnanz heißt das in der Gestalttheorie.)



Sie deuteten an, am ‚letzten Grund’ des ästhetischen Phänomens fänden sich wohl bionome Vorgänge. Ich habe in dem Zusammenhang die Hypothese von Irenäus Eibl-Eibesfeld (Biologie des menschlichen Verhaltens) erwähnt, die interkulturelle Vorliebe für den Typus ‚Parklandschaft’ rühre von unserer gemeinsamen Herkunft aus der (damaligen) Baumsavanne Ostafrikas her. Aber generalisieren läßt sich der Gesichtspunkt nicht: Der Biologe Adolf Portmann hat seinerzeit einen Gutteil seines Forscherlebens auf den (gelungenen) Nachweis verwandt, daß oft die spektakulärsten ästhetischen Naturphänomene für das Leben der Individuen oder der Art (Erhaltung und Auslese) ohne jede Bedeutung sind, gewissermaßen „nur so“ vorkommen - was ihn zu der bedenklichen Spekulation eines biotischen „Ausdruckstriebes“® veranlaßt hat. Und schließlich könnten bionome Erklärungen nur begründen, warum die Geschmäcker sich ähneln. Das wäre aber das Uninteressante daran. Interessant ist vielmahr, daß die Geschmäcker verschieden sind - und danach mag man sich wundern, daß aber zu vielen Zeiten, an vielen Orten so vielen Menschen dieselben Sachen gefallen! Wie es also zur Stilbildung kommen kann... 


Nach der „evolutionären Erkenntnistheorie“ (im Gefolge von K. Lorenz) und einer „evolutionären Ethik“ gibt es inzwischen also auch eine „evolutionäre Ästhetik“... (Klaus Richter) 

Der Anlaß der Erkenntniskritik seit Kant war das evolutionsgeschichtliche Datum, daß uns die Welt sozusagen zweimal widerfährt: einmal (sinnlich) in ihrer unmittelbar gegenständlichen Gegebenheit in Raum und Zeit; und ein zweitesmal (logisch) als Sinn-System. (Nota: der ‚Sinn’ [Geltung , Bedeutung] des je-Einzelnen ist a priori immer nur im Zusammenhang (‚Diskurs’) mit andern gegeben; während man die gegenständlichen Erscheinungen so anschauen kann, als ob sie jeweils an und für sich da wären.) 

Diese Verdoppelung ist nicht ursprünglich, sondern wird vom reflektierenden Verstand nachträglich in die ‚natürliche’ Wahrnehmung hineingetragen. Doch die Reflexion prägt, seit das diskursive Denken den öffentlichen Alltag durchzieht, das abendländische Bewußtsein. Das ist der Status quo, von dem wir nolens volens ausgehen, auch wenn wir in die Gattungsgeschichte zurück blicken. 

Ursprünglich lag natürlich der ‚Sinn’ der Dinge in ihrer praktischen Bedeutung für den Erhalt des Lebens = Reproduktion/Selektion. Daher zum Beispiel die Gestaltgesetze, namentlich Figur/Grund-Schema: Das Bewußtsein erkennt nicht Einzelheiten, sondern interpretiert eine erlebte Situation: es hält Ausschau nach Konfigurationen, die für Erhalt/Auslese ‚bedeutsam’ sind (etwa ‚Angreifer von links hinten’); denn das interessiert, alles andre nicht. Unter gewissen Umständen kann aber gerade dies die ‚Information’ aus einem Bild sein: Da ist keine ‚Figur’, und also kein ‚Grund’, alles verläuft sich „in Wohlgefallen“. 

Das reicht stammesgeschichtlich (weit hinter die Hominisation) ins Tier- und womöglich ins Pflanzenreich zurück. Da wird jede Sensation vom Organismus a priori als nützlich oder schädlich gewertet. Ursprünglich lassen sich ‚Empfindung’ und ‚Wertung’ empirisch gar nicht trennen (sondern nur nachträglich im Begriff des reflektierenden Betrachters). Alle Nervenreizungen werden a priori in Hinblick auf ihre Relevanz für ‚das Leben’ interpretiert: als angenehm oder unangenehm. Sie sind ästhetisch in diesem präzisen Sinn, daß die ‚Wertnehmung’ uno actu mit der ‚Wahrnehmung’ zugleich geschieht (=Urteil ohne ‚Gründe’, vor aller Reflexion). Gilt darum bei Baumgarten, qua aisthesis, als das „niedere“ Erkenntnisvermögen! So weit bleibt die die evolutionäre Ästhetik im Recht. 
 
Je komplexer sich die Organismen entwickeln, um so öfter kommt es aber vor, daß die ‚sensorische Wertung’ uneindeutig ausfällt; daß also das Individuum nicht immer ‚weiß’, ob ihm diese oder jene Sensation eigentlich eher ‚angenehm’ oder eher ‚unangenehm’ ist (Schmerz-Lust in vielen Abstufungen): eine erregte Wachheit. Das ist nun ‚das Ästhetische’ in specie: nicht die Positivität der Empfindung, sondern ihre Problematizität.

