Auch Schimpansen mögen Musik Menschenaffen bevorzugen afrikanische Rhythmen gegenüber westlicher und japanischer Musik
Wechselnde Rhythmen statt stampfender
Beats: Typisch westliche Musik verschreckt Schimpansen, für
abwechslungsreiche afrikanische und indische Rhythmen haben sie jedoch
eine Vorliebe. US-Forscher haben herausgefunden, dass die Affen solche
Musik sogar lieber hören, als im Stillen zu hocken. Ein Sinn für Musik
könnte damit ein weiteres Merkmal sein, dass Menschen und Primaten
miteinander verbindet, schreiben die Wissenschaftler.
Musik ist etwas, das alle Menschen verbindet, auch wenn jede
Kultur ihre eigenen unterschiedlichen Melodien und Rhythmen entwickelt
hat. Menschenaffen dagegen musizieren nicht selbst – sie haben aber sehr
wohl einen gewissen Sinn für Musik, wie frühere Studien herausgefunden
haben. Bestimmte Vorlieben ließen sich bei den Primaten bislang
allerdings nicht zuverlässig erkennen, abgesehen davon, dass sie
langsamere Rhythmen zu bevorzugen schienen. In allen bisherigen Studien
vermieden die Affen die Musik jedoch gänzlich, wenn sie die Möglichkeit
hatten.
Bisher allein westliche Musik erforscht
Wissenschaftler um Frans de Waal von der Emory University in Atlanta
haben allerdings festgestellt, dass sich die Forschung zum Musiksinn bei
Primaten bisher allein auf westliche Musikrichtungen wie Pop, Blues und
klassische Musik konzentrierte. Diese folgen jedoch gemeinsamen
musikalischen und akustischen Mustern – möglicherweise gibt es für die
Primaten also keinen entscheidenden Unterschied.
De Waal und seine Kollegen studierten darum die Reaktionen von
Menschenaffen auf eine Auswahl von Musikstilen mit größeren
Unterschieden: afrikanische, indische und japanische Musik. "Wir wollten
keine unterschiedlichen Vorlieben für Musik verschiedener Kulturen
nachweisen", erklärt de Waal die Auswahl der Musik. Es sei aber wichtig,
akustische Eigenschaften der Musik genau bestimmen zu können, wie bei
den gewählten kulturellen Musikarten.
Morgendliche Zufallsmusik
Zwei Gruppen von insgesamt 16 Schimpansen bekamen zwölf Tage lang jeden
Morgen für 40 Minuten Musik aus einer der drei Stilrichtungen
vorgespielt. Alle Musikstücke wurden in zufälliger Reihenfolge und in
derselben Lautstärke gespielt. Dabei beobachteten und filmten die
Wissenschaftler, wo die Affen sich in ihrem Gehege aufhielten.
Die Unterschiede waren deutlich sichtbar: Bei afrikanischer und
indischer Musik hielten die Schimpansen sich gern in der Nähe der
Lautsprecher auf und hörten lieber Musik als in den ruhigen Ecken zu
bleiben. Bei den japanischen Stücken suchten sie jedoch das Weite und
befanden sich eher in Bereichen des Geheges, wo die Musik kaum oder gar
nicht hörbar war.
Lieber Musik hören als Stille
Die Wissenschaftler nehmen an, dass die Affen die afrikanische und
indische Musik aufgrund ihres Rhythmus bevorzugen. Sie beinhalten große
Unterschiede und häufige Wechsel zwischen stark ausgeprägten und
schwächeren Beats. Die japanische Musik dagegen zeichnet sich durch
kräftige und regelmäßige Beats aus, wie sie auch für westliche Musik
typisch sind. "Schimpansen könnten diese starken, berechenbaren
rhythmischen Muster als bedrohlich empfinden", erklärt de Waal, "denn
die Drohgebärden von Schimpansen beinhalten oft rhythmische Geräusche
wie Stampfen, Klatschen und das Aneinanderschlagen von Gegenständen."
Bedeutend ist für die Wissenschaftler, dass die Affen nicht nur eine
Vorliebe für bestimmte Musik haben, sondern diese auch gegenüber Stille
bevorzugen. Erstautor Morgan Mingle von der Emory University bezeichnet
diese Tatsache als "überzeugenden Beweis, dass unsere gemeinsame
Evolutionsgeschichte eine Vorliebe für Geräusche beinhaltet, welche bei
Menschen wie Schimpansen keine überlebenswichtigen Signale darstellen."
Musikhören aus reiner Freude an der Musik haben wir demnach mit unseren
entfernten Vettern gemeinsam. In weiteren Untersuchungen wollen die
Forscher nun anhand der breiten Auswahl menschlicher Musik herausfinden,
welche Muster in der Musik möglicherweise einen gemeinsamen
evolutionären Ursprung haben.
aus nzz.ch, 29. 6. Santiago Calatravas rechtswissenschaftliche Bibliothek der Universität
Zürich
Architekt und Ingenieur
Die Unteilbarkeit der Baukunst
Die
richtige konstruktive Lösung führt nicht unbedingt zu harmonischen
Bauten. Gestaltung ist auch im Zweckbau wichtig, weshalb es keine
Trennung zwischen Architekt und Ingenieur geben sollte.
