Gesetz der Schönheit
Folgt die menschliche Liebe zu Musik, Lyrik oder Literatur einem Naturgesetz? In Frankfurt wollen Forscher das nun herausfinden. Mit empirischen Mitteln.
Von Michael Stallknecht
Schiller bringt's. Besonders der gute alte Schulklassiker "Die Bürgschaft": Menschen, denen man die Ballade von Möros und seinem Freund vorliest, bekommen einen "Chill" nach dem anderen - mehr noch als bei Hölderlins "Abendphantasie" oder Erich Kästners "Sachlicher Romanze". Die Zuhörer sagen es nicht nur, man kann es auch sehen: Eine Kamera fängt Bilder ihrer Gänsehaut ein.
Einen Chill nennen sie hier in Frankfurt am Main den Moment, der den meisten Menschen als "Schauer" vertraut ist. Jene leise Erschütterung, die aus den Tiefen des Selbst zu kommen scheint, wenn Musik die Seele erreicht oder wenn ein Text das Herz berührt. Und das kann man eben nicht nur spüren, man kann es auch messen: an der Tiefe des Atems, an der Herzfrequenz, an der elektrischen Leitfähigkeit der Haut, die zunimmt, je feuchter die Hände werden. Oder an der Gänsehaut, die zu den rudimentären Reaktionen des Körpers gehört - ein Überbleibsel der Evolution, das keine wichtige Funktion mehr hat.
Das ArtLab soll eine Bühne für Künstler sein - und ein Labor für die Analyse des Publikums
Ästhetisches Erleben scheint jedenfalls mehr zu sein als Unterhaltung oder intellektuelles Spiel, es reicht ins Unterbewusste und in die Evolutionsgeschichte hinab. Wie und warum das passiert, wollen Forscher am neuen Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik herausfinden. Inoffiziell arbeiten die Wissenschaftler hier bereits seit ungefähr zwei Jahren. Offiziell eröffnen wird das Haus in diesem Herbst, wenn sein Herzstück im Frankfurter Univiertel fertig ist: ein "ArtLab". Es soll sowohl neuer Veranstaltungsort in Frankfurt sein, mit hochkarätigen Konzerten und Lesungen. Zum anderen aber wird der Raum vollgestopft mit Kameras und Gesichtserkennungssoftware, die jede Regung von Zuschauern und Vortragenden festhält.
Noch hängen im ArtLab die Kabel von der Decke, auch die benachbarte Bibliothek hat noch einige Regalmeter Platz. Doch viele Labore sind schon eingerichtet. Elektoenzephalogramme, Hirnstrommessungen also, sind bereits ebenso möglich wie das sogenannte Eyetracking, das den Augen beim Musikhören folgt. Für komplexere Verfahren kooperiert man mit dem Brain Imaging Center an der Frankfurter Uniklinik, wo sich mit funktioneller Magnetresonanztomografie die Durchblutung und damit auch die Aktivität im Gehirn sichtbar machen lässt. Sind Sophokles und Beethoven, Rilke und Radiohead also im Sinne des Wortes "Brainstormer"?
"Die Jungen haben diese Angst nicht mehr", sagt Winfried Menninghaus, Direktor der Abteilung für Sprache und Literatur am MPI. Diese Angst: Damit meint er die tiefe Skepsis, welche die meisten Literaturwissenschaftler naturwissenschaftlichen Methoden entgegenbringen. Soll sich die Qualität eines Gedichts etwa an verschwitzten Händen messen lassen? Sollen Computer nach diesen Kriterien Gedichte schreiben, die das Beste zwischen Pindar und Jan Wagner in den Schatten stellen? Diese Angst: Dahinter steckt umgekehrt aber auch die leise Verachtung, die Naturwissenschaftler einem so "weichen" Fach wie der Ästhetik sehr oft entgegenbringen.
Menninghaus, einer der bekanntesten, vielseitigsten, aber auch umstrittensten Literaturwissenschaftler der Gegenwart, arbeitet schon länger daran, den Widerspruch zwischen diesen zwei Kulturen der Wissenschaft zu überwinden. Bis 2010 hat er an der Freien Universität Berlin den fast schon legendären Exzellenzcluster "Languages of Emotion" geleitet, in dem Hirnforscher und Psychologen erstmals auf Tanzwissenschaftler oder Philosophen trafen. In seinem jüngsten Buch "Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin" sucht er die Triebkraft der Kunst beispielsweise in Gruppenritualen oder in der Wahl von Sexualpartnern. "Es gibt nach heutigem Wissen kein eigenes neuronales Netzwerk im Gehirn, das nur für Kunstrezeption rekrutiert wird", sagt er in Frankfurt, für das ästhetische Lustempfinden würden Netzwerke mit verwendet, die sonst vornehmlich andere Aufgaben erfüllen.
