Freitag, 10. Januar 2014

Für wen ist Kunst da?

N.N.
aus Der Standard, Wien, 11. 1. 2014

Sammler oder Liebhaber?  
Nicht der Besitz des Kunstwerks, sondern dessen Ausstrahlung ist das Wichtigste: 
Was man eigentlich kauft, wenn man Kunst kauft

von Alfred J. Noll
 
Beim Kauf eines Toasters mögen viele Gründe eine Rolle spielen, aber vor allem soll das Ding gut toasten können; und wer sich zum Ankauf eines neuen Autos hinreißen lässt, der will vor allem, dass das Ding vier Räder hat und dass das Vehikel auch fährt. Was auch immer uns durch die Verlockungen der Warenästhetik nahegebracht werden mag, immer kommt dem in Aussicht genommenen Gebrauch der Sache eine herausragende Rolle zu: Toaster und Auto sollen funktionieren, zum Gebrauch geeignet sein. Der Wert der Sache bemisst sich also nicht unwesentlich an der Funktions- und Gebrauchstüchtigkeit der Sache.
Worin besteht der Wert eines Kunstwerks? Was dem Kunstwerk seinen Wert verleiht, das ist seine ästhetische Qualität. Indes: Die exzessiven Extreme der Preisgestaltung am Kunstmarkt können damit nicht erklärt werden (und die reinen Spekulationskäufe lassen wir hier außer Betracht). Der Wert eines Kunstwerks muss anders bestimmbar sein.
Kunst im Ritual
Ursprünglich ist der ästhetische Gegenstand ein Instrument zur Bewältigung von Welt durch das Ritual, durch die Magie. Kunst steht im Zusammenhang von Animismus, Fetischismus und Zauberei. Die Zeichnung etwa, die später abgelöst von ihrem instrumentellen Charakter als "Kunstwerk" ein reiner Anschauungsgegenstand wird, bleibt am Ursprung der geschichtlichen Entwicklung vorgeschichtlich noch ganz außerhalb des ästhetischen Bereichs; sie ist noch eingebunden in den instrumentellen Bereich der Welt-Bewältigung (sichtbar etwa in Felsmalereien in der Chauvet-Höhle aus der Eiszeit). Der Ursprung des Kunstwerks liegt im Bereich des Rituals (Walter Benjamin), und der (Gebrauchs-)Wert eines derartigen Kunstwerks stand im Zusammenhang mit einem religiösen Zeremoniell, das auf die eine oder andere ideologische Weise der Bewältigung von Welt durch Magie, Ritual, Mythos diente.
Ein derartiger Gebrauchswert unterscheidet sich nun aber ganz zentral vom Gebrauchswert jedes anderen Konsumgegenstandes oder jedes anderen Instruments. Während jeder Konsumgegenstand oder jedes Werkzeug übertragbar ist (das Fell des Bären, den der Jäger erlegt hat, kann von einem anderen wärmend genutzt werden als von dem, der ihn erlegt hat), bleibt der Ritualgegenstand aufs Engste an denjenigen gebunden, für den er diese Ritualfunktion hat. Er ist geradezu der Gegenstand, der nicht zum Gegenstand von Tauschbeziehungen werden kann: Das Goldene Vlies musste gestohlen werden, man hätte es nie von den Einwohnern einhandeln können; Jason musste es rauben, und dieser Raub war selbst wieder ein Sakrileg.
Der schaudervolle und gleichzeitig anziehende (göttliche) Charakter dieser Ritualgegenstände gibt ihnen zwar einen eminent hohen Gebrauchswert im Sinne eines geistigen, ideologischen, religiösen Gebrauchs; just dieser Charakter lässt ihnen aber nur einen gegen null tendierenden Tauschwert: Der Gebrauchswert eines solchen Gegenstandes kann gerade nicht durch Tausch realisiert werden. Damit wird die Sphäre der Kult- oder Ritualgegenstände als eine ganz eigene besondere Sphäre gegenüber allen anderen Gegenständen, die in die ökonomische Sphäre eingehen, abgegrenzt und ausgegrenzt. Erst später, im Laufe eines langen Säkularisierungsprozesses, werden diese Kultgegenstände zu ästhetischen Gegenständen. Es ist ein allmählicher Ablösungsprozess, in dem sich über die Zeit der rituelle Charakter jener Kultobjekte, der für die gesamte frühe Kunst aller Kulturen definitiv ist, von seinem religiösen Gehalt auf die Ebene der reinen Anschauung, der reinen Darstellung wandelt.
Reflexionswert der Kunst
Der Gebrauchswert des Kunstwerks besteht darin, dass es angeschaut wird. Nur durchs Anschauen kann das Kunstwerk zur Repräsentation dessen werden, für den es geschaffen wurde. Das Kunstwerk ist daher auch in keiner anderen Weise als nur durch Anschauung nutzbar zu machen. Das, was ein Objekt zum ästhetischen Objekt macht (was die Mona Lisa also davon unterscheidet, bloß ein Stück Materie zu sein, mit dem man auch etwas anderes machen kann), ist gerade die in der Anschauung wahrnehmbare und durch die Anschauung zu realisierende Darstellungsfunktion. (Das mindert nicht den treffenden Witz, den Duchamp zeigte, als er einfache Gebrauchsgegenstände als "Kunstwerke" ausstellte.)