Der
Homo Faber, wie ihn Max Frisch geschaffen hat, war ein Ingenieur, ein
Mensch, der alles im Reich der Technik begriff und die Welt auf das
Machbare, das Funktionierende reduzierte. Mit dieser – alles andere als
untypischen – Einstellung hat er sich in eine selbstgewählte Isolation
begeben, die im Metier selbst keineswegs angelegt ist. Denn Ingenieure
wie Architekten beziehen sich auf ein und dasselbe: den Baumeister.
Gleichwohl ist das heutige Verhältnis zwischen Architekten und
Ingenieuren – freundlich gesagt – verbesserungsfähig. Wenn diese auf
jene gucken, dann häufig mit boshafter Distanz. Erinnert sei hier an das
Speichenrad. Hier herrscht die Meinung, dass man dieses Pars pro Toto
als Werk eines Ingenieurs sehen müsse: Die Felge mit ihrem Querschnitt
zur Aufnahme des Reifens, die spannbaren Speichen, ihre Abwicklung, die
Nabe, der Schlauch, das alles macht ein komplexes, wiewohl überzeugendes
Produkt. Hätte man einen Architekten mit dem Entwurf eines Fahrrads
beauftragt, so wäre unter Umständen aus einem Vollwandmaterial eine
Kreisscheibe ausgeschnitten und rot, gelb oder blau angemalt worden.
Umgekehrt lassen sich die Architekten zumeist nicht lumpen, wenn es die
Fähigkeiten und Leistungen des Ingenieurs zu «würdigen» gilt: etwa als
«Zahlenknecht», der über die Berechnung der Biegesteifigkeit die
Komplexität der Entwurfsanforderungen aus den Augen verliert.
Zweckerfüllung ohne Gestaltungswillen
Sind
solche Zuschreibungen schon recht ernüchternd, so fällt der Befund
insgesamt noch schwerwiegender aus: Unter dem Stichwort Baukultur guckt
man – mit Ausnahme der Brücken, die derzeit ja viel Aufmerksamkeit
erfahren – nicht auf jene zahlreichen Errungenschaften, die als
Ingenieurbauten subsumiert werden: Strassen, Eisenbahnlinien,
Starkstromleitungen, Kraftwerke und Müllverbrennungsanlagen,
Kläranlagen, Wasserwerke und Sendemasten. In diesen Bauwerken steckt ein
Investitionsvolumen, das dem in Architektur und Hochbau zumindest
ebenbürtig ist. Sie stehen zumeist unübersehbar in der Landschaft und
werden doch kaum wahrgenommen. Das Auge hat sich an ihre Belanglosigkeit
gewöhnt. Das sind «Zweckbauten», lautet die stille Übereinkunft, und es
verbietet sich fast, an sie besondere Ansprüche zu stellen. Warum
eigentlich?
Coalbrookdale-Bridge über den Fluss Severn
Offenbar tut es Not, daran zu erinnern, dass
es Ingenieurbauten waren, die die Architektur revolutionierten: Abraham
Darbys Coalbrookdale-Bridge über den Fluss Severn, zwischen 1775 und
1778 als erste gusseiserne Brückenkonstruktion verwirklicht, ebenso wie
achtzig Jahre später Joseph Paxtons Crystal Palace zur Weltausstellung
in London. Solche Eisenkonstruktionen, meinte vor fast hundert Jahren
der Kunsthistoriker A. G. Meyer, bedürften zu ihrer Entstehung
arithmetischer Operationen und algebraischer Formeln, und dies sei eine
Angelegenheit, die sich durchaus auf rationalem Boden abspiele. Damit
aber sei es nicht getan, denn das Rechnen ziele auf das Bauen ab, setze
also einen anderen Schritt voraus, welcher erlaube, sich das fertige
Gebilde schon vor seiner Entstehung bildlich vorzustellen. Also das Ende
eines synthetischen Weges, auf dem sich konstruierende
Verstandestätigkeit und sinnliche Vorstellungskraft – jenes Vermögen,
das gemeinhin den Künstler auszeichnet – vermählen.
Crystal Palace
Allerdings
scheint die Mehrzahl dieser Zweckbauten seit dem Zweiten Weltkrieg
keine allzu grosse Herausforderungen an die Erfindungsgabe der Entwerfer
gestellt zu haben. Es ist müssig zu diskutieren, was Ursache und
Wirkung dieses Phänomens ist, ob Unkenntnis der grundlegenden statischen
Prinzipien seitens der Architekten zu einer Verkümmerung des
Formenrepertoires führte oder ob im Gegenteil die aus einer
philosophisch-künstlerischen Haltung entsprungene Selbstbeschränkung den
Verlust dieses Wissens verursachte. Hat der Berufsstand der
Bauingenieure seinen Blick von allem abgewendet, was jenseits des
numerisch Fassbaren liegt? Vernachlässigt er den intuitiven Zugang, die
imaginativen bildhaften Methoden der Lösungsfindung?
Gewiss
gibt es hervorragende Beispiele für die virtuose Gestaltung von
Tragwerken. Persönlichkeiten wie Nervi, Maillart, Candela haben sie
hervorgebracht. Zunächst also Ingenieure, die einen ausgeprägten Sinn
für Form, Gestalt und Harmonie besassen. Sie hatten teilweise noch
zusätzlich als praktizierende Unternehmer Einflussmöglichkeit auf die
Ausführung ihrer Bauten. Auch Architekten wie Buckminster Fuller, Konrad
Wachsmann oder Jean Prouvé schufen Beispielhaftes, insbesondere auf dem
Gebiet der Formfindung, Konstruktion und industriellen Fertigung.
Buckminster Fuller, Dymaxion House 1927
Unter
den Zeitgenossen spielt namentlich Santiago Calatrava eine eminente
Rolle, da er sich gleichermassen als Konstrukteur und Baukünstler
versteht, wie etwa der Zürcher Bahnhof Stadelhofen oder die Bibliothek
des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich zeigen.
Bei der Bibliothek implementierte er in den Kern eines Altbaus eine
ovale, sechsgeschossige Stahlkonstruktion mit elaborierten Details und
von verblüffend schwereloser Wirkung. Der geschwungene Raum fliesst
harmonisch, um sich nach zwei Seiten hin zu verjüngen. Unter einer
Glaskuppel werden hier unterschiedliche bauliche Strukturen so
spektakulär wie detailversessen integriert. Auch der 2007 verstorbene
Tessiner Architekt Livio Vacchini offenbarte sich immer wieder als
Anhänger der Ingenieurskunst, etwa in der skulptural facettierten
Müllverbrennungsanlage bei Bellinzona. Diese ist weniger ein Zweckbau in
einer einprägsamen Form als vielmehr Ausdruck des Versuchs, eine
Vielzahl von Aspekten und Funktionen in einen einzigen, logischen Körper
einzubinden, dessen Massen, Hohlräume und Aufrisse aufgrund präziser
Geometrien entworfen und wirkungsvoll zur Geltung gebracht wurden.
Livio Vacchini Müllverbrennungsanlage bei Bellinzona
Welche
Art Denken, Arbeiten, Planen, Entwickeln kann zu solch integrativen und
innovativen Meisterleistungen führen? Für die Suche nach Neuem sind ja
nicht unbedingt freie Experimentierfelder nötig, kann sie doch auch
innerhalb eines strikten formalen Kanons erfolgen. Man denke nur an die
Kathedralbaumeister, die, typologisch, liturgisch und
statisch-konstruktiv eingeschränkt, trotzdem lebhaft – und mit Erfolg –
laborierten.
Kooperation im kreativen Prozess
Nun
ist allerdings die Kooperation in einem schöpferischen Akt nicht so
einfach. Weder lässt sie sich postulieren oder verordnen, noch führt sie
zwangsläufig zum Erfolg. Es ist sogar fraglich, ob der eigentliche
kreative Akt des konzeptionellen Entwerfens in Teamarbeit geleistet
werden kann. Zumindest spricht einiges dafür, dass es einen Spiritus
Rector geben muss, der den Entwurf durchgängig bestimmt. Die
beeindruckende Stadionanlage, die anlässlich der Olympischen Spiele von
1972 in München realisiert wurde, ist das Produkt einer Idee: des
Architekten Günter Behnisch. Dass sie verwirklicht werden konnte,
verdankt sich aber wesentlich der Arbeit von Ingenieuren. Zumindest die
wichtige Phase der Verifizierung wurde massgebend von Fritz Leonhardt,
Frei Otto und Jörg Schlaich mitgetragen. Offensichtlich war die Idee
stark genug, um bei der Vollendung des kreativen Prozesses mitzuwirken
und eine neue, unpathetische und leichtfüssige Architektur durch eine
innovative, anspruchsvolle Technik zu zeitloser Baukunst aufzuwerten.
Olympiastadion, München
Es
ist freilich nicht mit der Forderung getan, dass der Ingenieur
Gestaltungskompetenz erwerben muss. Zumal das eigentliche Problem heute
weniger in der Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst liegt als
vielmehr in der fortschreitenden Erosion von Kultur ganz allgemein. Wenn
sich alles nur noch darum dreht, so billig wie möglich zu bauen, dann
avanciert der Bauunternehmer, der sich im Allgemeinen nicht um
kulturelle Werte schert, zur Zentralfigur. Und mit ihm, so Richard
Rogers, «steigt dann ein neuer Typ des Ingenieurs empor, der
‹Buchhalter-Ingenieur›, der eine echte Gefahr bedeuten kann, denn
Buchführung sucht nicht nach Langzeitlösungen, sondern rechnet
kurzfristig». – Wenn es stimmt, dass Baukunst unteilbar ist, dann kann
es keine getrennte Verantwortung für die Gestalt einerseits und die
Statik andererseits geben. Architekten und Ingenieure müssen eine neue
Kreativität im Zusammenspiel entwickeln – und diese für Qualität nutzen.
Robert Kaltenbrunner ist Architekt und arbeitet beim Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung in Bonn und Berlin.
Modellino di rivellino, da un disegno di Leonardo da Vinci
PARIS/FRANKFURT.Das Goethe-Institut in Paris zeigt bis 22. Juli
eine Reihe weltweit einzigartige Felsbilder aus dem Archiv des
Frankfurter Frobenius-Instituts an der Goethe-Universität, darunter ein
Großbild von 2,5 x 11 Meter. Die Ausstellung „Auf dem Weg nach Atlantis:
Leo Frobenius und die Felsbilder Afrikas“ geht der abenteuerlichen
Entstehungsgeschichte dieser Bilder in der Zentralsahara und den
Savannen Simbabwes nach, die gleichzeitig einen Startpunkt für die
öffentliche Wahrnehmung der älteren Geschichte des afrikanischen
Kontinents in Deutschland darstellte.
