aus nzz.ch, 24. Mai 2014, 05:30
Philosophie der Gegenwartskunst
Neu ist nicht schon zeitgenössisch.
von Peter Geimer
«Im Licht ihrer besten Möglichkeiten»
Vor diesem Hintergrund stellt ein Entwurf wie die «Theorien der Gegenwartskunst» der Philosophin Juliane Rebentisch einen essenziellen Beitrag dar. Das Buch, bei Junius als Einführung erschienen, will sich weder in die Serie der Ratgeber einreihen, die ihren Lesern Orientierung auf dem unübersichtlichen Terrain der Gegenwartskunst versprechen, noch will es detaillierte Analysen einzelner Werke liefern. Stattdessen geht es Rebentisch um eine philosophische Fundierung des Zeitgenössischen in der Kunst.
Dementsprechend beginnt der Text mit der wichtigen Frage, was überhaupt das spezifisch Zeitgenössische an der Kunst der Gegenwart ausmachen soll. «Zeitgenössisch» ist die Gegenwartskunst demnach nicht bereits durch ihre blosse zeitliche Aktualität. Vielmehr ist sie es erst dann, wenn sie «ihre historische Gegenwart gegenwärtig machen» kann und ein reflektiertes Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte unterhält. Ein nicht geringer Teil der neuesten Kunstproduktion, so muss man aus dieser Überlegung folgern, wäre demnach nur in einem oberflächlichen Sinne «zeitgenössisch»: Kunst von heute, die mit ihrer blossen Gegenwärtigkeit aber nicht schon automatisch die Forderung nach einer «kritischen Selbstüberschreitung der Moderne» einlöst. Was wären also die Kriterien, nach denen sich Fortschritt in der Kunst der Gegenwart bemisst?
Die Autorin beantwortet diese Fragen mit dem Hinweis auf eine Vielzahl von wechselseitigen Bezügen zwischen Kunst und Kunsttheorie. Denn so wie die zeitgenössische Kunst durch die Theorie ein Beschreibungsmodell erhält, so sind es umgekehrt Entwicklungen in den Künsten, die der flankierenden Theorie immer wieder entscheidende Impulse geben. Zu diesen Tendenzen gehört die Verabschiedung von der Idee eines «objektivierbaren» Kunstwerks, die längst dem Konzept einer prinzipiellen Unabschliessbarkeit der Werke und damit zugleich einer Aufwertung ihrer subjektiven Erfahrung gewichen ist. Getragen wird diese Entwicklung von der Auflösung der traditionellen Kunstgattungen durch Formen intermedialer «Verfransung», so dass Clement Greenbergs berühmtes Diktum, jede Kunstgattung müsse den ihr eigenen Gesetzen Rechnung tragen, heute obsolet erscheint.
Einen weiteren Schwerpunkt des Bandes bildet die Auseinandersetzung mit künstlerischen Formen sozialer Partizipation. Künstler wie Rirkrit Tiravanija, der in den neunziger Jahren, statt Werke auszustellen, den Museumsbesuchern thailändisches Essen servierte, setzen auf eine starke Involvierung des Rezipienten. Während der französische Kurator und Kunstkritiker Nicolas Bourriaud in solchen Praktiken eine Verwirklichung alternativer Formen der Gemeinschaft erblickt, weist Rebentisch zu Recht darauf hin, dass sie angesichts einer neoliberalen Rhetorik, die vom Einzelnen Eigeninitiative, Beteiligung und Kreativität verlangt, nicht einfach eine utopische Alternative zur Kontrollgesellschaft darstellen.
Konfrontation mit sich
Dementsprechend deutet sie die Kunst der Partizipation nicht als Stiftung neuer Gemeinschaften im Museum, sondern als eine reflexive Konfrontation des Museumsbesuchers mit sich selbst: Nicht unmittelbare Teilhabe ist demnach das Ziel dieser Praktiken, sondern gerade die künstlerische Problematisierung von Partizipation und Gemeinschaft. Über diese Thesen der Autorin hinaus lässt sich der Band aber auch als eine konzise Überblicksdarstellung über zentrale Positionen der Kunsttheorie der letzten fünfzig Jahre lesen – von Adornos Kritik des Gesamtkunstwerks über Umberto Ecos Konzept des «offenen Kunstwerks» und Arthur Dantos These vom Ende der Kunst bis hin zu den Thesen und Theorien von Jean-François Lyotard, Stanley Cavell und Jacques Rancière. Getragen sind alle diese Überlegungen von einem Kunstverständnis «im emphatischen Sinne», und damit ist vor allem die Betonung der ästhetischen Autonomie der Kunst gemeint.