Man kann das Kunstwerk nur von seiner Form her definieren, nicht aber von seinem materiellen Substrat. Das Wesentliche am Kunstwerk ist gerade seine spezifische formale Beschaffenheit. Der Gebrauchswert des ästhetischen Gegenstandes liegt in der Funktion eines Anschauungsgegenstandes, der primär sich als Repräsentation einer Gemeinschaft darstellt. Was in der Anschauung gegeben wird, d. h. die Selbstdarstellung eines gesellschaftlichen oder (etwa in der Porträtmalerei) eines individuellen Sachverhaltes, sagt nun aber nur durch seine formale Beschaffenheit etwas über den Wesensgehalt dessen aus, was Gegenstand dieser künstlerischen Darstellung ist. Die Form des Kunstwerks liefert die Information für den Betrachter.
Der Kunstgegenstand als Anschauungsgegenstand wird gerade durch seine Anschaulichkeit zu einem Gebrauchsobjekt. Die Darstellung ist nie eine naturalistische Eins-zu-eins-Wiedergabe, sondern eine Rekonstruktion des Dargestellten in anderen Verhältnissen unter einer bestimmten Perspektive. Daher wird der Inhalt einer Kunstdarstellung vom Betrachter nicht einfach hingenommen wie sonst ein Ding, das ihm in dieser Welt begegnet, sondern kraft der formalen Gestaltung, die das Ding in seiner Darstellung bekommt, wird es vom Betrachter aufgenommen als ein Moment der Reflexion auf das, was dargestellt ist.
Sobald das Kunstwerk nicht mehr Ritualobjekt ist, sondern zum reinen Anschauungsgegenstand wird, geht sein Gebrauchswert in das über, was man den Reflexionswert der Kunst nennen kann. Wo Kunst nicht durch Form, die sie dem Gegenstand gibt, Reflexion über die Welt anbietet, da ist sie nicht mehr Kunst. Wo nur ein Abbild hergestellt, eine bloße Reproduktion verfertigt wird (Totenmaske), hört die Kunst auf. Die formale Gestaltung des Gegenstandes bietet erst jene Ebene von Reflexion auf Sachverhalte dieser Welt dar, die den Informations- gehalt des Kunstwerks konstituiert. Indessen kann Kunst nicht ersetzt werden durch Begrifflichkeit oder durch Theorie, sie bietet vielmehr reflexive Erkenntnis über Welt auf der Ebene unmittelbarer Anschauung. [Oha.]
Privatisierte Gegenstände
Im bürgerlichen Zeitalter löst sich die Kunst von ihrem gesellschaftlichen Auftrag und bezieht sich auf individuelle Auftraggeber. Diese Privatisierung der Kunst setzt früh ein (holländische Bürgergemeinden des 17. Jh.s). Mit diesem Prozess der Privatisierung von Kunst trennt sich zugleich die Darstellungsfunktion von der Singularität und Unübertragbarkeit des Werks. Das aufkommende Bürgertum bemächtigt sich der Formen, Embleme und Symbole einer herrschenden Klasse (des Adels) und muss die gesamte Formensprache von dem unmittelbaren Bezug auf den Selbstausdruck und die Selbstdarstellung dieser herrschenden Klasse ablösen.
Die großen überindividuellen Themen werden aufgegeben, die Gegenstände werden privatisiert (Genremalerei). Der Auftraggeber versucht sich mittels des Emblemcharakters von Kunst, mittels des Symbolcharakters, den Kunst als Selbstdarstellung von gesellschaftlicher Macht hat, zu schmücken; er veröffentlicht sozusagen seine ökonomische Macht in ästhetischer Darstellung. In diesem Prozess wird nun die Einmaligkeit des Gebrauchswertes eines solchen Repräsentationsgegenstandes hinfällig, die bei dem unmittelbaren Bezug auf den gesellschaftlichen Auftraggeber gegeben war; d. h. der private Auftraggeber, der nicht mehr identisch ist mit dem gesellschaftlichen Ganzen, kann sich des Kunstwerks auch insoweit bemächtigen, als er Werke, die für andere Repräsentationszwecke geschaffen wurden, sich aneignet und sich mit ihnen ausstattet und schmückt.
Beim Kauf eines Kunstwerks soll dessen emblematischer ritueller, numinoser Charakter miterworben werden. Der Kunsthandel setzt also in jenem Augenblick ein, in dem die Einmaligkeit der Beziehung zwischen Auftraggeber und Künstler und die Einmaligkeit der Zuordnung des Kunstwerks zu seinem besonderen Darstellungszweck in einer allgemeinen Austauschbarkeit von Kunstwerken auf dem Kunstmarkt aufgehoben wird.
In der Überführung von Kunst in die Anonymität des Marktes, in der Entpersonalisierung des unmittelbaren Kunstschaffens, liegt die Freisetzung des Künstlers und andererseits eine neue Abhängigkeit, insofern der Künstler nun den Gesetzen des Marktes, d. h. den Gesetzen des Tauschwertes unterworfen ist. Die nun in der Öffentlichkeit präsentierten Werke haben Autorität, sie gelten als anerkannte Meisterwerke - und in dem Maß, in dem Bilder zu Exponaten in Museen oder gar zu hochgeschätzten Lots in Auktionen werden, werden sie akklamiert - und gekauft.