Der Frankfurter Kurator Dr. Richard Kuba, Ethnologe und Leiter der
Sammlung am Frobenius-Institut, erläutert die Hintergründe: „Unsere
Ausstellung erzählt auch die spektakuläre Ausstellungsgeschichte der
Sammlung, die in den 1930er Jahren u.a. im Berliner Reichstag, im
Pariser Pleyel und im Trocadéro sowie im New Yorker MoMA gezeigt wurde.
Als Wissenschaftsbilder längst überholt und heute weitgehend vergessen,
waren diese ungesehenen Bilder eine Quelle der Inspiration für die
künstlerische Avantgarde.“ Verbunden mit der Pariser Ausstellung sind
auch öffentliche Vorträge und ein Kolloquium zur
„Verflechtungsgeschichte der Ethnologie“.
Bereits auf seinen ersten Expeditionen durch den belgischen Kongo von
1904 bis 1906 und durch Westafrika von 1907 bis 1909 war der deutsche
Ethnologe Leo Frobenius (1873-1938) auf der Suche nach den
ursprünglichen Formen afrikanischer Kulturen und glaubte sich bisweilen
auf den Spuren des alten Atlantis. Ab 1912 haben Malerinnen und Maler,
die Frobenius für seine insgesamt 12 Afrika-Expeditionen engagierte,
Kopien von Felsbildern angelegt. Dazu Kuba: „Vor Ort in Nordafrika, in
der Sahara und im südlichen Afrika haben sie die prähistorischen
Malereien und Gravuren in Farbe und und oftmals in Originalgröße auf
Leinwand kopiert.“ In den 1930er Jahren folgten dann
Felsbild-Expeditionen in europäische Länder sowie nach Australien und
Indonesien. Bis zu Frobenius Tod im Jahre 1938 entstand so eine weltweit
einzigartige Sammlung von fast 5000 Felsbildkopien, die noch heute
überwiegend im Archiv des Frobenius-Instituts erhalten ist.
Leo Frobenius war eine schillernde und doch faszinierende
Persönlichkeit: Abenteurer und Afrika-Entdecker, Ethnologe und
Kulturphilosoph, Monarchist und Ideenspender für ein neues Afrika-Bild,
das in der nachkolonialen Phase entscheidenden Einfluss auf die
Entstehung der emanzipatorischen Négritude-Bewegung hatte. Frobenius,
der Mitte der 1920er Jahre an das eigens für ihn gestiftete Institut für
Kulturmorphologie an die Universität Frankfurt kam, war getrieben von
der Vorstellung, sich mit aller Kraft gegen Modernisierung und
Rationalisierung stemmen zu müssen. Und in Afrika schien er all das in
den Mythen, Masken und Malereien zu finden, was in Europa an Wert
verlor.
Soeben ist übrigens in der von der Goethe-Universität
herausgegebenen Biographie-Reihe „Gründer, Gönner und Gelehrte“ ein Band
über Leo Frobenius im Societäts-Verlag erschienen. Der Autor und
Ethnologe Prof. Dr. Bernhard Streck von der Universität Leipzig setzt
sich intensiv mit Frobenius und seiner Kulturmorphologie auseinander.
Informationen: Dr. Richard Kuba, Frobenius-Institut, Campus Westend, Tel.: 069-798-33056, Kuba@em.uni-frankfurt.de
Dass Sie mich richtig verstehen: Das ist Ganz Große Kunst. Dass sie nicht dauern kann, schmälert sie nicht, sondern erhöht sie. Und sie kommt von nun an immer wieder.
Def.:‚Das Ästhetische’ ist eine sinnliche Qualität ‚an’ den Erscheinungen,
die „so aussieht, als ob“ sie (‚symbolisch’) ‚für’ eine andere, unsinnliche
Qualität derselben (!) stünde (‚darauf verwiese’), die als solche selber nicht
‚erscheinen’ kann. -
Der Rätselcharakter des Ästhetischen:
Unsinnliche Qualitäten ‚gibt es’ in Wirklichkeit sowieso nicht. ‚Wirklich’ ist
nur das, was - irgendwie: in zweiter, dritter, vierter Instanz („Vermittlung“)
- operationalisierbar ist; das heißt „durch Praxis“ aus dem Stadium unsinnlicher
‚Latenz’ (dynamis: „Idee“) ins
Stadium sinnlicher ‚Aktualität’ (energeia:
„Werden“) überführt werden kann: „Man kann was damit anfangen“ (‚damit umgehen’,
sagt das Arschloch). - Bei den prima facie ästhetischen Qualitäten der Dinge
ist es eben zunächst („anschaulich“) unklar (cf. Erotik: Ausdruckswert, Sexualcharakter),
ob sie sich nicht am Ende wohl doch noch als „operationalisierbrar“, nämlich
irgendwie nutzbar erweisen, oder nicht. Das „rein-Ästhetische“ ist das, was
sich bis zum Schluß als der „menschlichen Praxis“ inkommensurabel behauptet und
dennoch weiterhin „über sich hinaus weist“; das, was ‚es’ nur als Erlebnis ‚gibt’. Es ist eben „schön“.
Nota 2014: Nicht
zu vergessen, dass das alles Einfälle sind, die vor rund fünfzehn
Jahren aufgeschrieben wurden: unausgegoren, aber dafür noch ganz
frisch, darum habe ich sie Rohentwurf genannt. Meine späteren Einträge auf diesem Blog sind durchdachter; aber auch voller Rücksichten und Vorbehalte. JE
Nicht nur die Wortprägung Ästhetik geht auf Alexander Gottlieb Baumgarten zurück, wobei freilich aesthetica nicht als ein Singulare femininum, sondern als ein Neutrum plurale gedacht war; sondern auch das akademische Fach dieses Namens hat er begründet.
...Baumgarten hat sein neugeschaffenes 'Fach' gleich selber mit den Fußangeln versehen, die es dann lange Zeit gefangen hielten.
Die Beschränkung des Ästhetischen auf die Kunstwerkehat zwar schon bei Kant die Einsicht befördert, dass historisch die
Wahrnehmung des Naturschönen ein Abkömmling des Kunstschönen war; hat
das Phänomen, dass die Kunst (seit der Renaissance) nur dann als schön
erkannt wurde, wenn sie... die Natur nachahmte, aber leider gedanklich
unfruchtbar bleiben lassen. Noch lange sollte "das Schöne" an sich Gegenstand
ästhetischer Betrachtung bleiben, statt als eine kultur- und
mentalitätsgeschichtlich spezifische Gestalt dessen verstanden zu
werden, was dem (pp.) ästhetischen Empfinden je als das Erhebliche ins Auge springt. - Die Verengung 'des Ästhetischen' auf das Schöne ist eine Aporie, weil sie die Bestimmung des Schönen außerhalb der ästhetischen Anschauung im Begriff vermuten und suchen lässt; wo sie freilich nicht zu finden ist. Vielmehr ist das Verständnis des ästhetischen Phänomens zirkulär, weil 'das Ästhetische' nur als Gegensatz zum haushälterisch-Nützlichen, d. h. uno acto mit ihm zusammen 'gefasst', d. h. angeschaut werden kann.
Die
zweite große Fußangel ist sie Auffasung der ästhetischen Wahrnehmung
als das "niedere Erkenntnisver- mögen". Damit wird einerseits Erkenntnis
als eigentliche Bestimmung des Menschen unterschoben und andererseits
das Ästhetische dem "dunklen Grund der Seele" zugewiesen. Beides hat
sich seither in der ästhetischen Literatur als stetes Schwanken zwischen
geistreichem Wortgeklingel hier und mystifizierendem Schwulst dort
niedergeschlagen...
Ihre schillernde Vieldeutigkeit hat sich die Ästhetik auch als Fach bis heute erhalten. Es ist ein faule Ausrede, dass das in der Natur seines Gegenstandes läge. Dass die Sache selber nicht fassbar, weil nicht positiv bestimmbar ist, muss einen nicht daran hindern, immerhin das zu fassen und zu bestimmen, was diese Sache nicht ist. Mit andern Worten, das Ästhetische ist natürlich nicht an sich zu verstehen, sondern aus seinem Gegensatz. Ästhetik hat nur faktisch, und das heißt beiläufig mit der Kunst zu tun; wesentlich ist sie das Mittelstück, das Anthropologie und Transzendentalphilosophiescheidet oder verbindet - wie man will.
aus nzz.ch, 11. Juni 2014, 05:30 Pieter Snayers Belagerung von Gravelines, 1653
«Mapping Spaces» in Karlsruhe
Zum Sehen geboren, zum Schiessen bestellt
Von
der in ihrer Existenz gefährdeten Landschaft ist heute immer wieder die
Rede. Berichte von absterbenden Wäldern, eingestürzten Bergwerken,
verlegten Flussbetten kann man regelmässig lesen. Eine Situation, zu der
es eine Vorgeschichte gibt. In einer Ausstellung in Karlsruhe ist sie
zu besichtigen.
Landschaft ist das
externe Zuhause des Menschen. Eine Selbstverständlichkeit, über die er
manchmal erst nachzudenken beginnt, wenn er dieses Zuhause verlässt.
Oder es verliert, zum Beispiel durch Eingriffe anderer Menschen, die
Häuser abreissen, Bäume fällen und Hochhäuser errichten.
Jacob van Ruisdael, Ansicht von Naarden, 1647
Landschaft
ist ein realer, aber auch ein hochgradig emotionaler Ort. In der
Literatur und Malerei gibt es seit dem 18. und besonders im 19.
Jahrhundert vor allem in Nordeuropa eine intensive Widerspiegelung
dieses Phänomens, das schwärmerisches Entzücken hervorruft, durch
plötzliche Naturkatastrophen das Leben aber auch erschweren und
gefährden kann. In England, dem wir die Vermählung von Natur und Kultur
unter dem Namen «englischer Garten» verdanken, gibt es nicht nur die
«landscape», sondern auch die «seascape», man ist ja schliesslich eine
Insel, und was für eine. In Deutschland hat die Begegnung von Kunst und
Landschaft mit Caspar David Friedrich den romantischen Maler par
excellence gefunden. Friedrich, ein schweigsamer und introvertierter
Mann, hinterliess keine grosse Theorie, aber einen bekenntnishaften
Satz: «Schliesse dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge
zuerst siehst dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen,
dass es zurückwirke auf andre von aussen nach innen.»
Johannes-Klencke-Atlas, 1660 erschienen
Was hinter dem Horizont liegt
Eine
Gebrauchsanweisung für das Sehen (und Malen), die man sich in den
nachbarlichen Niederlanden nicht vorstellen kann, egal, in welchem
Jahrhundert. Und auch nicht die der Innenansicht von Friedrich
entsprechenden Bilder, den «Wanderer über dem Nebelmeer» (1818) oder die
junge «Frau am Fenster» (1822), die für Friedrich typischen
Rückenansichten, wir schauen mit den Menschen ins Land, in die Ferne,
keiner weiss, was hinter dem Horizont liegt. Wohingegen zum Beispiel in
Vermeers sorgfältig inszenierten Interieurs die verschwiegene Poesie oft
hinterfangen ist von einer als Wanddekoration dienenden Landkarte, zum
Beispiel auf dem Bild «Die Malkunst» (1666).
Adam Frans van der Meulen, Die Truppen von Ludwig XIV. vor Naarden am 20. Juli 1672, 1672–1690.
Zu diesem
Realitätssinn passt es auch, dass man in den Niederlanden, die ihren
bildnerischen Reichtum gern in der Formel des «Goldenen Zeitalters der
Malerei» akkumuliert sehen, ein sehr neues, auf naturwissenschaftlichen
Erkenntnissen gegründetes Gebiet künstlerischer Betätigung erkannt und
ausgebaut hat. In der Ausstellung «Mapping Spaces – Netzwerke des
Wissens in der Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts» im Museum für
Neue Kunst des ZKM Karlsruhe ist diese Kunst der weit geöffneten Augen
samt der sie unterstützenden Werkzeuge und Instrumente sowie der
naturwissenschaftlichen Schriften und philosophischen Traktate neu zu
entdecken.
Auch hier geht es selbstverständlich und mehr denn je
um Gold, aber nicht als metaphorische Nobilitierung, sondern als reales
Ergebnis von Landeroberung und Landgewinnung, Macht- und
Besitzmaximierung. Dass dabei ein Krieg die Forschung begünstigt hat,
mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen dann gleichzeitig die Menschen
bedroht, vertrieben und oft auch vernichtet wurden, ist nach den
Erfahrungen zweier Weltkriege keine Neuigkeit mehr, wird aber durch den
1568 von den spanischen Habsburgern geführten Krieg gegen die
calvinistisch gesinnten Niederländer, der erst 1648 mit dem
Westfälischen Frieden endete, zum ersten Mal in der Kunst sichtbar.
Jacques Callot, Die Belagerung von Breda
Die
im Halbdunkel der Räume und im Wechsel von Bildern, Folianten und
Objekten installierte Ausstellung beginnt mit dem Sonderauftritt eines
Durchschnittsbildes, Jacob van Ruisdaels «Ansicht von Ootmarsum». Ein
Kirchturm ragt in einer wohlgeordneten Landschaft Orientierung gebend in
den stark bewölkten Himmel. Die minimale Irritation folgt dann bei
Ruisdaels «Ansicht von Haarlem von den Dünen bei Overveen». Hier ist zum
Ende der eher geschichteten als akkumulierten Landschaft eine leichte
Krümmung des Horizonts wahrzunehmen. Dass man aber aus solchen für das
Besucherauge doch recht unspektakulären Ansichten neue, kopernikanische
Weltbilder erahnen, dass man hier auch meteorologische Informationen
ablesen kann, sieht nur der Fachmann (in diesem Fall Franz Ossing, von
dem ein Katalogbeitrag zur Meteorologie in der Landschaftsmalerei des
17. Jahrhunderts stammt).
David Teniers der Jüngere, Ansicht der Stadt Valenciennes 1656
Topografie der Schlachten
Bei
Pieter Snayers, dem mit vier grossen Bildern am häufigsten präsenten
Künstler, lassen schon die Titel keinen Zweifel an seinen Ambitionen.
«Die Belagerung von Gravelines vom 11. April bis 17. Mai 1652», «Die
Schlacht von Kirchholm», «Der Entsatz von Meissen» und «Der Entsatz von
Löwen» weisen ihn als versierten Maler der Topografie der Schlachten und
Belagerungen aus, der bei diesen Ereignissen nie dabei war, dafür aber
Kriegsberichte und Landkarten kannte und durch erzählerische Ergänzungen
im Bild auch die Auftraggeber ins rechte Licht zu setzen wusste. – In
der Karlsruher Ausstellung sind die wunderbaren, die Präzision, mit der
sie funktionieren sollen, selber ästhetisch verkörpernden Instrumente
eine sinnlich dreidimensionale Ergänzung zu den Bildern, in denen, das
war die Aufgabe der Künstler, der ökonomische und geopolitische
Zeitgeist dokumentiert und nicht interpretiert wurde. Und da gewinnen
die Messinstrumente, mit denen der Himmel abgefragt und die Erde
vermessen wurde, da gewinnen Jakobsstab und Seeastrolabium, Quadrant und
Linsenfernrohr, Reduktionszirkel und Triangularinstrument unter
Glasstürzen oder in Vitrinen die Aura kostbarer Preziosen. Und sind doch
auch die Werkzeuge einer geodätischen Vermessung zum Zwecke politischer
Kontrolle und Annexion.