Soll sich die Qualität eines Gedichts etwa anhand feuchter Hände messen lassen?
Man darf Menninghaus glauben, dass er das nicht reduktionistisch meint, nicht einfach eine weitere "Alles-ist-Sex"-Theorie vorlegen möchte. An dem neuen Max-Planck-Institut gibt es viele Fachrichtungen, neben der literaturwissenschaftlichen Abteilung zum Beispiel es eine zur Erforschung von Musik und eine neurologische Abteilung. Als "strikt opportunistisch" bezeichnet Menninghaus die Wahl der Methoden: "Wir benutzen, was uns helfen kann." Nur möchte man sich auf das konzentrieren, was in den herkömmlichen Kunstwissenschaften kaum eine Rolle spielt: Auf die Lust am Ästhetischen. Und auf das Attribut der Ästhetik an sich. "Interesseloses Wohlgefallen" hatte Immanuel Kant einst als Leitfaden des gelungenen ästhetischen Urteils ausgegeben, das gilt nach wie vor besonders in Deutschland. Kunst soll nicht lustvoll sein, sondern belehren, nicht amüsieren, sondern eine Botschaft vermitteln. Menninghaus bedauert, was er den dominanten "Inhaltismus" in der Literaturwissenschaft der letzten Dekaden nennt. Texte würden fast nur über ihre Inhalte interpretiert, kaum über die Form oder gar die Schönheit (also die gelungene Form). Solche Fragen seien in den meisten kulturwissenschaftlichen Studien weit ins Hintertreffen geraten.
Zwei Rührungen
... kennt die empirische Ästhetik: Menschen können auf traurige oder auf freudige Art berührt werden. Das klingt zwar noch nicht so überraschend. Doch wie die Studien der Empiriker bereits gezeigt haben, gibt es ein paar verblüffende Details. Zum einen kommt eine Rührung selten allein. Ein Mensch ist also nicht nur traurig bewegt, wenn er zum Beispiel auf einer Beerdigung geht. Er empfindet womöglich sogar mehr Freude als Trauer, weil er sich an schöne Erlebnisse mit dem Verstorbenen erinnert. Zu guter letzt aber ist die Rührung am größten, wenn die Trauerfeier gar nicht real ist. Sondern Fiktion.
Auch deshalb ist in Frankfurt das Gedicht wohl ein bevorzugtes Forschungsobjekt, lebt es doch offensichtlicher als andere Textformen vom Rhythmus und von der Melodie seiner Sprache. Menninghaus und seine Mitarbeiter schreiben Gedichte "kontrolliert" um, nehmen ihnen stilistische Merkmale gezielt weg, um zu sehen, welche von ihnen die ästhetische Lust der Leser oder Hörer in welcher Weise steuern. So kann er beispielsweise erklären, warum die meisten Menschen Wilhelm Busch lustig finden. Dessen Verse verletzen regelmäßig einige Regeln, die für gelungene dichterische Verse etabliert sind. Das Gehirn registriert die Erwartungsverletzung und versucht das Phänomen zu heilen. Sobald es versteht, dass es um eine durchaus beabsichtigte Verballhornung geht, verarbeitet es seine Irritation durch eine Lust neuen Typs. Zugleich bleiben Buschs Reime meist in einem gefälligen Rhythmus. "Die Gefühlszentren im Gehirn sprechen auf metrisierte Sprache stärker an", sagt Menninghaus. Der Rhythmus von Sprache aktiviert dabei auch Hirnregionen, die für das Verarbeiten von Musik zuständig sind.
Das Ziel: Natur- und Geisteswissenschaften sollen wieder näher zusammenrücken
Das lässt sich auch entwicklungsgeschichtlich leicht erklären: Die ersten "Gedichte" dürften aus dem gemeinsamen Singen und Klatschen von Gruppen hervorgegangen sein. Noch die alten Griechen haben ihre Epen gesungen, "Melos" lautete das Wort für "Gedicht". Wer seiner ganzen Gruppe etwas mitzuteilen hatte, griff bis weit in die Neuzeit hinein aus Prinzip zum Vers. Prosa ist dagegen eine ziemlich junge Angelegenheit, auch wenn Menninghaus eines Tages noch den "Prosarhythmus" verstehen lernen möchte, der die großen Romane zusammenhält. Schon deshalb ist ihm die interdisziplinäre Nähe zur Musikabteilung wichtig.
