Samstag, 17. Mai 2014

Theorien für den Städtebau.

aus nzz.ch, 16. Mai 2014, 14:55                                                                                                    Hauptplatz des Städtchens Pienza. 

Theorien für den Städtebau
Leitlinie, Gedächtnis oder Selbstzweck?

 

Der Bau von Städten wurde nahezu immer von theoretischem Nachdenken begleitet. Wann ist dieses Nachdenken für den Urbanismus eine Stütze, ja sogar eine Orientierung und wann eine überflüssige Last? Wie soll es beschaffen sein? Und wie muss es auf den Städtebau und seine Geschichtsschreibung bezogen werden? 

In der zweiten seiner vier «Unzeitgemässen Betrachtungen» stellt Friedrich Nietzsche Leben und Geschichte einander gegenüber und die These auf, Geschichte (oder Geschichtswissenschaft) könne dem Leben ebenso nützen wie auch schaden. Hier sollen nicht Leben und Geschichte, sondern Städtebau und Theorie einander gegenübergestellt werden; unter der Annahme, die Theorie könne dem Städtebau ebenso nützen wie auch schaden. Die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts entwickeln unterschiedliche Verständnisse von Theorie. Ihr Ausgangspunkt ist eine apriorische Begründung der Wissenschaft, wobei zumindest einem Teil der in der Theorie vorkommenden Sätze apodiktische Gültigkeit zukommt. Schon für Friedrich Wilhelm Joseph Schelling vermag ein Naturforscher ohne theoretische Antizipation seine Arbeit gar nicht erst zu beginnen; eine Physik etwa, die empirisch getrieben wird, erscheint ihm nichts weiter als eine «Sammlung von Thatsachen, von Erzählungen des Beobachteten».

 Pienza

Grundtypen von Städtebautheorie

Allmählich wird die Theorie mit der Empirie gleichgesetzt: Dabei verliert sie ihre Apodiktik und zunehmend auch ihren Wahrheitswert. Für den Philosophen und Ökonomen John Stuart Mill liegt das zentrale Problem der Wissenschaftsphilosophie in der korrekten Wiedergabe der Funktion von Fakten, die beobachtet und experimentell belegt werden können und müssen: Der Naturforscher ist kein Interpret, sondern ein reiner Zuschauer. Der Physiker und Philosoph Ludwig Eduard Boltzmann sieht gar in der Theorie die Konstruktion eines Abbildes der Aussenwelt, das sich der Forscher selbst schaffen kann. Das eröffnet die Möglichkeit des Theorienpluralismus: Es können mehrere Theorien nebeneinander existieren, einander sogar widersprechen, solange sie getrennt bleiben und Versuchsanordnungen als Leitlinie dienen können. So ist in der Wissenschaftsdiskussion der Moderne die Theorie zunächst Voraussetzung für Erkenntnis; dann Hilfsmittel, ja Krücke, der man sich entledigen kann, sobald die (empirische) Erkenntnis vorliegt; schliesslich gar Zweck und Erkenntnis per se. Zugleich aber spannt sich die Debatte zwischen den Polen der hypothetischen und der abstrahierenden Theorie auf: zwischen jener, die vor, und jener, die nach der Versuchsanordnung aufgestellt wird.

Pienza, Luftbild

In der Wissenschaft des Städtebaus sind die Fakten die Städte in ihrer physischen Form; die gebauten, aber auch die gezeichneten, gemalten, als Modell dargestellten. Die Entwurfszeichnungen gehören ebenfalls dazu: Sie verkörpern die Instrumente, welche das Artefakt Stadt mehr oder minder genau beschreiben. Was nun soll die Wissenschaft des Städtebaus an den Anfang ihrer Versuchsanordnungen stellen: die Stadt, das Modell, die Zeichnungen oder den Text?

Die Stadt steht bereits am Anfang der städtebaulichen Theorie, die Vitruv im fünften und sechsten Kapitel des ersten seiner «Zehn Bücher über die Architektur» darlegt. Er war sein Leben lang vermutlich als Kriegsingenieur im Heer von Julius Cäsar und Oktavian, dem späteren Augustus, tätig und Zeuge der Stadtgründungen, die der römische Staat zur Eroberung und Sicherung seines Territoriums vollzog. Seine Erfahrungen und Erkenntnisse fasste er in dem Traktat zusammen, der eine Summa des Stadtbauwissens der Zeit darstellt und das urbanistische Baukastensystem, das die Römer in den vorausgegangenen Jahrhunderten entwickelt hatten, übersichtlich kodifiziert. So muss zunächst ein gesunder Standort ausgewählt, dann das Stadtareal durch «die Anlage der Türme und Mauern» gesichert werden; es folgt «die Ausrichtung der Strassenzüge» (für die Vitruvs Hinweise enttäuschend unergiebig ausfallen), dann die «Auswahl der Plätze für das Forum und die Göttertempel». Im Kernstück seiner Abhandlung bespricht dann Vitruv die Gebäudetypen, aus denen die Stadt zusammengesetzt wird: die Tempel, die öffentlichen Bauten, die Märkte, die Basiliken, die Theater, die Badeanlagen, die Schulen und schliesslich die Privathäuser. Ganz im Sinn von Mills Empirismus beobachtet Vitruv Fakten, die er anschliessend systematisiert.

 
Umgekehrt verhält es sich beim griechischen Architekten, Mathematiker und Philosophen Hippodamus von Milet, der gemeinhin als Begründer der wissenschaftlichen Stadtplanung gilt. Zwar ist keine einzige Schrift aus seiner Hand erhalten, aber Aristoteles berichtet (übrigens abfällig), er habe über die beste Staatsform räsoniert und sei zum Schluss gekommen, eine Idealstadt solle 10 000 freie männliche Bürger beherbergen, was dann mit Frauen, Kindern und Sklaven 50 000 Einwohner ausmache, und demokratisch organisiert und regiert werden. Daraus leitet Hippodamus die nach ihm benannte Stadtstruktur aus rechteckigen Insulae mit acht Bauparzellen ab, die zwischen einem orthogonalen, differenziert ausgebildeten Strassennetz eingespannt sind und er (vielleicht) für den Wiederaufbau seiner Heimatstadt 479 v. Chr., nachweislich dann bei der Anlage von Piräus (451 v. Chr.) und Thurii anwendete. Er geht also, Schellings idealistischen Massgaben entsprechend, von einer theoretischen Antizipation aus, die er dann umsetzt und experimentell überprüft.

 rot: öffentliche Gebäude
 
Verknüpfungen von Stadt und Theorie

Diese beiden grundlegenden Typen der Beziehung zwischen Stadt und Theorie ziehen sich durch die gesamte Geschichte des Städtebaus. Daneben gibt es freilich komplexere Kombinationen. Leon Battista Albertis «De re aedificatoria», zwischen 1443 und 1452 entstanden, schöpft nicht nur aus seiner Kenntnis des archäologischen Fundus des antiken Roms, sondern auch weitgehend aus Vitruvs Traktat, von dem es die Anzahl der Bücher, die Grundkategorien der firmitas, utilitas und venustas und weite Teile des Stoffes übernimmt. Allerdings geht der Renaissancearchitekt auf vielen Gebieten, nicht zuletzt jenem des Städtebaus, andere Wege als der römische Militäringenieur und Theoretiker. Die Prinzipien, die er für den Stadtentwurf aufstellt, kristallisieren sich in breiten Strassen, kolonnadengesäumten Plätzen, regelmässigen Baufluchten und luftigen Portiken; sie werden unter anderem den Stadtumbau von Pienza bestimmen, den Bernardo Rossellino, Bauleiter und Mitarbeiter Albertis für den Florentiner Palazzo Rucellai, 1459 bis 1464 für Papst Pius II konzipierte. Alberti entwickelt also empirisch eine eigene Theorie aus eigener Anschauung von antiken Städten und Stadtmonumenten, aber auch aus einer bestehenden Theorie, die er kritisch fort- und umschreibt; und diese wird dann ihrerseits zur Antizipation und Leitlinie für neue (und neuartige) Stadtprojekte. Im Aufspüren und Entwirren von derlei Verknüpfungen besteht eine der ersten und vordringlichsten Aufgaben der städtebaulichen Geschichtsschreibung. Sie muss der Frage nachgehen, welche Städte welche Theorien, welche Theorien welche Städte beeinflusst haben.

Palazzo communale

Die Verknüpfungen dienen erst einmal dazu, die Städte, aber auch die Theorien besser zu analysieren und zu begreifen. Der Hauptplatz von Pienza spricht weitgehend für sich, wenn man ihn nur genau und gründlich betrachtet: in seiner subtilen Komplexität erschliesst er sich allerdings erst, wenn man Albertis Richtlinien heranzieht – und freilich auch Enea Silvio Piccolominis «Commentarii», eine Mischung aus Tagebuch und Autobiografie, in welcher der päpstliche Bauherr seine Wünsche und Überlegungen zum ehrgeizigen Stadtumbauprojekt zu Papier brachte. Umgekehrt stellt Pienza eine Veranschaulichung der Theorie Albertis dar, die sie illustriert und konkret fassbar macht.
 