Mit Hilfe dieses Instrumentariums wurde
von Karl V. der Auftrag erteilt, in den Niederlanden Städte, Dörfer,
Flüsse, Kanäle, Landstriche und Zufahrtswege zu vermessen. Der
Kartografierung folgte parallel zu den kriegerisch politischen
Intentionen eine bereits früher begonnene, aber nun systematisch
betriebene Landgewinnung. Land wurde geflutet oder dem Meer abgewonnen,
je nachdem. Eine über weite Strecken geometrisierte Polder-Landschaft
entstand. Bei Betrachtung eines Bildes, auf dem unter einem schmalen
Himmelsstreifen der dunkle Boden mit hellen Linien quadriert ist wie das
Papier in einem Rechenheft, kommt der Gedanke an Mondrian wie von
selbst.
Pieter Wouwerman, Die Stürmung Coevordens am 30. Dezember 1672 1672–1682
«Schussraum und Sehraum»
Mit dem Umbau der
Landschaft verändert sich auch die den neuen Notwendigkeiten und
kriegerischen Absichten adäquate Architektur. Stadtmauern werden zu
Festungswällen aufgerüstet, polygonale Festungsmodelle auf Papier
entworfen. In seinem Katalogtext «Die Landschaft des Ingenieurs», in dem
Wolfgang Pircher den kriegsbedingten Umbau der niederländischen
Landschaft und der Befestigungen der Städte beschreibt, konstatiert er
das finale «Zusammenspiel von Schussraum und Sehraum». Goethes Türmer,
«zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt», ist mit einem Fernrohr, dann
mit Gewehr und Kanone bewaffnet. Heutzutage kann die bildgesteuerte
Zielerfassung, das zeigt zum Schluss der Ausstellung Harun Farockis
Doppelprojektion «Auge-Maschine» (2003) mit Sequenzen aus dem ersten
Golfkrieg, mithilfe von Drohnen elektronisch umgesetzte, präzise
Vernichtungsarbeit leisten.
Schulwandbild Holländische Polderlandschaft
«Der Blick von oben ist politisch»,
schreibt Andreas Beitin im Katalog, die Durchsetzung entsprechender
Absichten findet im Luftraum statt. Kartografen machten den Umbau der
Landschaft möglich. Künstler hielten diese Veränderungen im Bild fest
und überwölbten sie durch neu akzentuierte Horizontlinien und
Himmelsblicke, zu denen das heliozentrische Weltbild von Nikolaus
Kopernikus den Hintergrund bot. Heute kann sich ein japanischer
Blumenfreund mithilfe von Google Earth über den Stand der Rosen in
Angela Merkels Garten informieren. ...
Mit der
von Ulrike Gehring und Andreas Beitin konzipierten Ausstellung «Mapping
Spaces» hat man im Karlsruher ZKM wieder einmal ein neues Kapitel der
Künste im technischen Zeitalter aufgeschlagen.
Mapping
Spaces – Netzwerke des Wissens in der Landschaftsmalerei des 17.
Jahrhunderts. ZKM-Museum für Neue Kunst, Karlsruhe. Bis 13. Juli 2014.
Der umfangreiche Katalog wird im Hirmer-Verlag, München erscheinen.
Das Elementardatum unserer Gewärtigkeit (Gewahrseins, Zur-Welt-Seins...) ist weder die Vorstellung (im Symbolsystem: "Denken")
noch die Wahrnehmung ("Sinnlichkeit"). Beide werden erst nachträglich in der Reflexion (=durch das "Eintreten" der
sprachlichen Repräsentation!) von einander geschieden. Und schon gar nicht so,
daß "erst" die sinnliche Wahrnehmung "da" wäre und "dann" die Vorstellung "hinzukommt".
Sondern zuerst ist immer Erleben "da". "Erlebnis" wäre schon zu viel gesagt:
zunächst einmal ein "Strom" in einem "Feld", aus dem gelegentlich Einzelnes "herausragt",
weil es Aufmerksamkeit erregt - oder
es erregt Aufmerksamkeit, weil es "irgendwie" herausragt, wie die Figur aus
ihrem Grund. ["auffällig": vgl. A. Gehlen, Anthropologische
Forschung, S. 119] Was aber ist es,
das einzelne Momente auszeichnet in
(zeitlich) dem "Strom" oder (räumlich) dem "Feld"?
Schon das Feld selbst ist konstituiert von einem wie auch immer
geringen Grad von Aufmerksamkeit, und wenn sich ein Moment abzeichnet, dann immer, wenn und weil sich die
Aufmerksamkeit darauf gelenkt hat. Ja, aber warum? Weil sie Qualitäten (Washeiten) "erkennt", die sie von Anderm unterscheiden kann; weil sie nicht so sind, wie
(all) das Andere; also eine Information
unterscheidet von einer (relativen) Nicht-Information, Redundanz. Ein
Hier-jetzt-nicht-Erwartetes von einem Sowie-so-schon-Dagewesenem. [Insofern ist
Neuheit doch eine ästhetische Qualität! cf. Burke] Und später dann wird auf das
So-Ausgezeichnete geachtet, ob, wann und wo man es wieder erkennt. Jetzt wird
es erwartet, und wenn 'es' sich nicht wieder 'ereignet', dann ist das die Information. Also alles 'Neue'
ist informativ, und eo ipso interessant. Also das Erlebnis ist die unmittelbare
Gegebenheitsweise dessen, was ‚einem unbeteiligten Beobachter’ als Ereignis vorkommt - und also auch der
Reflexion, in der 'ich' 'mich' anschaue, ‚als ob’ ich ein Anderer wäre.