"Es besteht im 21. Jahrhundert eine gewisse Dringlichkeit, Natur- und Geisteswissenschaften wieder näher zueinander zu bringen", sagt Melanie Wald-Fuhrmann, die Direktorin der Abteilung. Methoden, mit deren Hilfe sich etwas messen und vermessen lässt, haben in der Musikwissenschaft eine deutlich längere Tradition als in der Literatur. Umgekehrt haben sich auch Neuroforscher immer wieder mit den Wirkungen beschäftigt, die Musik auf seine Hörer hat. Nur am gegenseitigen Austausch mangelt es hier. Ist das ArtLab einmal fertig, dann möchte Wald-Fuhrmann dort beispielsweise erforschen, was es physiologisch bedeutet, wenn im Konzert "der Funke überspringt", oder wie sich der Unterschied zwischen dem Liveerlebnis und dem Tonträger mithilfe von eindeutig messbaren Größen beschreiben ließe. Einfach herauszufinden ist das nicht. Schließlich könne man die Hörer nicht mit ständigen Fragen nerven, sagt Wald-Fuhrmann, "sonst kommt kein ästhetisches Erlebnis zustande".
Tatsächlich wirkt vieles in den frisch gestrichenen Räumen noch unfertig, im Aufbruch. Probanden für die vielen Versuche sind nicht leicht zu finden. Die Gedichte werden zum großen Teil noch mit der Hand statt vom Computer umgeschrieben, die entsprechenden Algorithmen gilt es noch zu programmieren. Dabei geht es Menninghaus bei aller Avanciertheit der Methoden darum, eine Wissenschaft zu beleben, die bereits die Antike entwickelteund die bis weit in die Neuzeit hinein weiterwirkte: die Rhetorik. Wer öffentlich sprach, sei es vor Gericht oder von einer Theaterbühne herunter, wusste um die Wirkungen der sprachlichen Technik. Dabei richtet sie sich nicht primär an den Verstand, sondern an die Emotionen, an ein Wissen des Körpers. Ziel war - die lateinischen Rhetoriker haben es ausformuliert - das "movere", das "Bewegen" des Hörers. Dass man auf diese Weise Menschen auch beeinflussen kann, hat der Rhetorik immer schon Kritik eingebracht. Im 20. Jahrhundert ist dieses Misstrauen noch mal gewachsen. Spielte die Rhetorik doch eine zentrale Rolle in der verbrecherischen Manipulation von Massen.
Die empirische Ästhetik hat bereits die sogenannte Taschentuch-Regel belegt
Aber die Künste wollen nach wie vor rühren und erschüttern, jeder ordentliche Kinofilm beweist es. Ästhetik ist keine reine Sache des Verstandes, die Lust an ihr findet in vielem ebenso unbewusst statt wie unsere anderen Lüste auch. Die empirischen Ästhetiker in Frankfurt jedenfalls haben dem "being moved" gerade eine groß angelegte Studie gewidmet, die demnächst im Fachblatt PLoS One erscheint. Unter anderem zeigen die Ergebnisse, dass "Bewegtsein" fast immer Freude und Trauer mischt. Auch traurige Ereignisse bleiben in der Darstellung, zum Beispiel eines Kinofilms, mit posi- tiven Gefühlen verbunden. Das bestätigt die gute alte Taschentuchregel: Je tränenreicher es zugeht, desto größer der Ge- nuss. Oder, wie bereits Schiller formulierte: "Rührung in seiner strengen Bedeutung bezeichnet die gemischte Empfin- dung des Leidens und der Lust an dem Leiden." Und auch für den anhaltenden Erfolg von dessen "Bürgschaft" hält die Studie eine Erklärung bereit: Bewegt werden wir insbesondere, wenn ein Kunstwerk ganz dezent den Wunsch weckt, zu helfen. In Schillers Ballade, wir erinnern uns mit leichtem Schauern, geht es um die Rettung eines treuen Freundes.
Nota. - Es ist mit der empirischen Ästhetik wie mit der Hirnforschung: Wissenschaftlich ist es höchst willkommen, die neurophysiologischen Substrate sei es des Vorstellens, sei es des ästhetischen Erlebens festzustellen. Damit wäre ein ganzer Rattenschwanz von vorwissenschaftlichen Selbstverständlichkeiten schonmal ausgeschieden, und man könnte sich der Aufgabe des Verstehens zuwenden. Die Hirnforschung hat leider vorgemacht, wie man unterwegs selber die übelsten vorwissenschaftlichen, dogmatischen Selbstverständlichkeiten wieder hineinrühren kann. Die Darstellung des materiellen Substrats ist nicht die Sache selbst, das Feuern der Neurone ist noch nicht mein Bewusst-Sein. Und ist nicht das ästheti- sche Erleben, sondern jeweils nur die Bühne der Darbietung.
JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen