Das Spiel ist nicht aus
Die deformierten, surreal verwandelten Menschen der Germaine Richier sind Täter und Opfer und selbst auch beides in einem.
von Volker Bauermeister
Die Bildhauerin bei der Arbeit im Atelier. Germaine Richier, die auf dem Foto zu sehen ist, hat der nackten jungen Frau, die für die "Fechterin" Modell steht, ein Dreieckmuster auf die Haut gemalt. Das alte Messverfahren der Triangulation hat sie von ihrem Lehrer Antoine Bourdelle. Von ihm habe sie alles, sagt sie. Sie zeigt, dass sie "alles" auch weiterdenkt.
Große Gottesanbeterin
Sie bleibt nicht bei Bourdelle, nicht beim Klassizismus. Ihre Arbeit ist ein Beitrag zu einem veränderten Menschenbild, um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung, die zuerst in Bern war – und nun im restaurierten Jugendstilbau der Mannheimer Kunsthalle von Stefanie Patruno neu einrichtet wurde –, sie lässt erkennen, dass, wenn man von einem Alberto Giacometti spricht, man diese Germaine Richier nicht vergessen darf.
Germaine Richier in ihrem Atelier, nach 1957
Ein dramatisch durchfurchtes Bild der Nachkriegszeit
Ihre "Fechterin" von 1945 mag noch konventionell wirken. Und ist doch schon das Bild der starken Frau. Sie gibt ihm Konturen. Und sie hat zu der Zeit schon die Metamorphose als Gestaltungsmodus entdeckt. Drei Jahre vorher war eine Hockende entstanden, die das Bild des schönen Körpers sich nicht scheut, abzulehnen – ja, zu beleidigen. Sie nennt sie "Kröte". Mit der Verwandlung verliert das Bild des Menschen seine Gewissheit; aber es lädt sich auch mit Lebenskraft auf.
Die Kröte, 1940
Ihrem Mann, dem Schweizer Bildhauer Otto Charles Bänninger, erklärt sie, dass man etwas nach draußen tragen, von sich selbst sagen müsse. Sie wird expressiv. Was die Kunsthistoriker "réalisme fantastique" nennen (Christa Lichtenstern) oder "brüske Wildheit" (Matthias Frehner), das traut sie sich. Aus Zürich, wo sie mit Bänninger die Kriegsjahre verbrachte, geht sie allein zurück nach Paris. Trennt sich, privat wie auch künstlerisch. Ihr Bildnis der Nachkriegszeit ist dann dunkel grundiert, dramatisch durchfurcht. Ein geschundener Christus, der mit den ausgestreckten Armen den Querbalken des Kreuzes mimt, löst einen Skandal aus. Für Jahre wird er von seinem Platz in der Kirche von Assy verbannt. Die früh – 1959 schon – verstorbene Künstlerin wird seine Rückkehr nicht mehr erleben.
Das Kreuz von Assy
Sie bestritt den Menschen den unversehrten Körper. Dünnt ihn aus und verwickelt ihn in einen Konflikt mit dem Raum. Den misst sie mit metallenen Linien aus, so wie die Haut der Figuren in den graphischen Dreieck-Netzen. Der geduckte "Krallige" zieht solche Raumlinien – und verstrickt sich in sein Fadenwerk. Ein emsiger, tierköpfiger Fallensteller, der sich selbst nicht entkommt. Die "Spinne" spannt auf ihrem Baumstumpfsockel ihr tödliches Netz. Die "Ameise" ist die letzte der Richier’schen Insektenfrauen.
Die Heuschrecke
"Die Heuschrecke" kommt in ihrer monumentalen Fassung jetzt aus Bern. Kauert, lässt ein zerstörtes Menschengesicht sehen und streckt ihre Hände nach vorn aus. Ein undurchschaubares Wesen in Lauerstellung. Und doch ist ihr – dieser neuen Hockenden – die Rolle der Gebärerin, der großen Mutter, auch auf den Leib geschrieben. Die "Gottesanbeterin", die die Kunsthalle Mannheim zur Retrospektive beiträgt, ist das noch bedrohlichere Gegenüber. Die Gebärde der Andacht ist eine fatale Täuschung. Das Tier setzt zum Angriff an. Das Auge fixiert schon das Opfer. In der Mythenwelt von Richiers provenzalischer Heimat gilt die "Gottesanbeterin" als eine, die weiß, was wird. Die Fangschrecke: die Wahrsagerin.
Die deformierten, surreal verwandelten Menschen der Germaine Richier sind Täter und Opfer und selbst auch beides in einem. Noch immer schaut die Künstlerin aufs menschliche Modell, doch das Maß, das sie an ihm nimmt, das zerstört sie. Die Sammlerin bizarrer Hölzer, Steine, Insektenkadaver . . . bringt die rohe Natur in Funddingen zur Geltung, in figuralen Objektcollagen. Und sie zeichnet, fortwährend experimentierend, ein Äußerstes an Fragilität in den Raum. Die "Zikade" (auch "Mandoline" genannt) ist nur mehr metallisches Gespinst: ein zerrissener schwebender Ton, der sich goldschimmernd in der Luft verbreitet. "Sturm" und "Sturmfrau" dagegen sind düstere Standbilder ungezügelter Gewalt(en). "Das Gebirge": ein Konglomerat aus Formzitaten. Ein gähnend geöffneter Bauch tänzelt – allzu schlank ist das Standbein (in Mannheim gibt man ihm eine hölzerne Stehhilfe).
Trio 1, ou la place, 1954
Ein "Trio" stellt Germaine Richier auf einen bronzenen Arbeitstisch. Ihr "Schachspiel" spielt weiter mit der Idee des Unabgeschlossenen, des work in progress. Sie vergräbt sich nicht in Tristesse, gibt ihre "Findelmenschen" (Werner Hofmann) nicht verloren. Das Spiel ist offen, sagt sie. Das Statement kann man existenzialistisch nennen.
Kunsthalle Mannheim. Bis 24. August, Di bis So 11–18, Mi 11–20 Uhr.
Das Buch zur Ausstellung: Germaine Richier. Retrospektive, Hg. Matthias Frehner, Ulrike Lorenz u.a., Wienand Verlag, Köln 2013, 183 Seiten, 34 Euro.
Schachfiguren, 1959
Nota.
Sie war ja in Paris, natürlich hat sie Giacometti gekannt. Doch einer Manier hat sie sich nicht hingegeben. Das hat seinen Preis; es ist auch einiges Triviale darunter. Aber von ihr kann man jedenfalls nicht sagen, hast du eins gesehen, kennst du alles. Und sagen Sie selbst: Gibt es nicht Künstler, bei denen das sehr wohl zutrifft?
Mit andern Worten, Ruhm und Vergessenheit sind in der Kunst wie überall ungerecht verteilt.
JE
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