Theodor W. Adorno hat in seiner Ästhetik-Vorlesung 1958/59 den dadurch zutage tretenden Fetischcharakter im Kunsthandel deutlich denunziert: "Sie konsumieren in Wirklichkeit nur das diesem Werk zugewachsene Prestige." Das Kunstwerk erhält seinen Wert nun nicht mehr durch seine rituelle Funktion oder durch seinen Reflexionsgehalt, sondern einen Handelswert, weil es zum Ausdruck der ideologischen Selbsterhöhung jener wird, die als Sammler von Kunst, als Käufer von Kunstgegenständen auftreten, die sich die ästhetische Selbstdarstellung leisten können. Das Kunstwerk wird zum Ausdruck eines ideologischen Selbstverständnisses derer, die als Sammler, als Promotoren der Kunst erscheinen. Der potenzielle Reflexionswert des Kunstwerks wird dadurch, dass es auf den Markt geworfen und den dort herrschenden Gesetzen ausgesetzt wird, zwar nicht prinzipiell vernichtet, aber dieser Wert wird solcherart ständig ausgehöhlt.
"Unbrauchbare" Sammlungen
Der Sammler glaubt Kultur durch Inbesitznahme von Kunstwerken usurpieren zu können. Der Sammler meint, mit dem Resultat des schöpferischen Prozesses zugleich den schöpferischen Geist nach Hause tragen zu können. Der Sammler ist jenen Schildbürgern nicht unähnlich, die dachten, dass sie in ihr fensterloses Rathaus den Sonnenschein in Eimern hineinzutragen vermöchten. Der Sammler erstrebt ein Sein, das er nicht hat und nicht haben kann. Er will über etwas als Eigentum verfügen, das nicht als Eigentum besessen werden kann: die Fülle der Welt.
Was nur in der eigenen Arbeit des Lernens und Denkens erfahren werden kann, das will der Sammler als Objekt zu eigen haben. Er entscheidet sich für den Besitz. Doch der Erwerb eines Kunstwerks unterscheidet sich wesentlich von jedem anderen ökonomischen Vorgang: Es wird weder investiert noch konsumiert. Denn das Kunstwerk ist kein Produktionsmittel, aber es hat auch keinen Gebrauchszweck: Kann man einige Bilder, Plastiken, Keramiken noch als Zimmerschmuck verwenden, so ist bereits eine etwas umfänglichere Sammlung für den Besitzer "unbrauchbar". Wer Tausende von Blättern, Grafiken in seinen Mappen aufbewahrt (wie wir das eben von Cornelius Gurlitt erfahren haben), wird sie kaum öfter betrachten, als er es auch bei einem Museumsbesuch tun könnte.
Bilder im Magazin, Hunderte von Kleinplastiken in Vitrinen und Kommoden verstaut - das sind keine Gebrauchswerte mehr. Der Schatzgräber triumphiert, er hat den reinen Besitz gefunden. (Sammler, denen dies bewusst wird, machen ihre Stücke der Öffentlichkeit zugänglich: Sie bauen sich Museen oder stellen Leihgaben zur Verfügung.) Kunst und Besitz stehen in einem antinomischen Verhältnis zueinander.
Der deutsche Kunstphilosoph Hans Heinz Holz hat es so gefasst: Nur der Liebhaber gibt sich der Sprache des Werks hin, er lässt sich anrühren. Der Liebhaber lässt sich treffen von jener Vollkommenheit, als deren Vorschein das Kunstwerk aus der Geschichte heraustritt und zum Absoluten, zum Symbol der Ankunft wird - einer Ankunft, die noch in der Ferne aussteht. Der Liebhaber kann den ursprünglich religiösen Sinn des Kunstwerks abstreifen, die Aura des Kunstwerks wird zum Zeichen einer weltlichen Heilserwartung. Von ihr lässt sich der Liebhaber ergreifen.
Nicht der Besitz, sondern die Ausstrahlung ist ihm das Wesentliche. Der Liebhaber will besitzen, um anzubeten, und er besitzt daher nur wenig. Der Liebhaber gibt der zur Ware verkommenen Kunst ihren sakralen Charakter zurück: als Zeugnis einer Verheißung, die indes nicht als Gnade, sondern nur als Frucht menschlicher Selbstverwirklichung eintreten kann. Eine Selbstverwirklichung, zu der das Kunstwerk aufruft, wie in jenem lapidaren Satz, mit dem Rilkes Sonett über den Torso eines archaischen Apoll endet: "Du musst dein Leben ändern." 