Historische Bewertungen

Die Verknüpfungen dienen aber auch dazu, Städte und Theorien besser zu bewerten. Die städtebauliche Geschichtsschreibung darf sich nicht darauf beschränken, ihren Gegenstand zu erklären und im Zusammenhang zu erläutern: Sie muss auch zwischen wichtigen und unwichtigen, zwischen bedeutenden und unbedeutenden Beiträgen unterscheiden. Dafür muss das Stadtprojekt der Theorie gegenübergestellt werden, auf die es sich bezieht oder beziehen lässt; und daran gemessen, ob es die dort aufgestellten Forderungen erfüllt oder nicht. Entscheidend ist dabei die Zuordnung. Würde man Pienza nach den Maximen von Hippodamus oder Vitruv beurteilen, würde die erste städtebauliche Umsetzung der Prinzipien der italienischen Renaissance schlecht abschneiden; der Befund wäre allerdings wertlos, weil die Versuchsanordnung falsch ist. Allein die korrekte Kombination ermöglicht einen tragfähigen kritischen Vergleich.

 
Ist diese Verknüpfung vollzogen, vermag die Stadt im Licht der ihr zugrunde liegenden Theorie in ihrer ganzen konzeptionellen und letztlich auch historischen Tragweite gewürdigt zu werden: so Pienza eben als brillante Interpretation eines bedeutenden, in seiner Zeit bahnbrechenden und heute immer noch modernen Traktats. Umgekehrt ermöglicht die städtebauliche Interpretation eine bessere (und positivere) Einschätzung der Schrift Albertis: Eine Theorie, die zu einer so vollkommenen und innovativen urbanen Disposition kristallisiert, darf eine entsprechende innovative Substanz und einen entsprechenden geschichtlichen Wert für sich beanspruchen.

Auch jenseits der beschriebenen Versuchsanordnungen muss der Historiker den Mut und die Fähigkeit besitzen, Werturteile zu fällen. Diese Werturteile werden sich zunächst auf die ihrem Gegenstand innewohnende Qualität beziehen. Die Architektur der Stadt, so instrumentell sie auch angelegt ist, folgt nicht zuletzt eigenen Gesetzen, die sich in ihrer historischen Entwicklung herausgebildet und weitestgehend von den Anforderungen gelöst haben, in denen sie ihren Ursprung hatten. Innerhalb dieser autonomen Struktur kann die physische Form der Stadt in sich konsistent sein oder auch nicht. Gleiches gilt für die Theorie: Deren Text ist klar artikuliert oder nicht, die Argumente, die er darlegt, sind schlüssig oder nicht. Wenn beispielsweise festgestellt wird, Vitruvs Traktat sei inkonsistent gegliedert, weise etliche dunkle und sogar widersprüchliche Stellen auf und sei in hölzernem Latein geschrieben, ist das eine (zutreffende) Kritik, welche die Theorie an sich betrifft, nicht ihren inhaltlichen Bezug zur Gesellschaft und zur Welt.

 
Ebenso wenig aber sollte sich der Historiker ein weitergehendes Urteil versagen, das über die immanente Sicht hinaus eben den Bezug von Stadt und Theorie zu Gesellschaft und zur Welt betrifft. So zahlreich (und gegensätzlich) Städtebautheorien sein können und dürfen: Wenn sie in einer totalitären Vorstellung von politischer Gemeinschaft, in einer ressourcenverschwendenden Technologie oder in einer fragwürdigen ökonomischen Praxis wurzeln, müssen sie als solche abgelehnt werden: selbst dann, wenn ihr argumentativer Aufbau keinen Makel aufweist. Und wenn eine Stadtform, mag sie auch originell und ästhetisch ansprechend anmuten, ihren Bewohnern kein angenehmes, freies und kommunikatives Zusammenleben ermöglicht, ist sie schlichtweg untauglich.
 
Vom Nutzen der Theorie

Doch ist die Verknüpfung von Theorie und Stadt, von Wort und Bau nicht nur ein zentrales Instrument für die Geschichtsschreibung, sondern auch für die Praxis des Städtebaus. Diese ist, will sie nicht zur Erfüllungsgehilfin vordergründiger und durchaus auch fragwürdiger Anforderungen verkommen, auf Visionen, zumindest aber auf Konzepte angewiesen. Diese Visionen und Konzepte können, ehe sie umgesetzt werden, am schärfsten und umfassendsten in schriftlicher Form ausgedrückt werden: in einer Theorie eben. Diese dient nicht nur dazu, eine eigene Position präzise zu beschreiben; ihr Verfassen hilft, diese Position zu finden und zu klären.

