299. Was man den Künstlern ablernen soll.—
Welche Mittel haben wir, uns die Dinge schön, anziehend, begehrenswerth
zu machen, wenn sie es nicht sind?—und ich meine, sie sind es an sich
niemals! Hier haben wir von den Aerzten Etwas zu lernen, wenn sie zum
Beispiel das Bittere verdünnen oder Wein und Zucker in den Mischkrug
thun; aber noch mehr von den Künstlern, welche eigentlich fortwährend
darauf aus sind, solche Erfindungen und Kunststücke zu machen. Sich von
den Dingen entfernen, bis man Vieles von ihnen nicht mehr sieht und
Vieles hinzusehen muss, um sie noch zu sehen—oder die Dinge um
die Ecke und wie in einem Ausschnitte sehen—oder sie so stellen, dass
sie sich theilweise verstellen und nur perspectivische Durchblicke
gestatten—oder sie durch gefärbtes Glas oder im Lichte der Abendröthe
anschauen—oder ihnen eine Oberfläche und Haut geben, welche keine volle
Transparenz hat: das Alles sollen wir den Künstlern ablernen und im
Uebrigen weiser sein, als sie. Denn bei ihnen hört gewöhnlich diese ihre
feine Kraft auf, wo die Kunst aufhört und das Leben beginnt; wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst.
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Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft
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