Die kennzeichnet in Sonderheit alles Neue. Dem in seiner ökologischen Nische befangenen Organismus kommt das Neue nur als seltene Ausnahme vor. Als aber unsere Vorfahren ihre Urwaldnische verlassen hatten und in der ostafrikanischen Parklandschaft zu einer vagierenden Lebensweise übergingen (=regelmäßig aus einer Nische in eine ganz-andere wechselten), wurde das Neue zu einem dauernden Lebensingrediens; zumal als vor 10 000 Jahren (Sedentarisierung-Ackerbau-Kultur) eine Welt entstand, die nicht nur von ‚Naturgesetzen’, sondern historisch, nämlich von menschlichem Willen gestaltet war. Seither bauschte sich das ‚aisthetisch’ Uneindeutige von einem (jederzeit möglichen) Zufall zu einer mentalen Konstante auf, die seither von vornherein in Betracht kommt und die Wahr-(Wert-)nehmung leitet. 


 
In der vor- und frühgeschichtlichen ‚Kunst’ scheint eben die Darstellung des Rätselhaften im Vordergrund zu stehen; wie in aller animistischen und noch der magischen Kultur. Die spezifisch religiöse Kunst stellt dagegen das Rätselhafte (das Numinose) so dar, als ob es gelöst und in die eindeutig bestimmte Welt integriert, entschärft und befriedet wäre: Schönheit ist die Anverwandlung des Befremdlichen an das Vertraute – ‚gefaßt’, gebannt in Harmonie, Güte, Vorhersehbarkeit. Durch Schönheit wird das Fremde unanstößig und positiv. Sie ist Ausweis universeller Gültigkeit; einer höheren Gültigkeit gar als das Vertraute (=Gewöhnliche) selbst! Das Schöne symbolisiert die immanente Sinnhaftigkeit der Welt. (Solange das Schöne Paradigma der Kunst bleibt, weichen ‚die Geschmäcker’ im Detail von einander ab, insgesamt sind sie kulturell gebunden: Herrschaft des ‚Stils’.) 

Mit der Renaissance emanzipiert sich das Schöne von seiner religiösen Prämisse und wird selber „bedeutend“: als Maßstab der Welt! Kunst in einer distinkten Bedeutung, als eine autonome Praxis des Schönen ohne kultische oder haushälterische Zwecke, ‚gibt es’ überhaupt erst seither. In der Romantik emanzipiert sich das Ästhetische von der Vorherrschaft des „Schönen“! Und das Rätselhafte drängt sich wieder vor das Schöne, aber diesmal als es selbst. Mit der Romantik wird das Bemühen aufgegeben, die Rätselhaftigkeit der Welt in einem immanenten Sinn ‚aufzulösen’. [Sic! Denn gerade je gewaltsamer, künstlicher dieser Versuch öffentlich vorgetragen wird, z. B. Friedrich, umso polemischer richtet er sich gegen das Wirkliche.] In der bürgerlichen Gesellschaft wird der Zwiespalt der Welt (die Sinn-Losigkeit des Gegebenen) selber zum vertraut-Selbstverständlichen und verzichtet auf jede gefällige Entschärfung. Die Voraussetzung: Bildung! 


 
(Es gibt aber weiterhin eine Kunst, die auf solche Entschärfung nicht verzichten mag - für Leute, die mangels Bildung den Zwiespalt nicht aushalten; diese ‚Kunst’ heißt jetzt Kitsch. Seitdem darf im übrigen jeder ‚seinen eigenen Geschmack’ haben. Einen gültigen Stil gibt es nicht mehr, nur noch Moden, die aber von Anbeginn umstritten sind; z. B. wg. Kitsch!) 

Trotzdem bleibt das Schöne Paradigma auch des Rätselhaften. Denn im Schönen (nun aber im Naturschönen sowohl als im Kunstschönen - das Naturschöne sieht aus, als ob die Natur „sich was dabei gedacht hätte“) erscheint das bloß-sinnlich-Gegebene so, als ob es selber etwas bedeuten wolle! Und zwar jenem ‚zwiespältigen’ Bewußtsein, das längst weiß, daß die Dinge ‚an sich’ eben überhaupt nichts bedeuten und ohne pragmatische Zwecksetzung sinnlos bleiben. Rätselhaft ist die Darstellung (als Darstellung) dann, wenn sie ihr Objekt, egal ob gegenständlich oder ungegenständlich, beinahe in ‚Schönheit’ faßt, und sie dann doch verfehlt; die harmonistische, befriedete, positive Symbolhaftigkeit des Schönen parodiert. Diese vorgeführte Immanenz heißt Ironie und ist seit der Romantik der Generalnenner der Kunst. 