Die Praxis des Städtebaus benötigt darüber hinaus und in nicht geringerem Mass ein eigenes Gedächtnis, die Sammlung und Systematisierung des Wissens, das sie als Disziplin im Lauf der Zeit angesammelt hat. Allein dieses Wissen bewahrt sie davor, immer wieder bei Punkt null zu beginnen, Fehler zu begehen, die bereits begangen und als solche erkannt wurden, Lösungen zu übersehen, die in der Vergangenheit erprobt wurden und sich bewährt haben. Und dieses Wissen lässt sich am geeignetsten in einem theoretischen Werk festhalten: in einem Traktat, einem Thesaurus oder einem Lehrbuch. Wie wichtig all dies gerade heute ist, liegt auf der Hand. Der Städtebau hat nicht nur jegliche Autorschaft aufgegeben, sondern sich auch zur Konzeptlosigkeit bekannt: angeblich um autokratische Gesten von sich zu weisen, in Wahrheit, um willfähriger den Vermarktungsmechanismen der Stadt zu entsprechen. Und die Theorien, die er entwickelt hat und immer noch entwickelt, sind mit aggressiver Resignation von einer Praxis losgelöst, die widerspruchslos dem Markt überlassen wird. In diesem Spiel gibt es weder das Bedürfnis nach historischer Rückversicherung noch die Möglichkeit, zu einem brauchbaren Erfahrungsschatz beizutragen.



Mit alledem soll der Nutzen, ja die Unabdingbarkeit der Theorie des Städtebaus festgehalten und belegt, aber nicht ihr möglicher Nachteil verschwiegen werden. Genauer: Die Gefahr der Theorie um der Theorie willen der von der Praxis losgelösten Selbstreflexion. Auch solcherlei nebulöses und redundantes Geschwafel plagt die Gegenwart unserer Disziplin. Gewiss gibt es Theorien, die sich primär aus anderen ableiten lassen und dabei bedeutsam und innovativ sind: Jene von Alberti zählt dazu. Ihre Innovation und Bedeutsamkeit schöpft sie jedoch nicht nur aus der kritischen Auseinandersetzung mit Vitruvs Traktat, sondern auch und vor allem aus der (gleichermassen kritischen) Beschäftigung mit der antiken und, mehr noch, der mittelalterlichen Stadt. Nur diese Beschäftigung erlaubt es Alberti, ebenso visionär wie konkret zu argumentieren. Die Theorie ist auf die Praxis angewiesen, die Praxis aber gleichermassen auf die Theorie: für den Städtebau in besonderem Mass. Denn dessen Praxis zielt darauf, einer Gemeinschaft von Menschen eine Behausung zu geben und einen identitätsstiftenden Ort. Deswegen ist sie auf möglichst viel Wissen angewiesen, auch ausgesprochen pragmatischer Art, um ihre überaus komplexe Aufgabe zu erfüllen: Wissen über das, was die Disziplin in der Vergangenheit geleistet hat, und Wissen über das, was das besondere Projekt in der Gegenwart für die Zukunft leisten soll.

Dieses Wissen ist keine ausreichende, nur eine notwendige Bedingung. Es muss, auch für den Städtebau, in den Dienst eines künstlerischen Talentes gestellt werden. Aber selbst das grösste künstlerische Talent wird ohne dieses Wissen allerhöchstens eine hübsche Ansammlung einnehmender architektonischer Objekte schaffen. Für eine Stadt braucht es historische Erfahrung, solide Kenntnisse, klare Leitsätze. Für eine Stadt braucht es ein Fundament: nicht nur ein bauliches, nicht nur ein historisches, sondern auch und unbedingt ein theoretisches.

Prof. Dr. Vittorio Magnago Lampugnani lehrt Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich und ist Architekt in Mailand. Vor wenigen Wochen erschienen im Berliner Gebr.-Mann-Verlag die letzten beiden Bände der fünfteiligen «Anthologie zum Städtebau», die er gemeinsam mit Katia Frey und Eliana Perotti herausgegeben hat.

Piero della Francesca, Idealstadt 

Nota.

Es wird in dem Beitrag nicht ganz deutlich: Pienza wurde nicht erst geplant und dann gebaut, sondern war schon da und wurde unter Enea Silvio Piccolomini, nachdem er als Pius II. Papst geworden war, umgebaut, denn es war sein Geburtsort, den er seiner neuen Würde anpassen wollte. Andernfalls sähe Pienza vielleicht so aus wie Piero della Francescas Entwurf.
JE

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