Gerade in den Kapiteln, die sich den Grenzgängen aktueller Kunst, ihren Berührungen mit ausserkünstlerischen Bildwelten, mit Natur und Geschichte widmen, erscheint die Autonomie als das entscheidende Merkmal der Kunst – verstanden nicht als Isolierung von der Gesellschaft, sondern im Gegenteil als Möglichkeit ihrer Reflexion im Modus ästhetischer Erfahrung. Und doch lässt sich fragen, ob das Lob der Reflexivität nicht mitunter auch Gefahr läuft, ein allzu idealisiertes Bild der aktuellen Kunstproduktion zu zeichnen.
Ist Verunsicherung stets gut?
Das deutet sich etwa in Rebentischs Überlegungen zu den Arbeiten des spanischen Künstlers Santiago Sierra an, der durch spektakuläre Aktionen bekannt wurde, in denen er kubanischen Arbeitslosen und heroinsüchtigen Prostituierten gegen Bezahlung eine Linie auf den Rücken tätowieren liess. In den Augen vieler Kritiker waren Sierras Aktionen keine kritische Auseinandersetzung mit sozialen Missständen, sondern im Gegenteil deren blosse Fortführung im Feld der Kunst. Rebentisch hingegen betont auch hier den reflexiven Mehrwert dieser Arbeiten und erinnert daran, dass es letztlich unentscheidbar bleibe, ob es sich bei den Modellen Sierras überhaupt um wirkliche Prostituierte und Obdachlose handle – mithin ein geglückter Fall von «Verunsicherung der Grenze zwischen Fiktion und Realität». Aber wieso ist Verunsicherung per se etwas Positives? Das müsste im Einzelnen und konkret begründet werden. Im Falle der Fotografien Sierras etwa ist nicht einsehbar, warum es wünschenswert sein soll, dass sich nicht entscheiden lässt, ob auf ihnen reale oder fiktive Deklassierte zu sehen sind.
Die Betonung der prinzipiellen Offenheit des Kunstwerks kann im Einzelfall auch eine euphemistische Umschreibung seiner Konturlosigkeit sein. Zersetzung, Verunsicherung, Verstörung, «Unentscheidbarkeit» – die Joker der Autonomieästhetik sind in vielen Fällen zu künstlerischen Routinen und tautologischen Gesten der Selbstbestätigung von Kunst geworden, die eben gerade keine Reflexion mehr in Gang setzen. Man muss den Optimismus der Autorin nicht teilen, um von der Lektüre ihrer luziden Studie zu profitieren. Wer an der Diskussion über die Kunst der Gegenwart teilnehmen will, sollte Juliane Rebentischs normative Position zur Kenntnis nehmen.
Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Junius-Verlag, Hamburg 2014. 256 S., Fr. 24.90.
Nota. - Vorab: Die NZZ ist ein seriöses Blatt, und ich gehe davon aus, dass der Rezensent das Buch, das er insgesamt lobend bespricht, richtig verstanden hat.
"Eine philosophische Fundierung des Zeitgenössischen in der Kunst" soll es also sein, und das bestünde in ihrer Selbstreflexivität, die nichts anderes als Selbstreferentialität ist, im glücklichen Fall eine "kritische Selbstüber- schreitung der Moderne", nämlich: die "Verunsicherung der Grenze zwischen Fiktion und Realität".
Nun war letzteres aber schon eine Leistung - nein, nicht wirklich der Romantik, sondern - jener Moderne, die wir heute die Klassische nennen, weil sie schon so lange nicht mehr zeitgenössisch ist. Damit stand sie nämlich, sei es als Echo, sei es als Persiflage, sei es als Programm, "mitten drin" in ihrer Zeit und hat sie, wenn man so will, "reflektiert", nämlich anschaulich.
Das Medium der Reflexion in specie ist allerdings die diskursive Rede. Wo die neueste moderne Kunst sich selbst-reflektieren will, sollen die Künstler Bücher schreiben. Dann müssten sie clare et distincte in Wörter fassen, was sie aus Bequemlichkeit in ihren Werken nur unverständlich nuscheln: Es ist alles schonmal gemalt worden, alle Motive, alle Formen hat man schon gesehen, und die Bilder ohne Motiv mögen wir seit gut dreißig Jahren schon erst recht nicht mehr sehen.
Selbstreflexivität der allermodernsten Kunst ist nur ein prätentiös verschämter Ausdruck dafür, dass das, was seit ein, zwei Generationen gemalt wird, immer nur eine Variation ist zum allbeherrschenden Thema: Was kann man heute noch malen?
Na schön, nicht immer nur, sondern nur fast immer.
JE
alle Bilder von Gerhard Richter; aus dem Zyklus Können kann ich alles, ich weiß nur nicht, was ich soll
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