 
Analog zur Verselbständigung ‚des Logischen’ gegenüber dem Sinnlich-Gegebenen geschieht historisch eine Emanzipation ‚des Ästhetischen’ vom Praktisch-Nützlichen (und ipso facto vom Gegenständlichen). Aber dadurch gelangen beide, das Logische wie das Ästhetische, nicht etwa zu einer selbständigen Existenz unabhängig vom ‚Wirklichen’; sondern sie gewinnen ihre ‚eigene Bedeutung’ lediglich durch ihre ironische Bezogenheit auf dieselbe: als deren Hohlspiegel (was den Möglichkeiten einer rein ungegenständlichen Kunst Grenzen setzt). Wobei das Ästhetische unmittelbar in das praktische Leben eingreifen kann, das Logische aber nur vermittelt durch die theoretischen Wissenschaften - und deren Niederschlag in der industriellen Technik! (Die esoterische Loslösung des modernen Kunstbetriebs vom normalen Leben ist ein kommerzielles Phänomen, kein ästhetisches.) 

Seine („ontologische“) Rechtfertigung erfährt ‚das Ästhetische’ durch seinen spezifischen Gegensatz gegen die Bestimmtheit der modernen (Arbeits-)Welt. - 


 
‚Bestimmen’ heißt mehr als nur (im logischen Sinn) vereindeutigen; nämlich: eine Sache anhand ihrer ‚Merkmale’ erfassen und operationalisierbar machen = ihre Merkmale einem möglichen Handlungszweck zuordnen. Der Handlungszweck mag seinerseits einstweilen ein ‚rein logischer’ sein. Man kann Theorie durchaus auch um ihrer selbst willen betreiben. Das ändert aber nichts daran, daß die fortschreitende logische Durchdringung der Welt seit der Herausbildung der Arbeitsgesellschaft ihren mächtigen Antrieb im praktischen Interesse gefunden hat. Die Logik sei ‚selber eine praktische Wissenschaft’, steht bei F. Schlegel. (Hat er freilich anders gemeint; nämlich: sie lehrt, wie es sein soll.) 

Wobei also ‚Bestimmung’ mit der Zerlegung (Analyse) des Gegenstands in Merkmale beginnt. Der Zusammenhang der Dinge ergibt sich aus der jeweiligen Übereinstimmung dieses oder jenes operationalisierbaren ‚Merkmals’; folgt die logische Verknüpfung (Synthesis). Dieses Verfahren ist das diskursive Denken; es beruht darauf, daß die jeweiligen Merkmale sich durch eindeutige Symbole bezeichnen lassen: digitalisieren. - Das ästhetische Phänomen ist aber eines, das sich (als solches) nicht analytisch in Merkmale zerlegen, digitalisieren und operationalisieren läßt. „Es läßt sich“ nicht? Selbstverständlich kann ich, wenn ich klug genug bin, jedes Phänomen nach Merkmalen beschreiben! Selbstverständlich kann ich nicht nur ein Kunstwerk, sondern auch jedes Naturbild analysieren. Ergo: ‚Das Ästhetische’ entsteht dadurch, daß ich mich entscheide, es als nicht-analysierbar anzuschauen: Bestimmung als ein Un-Bestimmtes! Es entsteht (historisch) als eine Entgegen-Setzung zur operationalisierten Welt der industriellen Zivilisation; als der Entschluß, die Dinge nicht als funktional, sondern als autonom aufzufassen; so, wie sie an sich sind. Aber nicht, wie die Bilder von C. D. Friedrich vermuten lassen können, aus einem genuinen metaphysischen Bedürfnis des Menschen heraus; nicht, weil er im Ästhetischen das Objektive anzuschauen meint; sondern aus dem subjektiven Motiv heraus, daß er sich selbst schäbig vorkommt, wenn er all die Dinge der Welt lediglich unterm Gesichtspunkt ihrer Brauchbarkeit, d. h. seines Vorteils anschaut. Also weil er von sich selber erwartet, mehr als ein bloßer Ökonom zu sein. 


 
Er kommt sich besser vor, wenn er die Welt anders anschaut denn als ein bloßes Reservoir seiner Bedürfnisse. Was er sich offenbar erst dann leisten kann, wenn seine Bedürfnisse ihn nicht mehr rund um die Uhr in Anspruch nehmen und er sich den Luxus der ‚reinen Anschauung’ leisten kann. Eine aristokratische Haltung zur Welt, die kein Privileg der Wenigen mehr (wie seit den alten Griechen), sondern (in der mediatischen ‚Überflußgesellschaft’) eine Möglichkeit für die Vielen geworden ist. Aber darum fällt sie den Individuen nicht mehr „von Hause aus“ zu, sondern sie will gewählt werden. Und das ist die Sache der Pädagogen. 

Der ästhetische Mensch ‚entsteht’ dadurch, daß er an sich höhere Anforderungen stellt! Dabei kann er selbstverständlich den homo oeconomicus nicht ersetzen - etwa als der „wahre“ anstelle des falschen; sondern ihn lediglich ironisch paraphrasieren: neben der (bewährten) Wirklichkeit der Bestimmtheiten die (gewagte) Möglichkeit des Ganz-Andern. Umso mehr ist das die Sache der Pädagogen. Nämlich sofern sie damit anfangen, an sich höhere Ansprüche zu stellen! 
...

Mit den besten Grüßen,
Ihr J.E.


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