Alfred J. Noll arbeitet als Rechtsanwalt, Hochschullehrer und freier Publizist in Wien. 2011 erschien von ihm "Abnehmende Anwesenheit. Ein Pamphlet zur Kunst-Rückgabe in Österreich" (Czernin-Verlag).


Nota. - Das bedarf dringend eines Kommentars. Und sei es nur der Hinweis, dass die spezifisch  ästhetische Qualität einer Sache gerade darin besteht, dass sie nicht [über] 'die Dinge der Welt reflektiert' und (irgendwie) die Reflexion 'anschaulich macht'; sondern darin, dass sie selber nichts als anschaulich ist.

Es ist nicht zweckmäßig, Kunst anhand der Merkmale ihrer Werke definieren, und namentlich nicht, aus dem 'Wesen der Kunst' das Wesen des Ästhetischen ermitteln zu wollen. Da beißen sich die Katzen unablässig in den Schwanz. Gangbarer ist es, den Aufstieg 'der Kunst' zu einer gesellschaftlichen Instanz nachzuzeichnen; wobei ihre zweifellos rituellen Ursprünge eine erste Fährte sind. Dann kann man daran gehen, die Verschiebung bei den Merkmalen der Werke vom Ritual über die Repräsentation (von was für wen?) bis hin zum bloßen Medium des ästhetischen Zustands zu untersuchen.

Einen raschen Zugang zu den Mysterien des modernen und postmodernen Kunstmarkts findet man so freilich nicht...
JE 




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