..."Wahrgenommen" wird immer nur
eine Figur in einem Grund. - Die Figur ist immer eine Störung des Grundes. D.
h. nur als Störung "ist" sie Figur. Figur und Grund 'verhalten' sich
nicht "dialektisch": Sie "bedingen" einander nicht! Zwar
"gibt es" keine Figur ohne Grund, aber es gibt einen Grund ohne
Figur. Nur "ist" er dann kein Grund. Aber er ist auch nicht Nichts.
Er ist... "Strom", unausgezeichnet, unbeachtet. Er "ist",
aber er bedeutet nichts. Erst wenn er als "das, was" er
"ist" - nämlich nichts Bedeutendes - gestört wird, wird er etwas.
(Das Auge "sieht" eine ungeordnete Fläche, aber es "nimmt"
sie nicht "wahr"; es kann darauf nicht verharren; es
"flackert", sucht nach einem "Anhalts-Punkt"; und wenn es
keinen findet, halluziniert es ihn in die Fläche hinein - und
"widmet" sie ipso facto zu einem Grund "um".)
- Die Erwartung eines Sinns im Meer des
Sinnlosen; die Erwartung einer Figur im wüst-Unbestimmten ist so tief in unsere
mentale Dispostiton eingeprägt, daß gewisse optische Texturen - von Kandinski über
Mondrian bis Pollock - ihre ästhetische Kraft gerade aus dem Verstoß gegen die
Erwartung, aus ihrer Enttäuschung gewinnen.
... Erlebnis
ist immer singulär und eo ipso qualitativ. (Quanta "erscheinen" erst im Vergleich;
also in der Reflexion auf anderes. Aber 'Figur im Grund' ist keine Relation,
sondern ein Komplex (datum uno actu);
erst die Reflexion "erkennt", daß der Grund auch 'allein' da wäre, wenn...;
setzt also beide in Beziehung.)
Alexander Gottlieb Baumgarten und die philosophische Ästhetik
«Eine philosophische und oft dichterische Fackel»
Auf
ihn geht «Ästhetik» als philosophische Disziplin zurück: Alexander
Gottlieb Baumgarten war wirkungsreich, auch wenn er selten zu den
«Grossen» der Geistesgeschichte gezählt wird. – Eine Erinnerung aus
Anlass seines dreihundertsten Geburtstags.
Die
Dunkelheit der Philosophie zu beklagen, ist weit verbreitet und stellt
eine Übung dar, die so alt sein dürfte wie die Philosophie selbst. Auch
Alexander Gottlieb Baumgarten sah sich, wie er schrieb, dem Vorwurf
ausgesetzt, dass «durch den ganzen Kram der Gelehrsamkeit, insonderheit
der Philosophie, die Wahrheit mehr verdunkelt, als erfunden werde».
Dieser Vorwurf richtete sich nicht zuletzt deshalb gegen ihn, weil er
einer neuen philosophischen Disziplin den Namen gab, die eine angenehme
Lektüre zu versprechen scheint: Wenn «Ästhetik» von der Kunst oder vom
Schönen handelt, dann sollte ein Buch dieses Titels doch auch schön zu
lesen sein . . . Baumgarten hat ihr jedoch, so bemängelt selbst Johann
Gottfried Herder, einer der produktivsten und bewundernden Leser
Baumgartens im 18. Jahrhundert, eine Gestalt gegeben, die «überall mit
lateinischer Schulsprache umhüllet» ist und in das «Gegitter des
Paragraphenstils» gepresst wird.
«Felix aestheticus»
Baumgartens
Denken konnte sich jedoch nur in der Philosophie seiner Zeit entfalten.
Am 17. Juni 1714 in Berlin geboren, wird Baumgarten von einer frommen,
pietistischen Erziehung geprägt und studiert nach dem Willen seines früh
verstorbenen Vaters Theologie in Halle. In dieser Hochburg des
Pietismus macht er sich mit der Philosophie Christian Wolffs vertraut,
obwohl Wolff wegen angeblichen Atheismus 1723 seine Professur in Halle
verlor und aus der Stadt vertrieben wurde. Baumgarten übernimmt
nichtsdestoweniger Wolffs strenge Massstäbe der philosophischen
Begründung und führt religiöse Dogmen niemals als philosophische
Argumente an. Er gibt seinen pietistischen Glauben aber keineswegs auf.
Sein Denken fügt sich nicht den herrschenden Polemiken, weshalb er sich
auch nur wundern konnte, «in wie manchen Bedeutungen man mich schon zum
Wolffianer gemacht».
Dieses Bild des «Wolffianers» sollte die
Wahrnehmung von Baumgarten jedoch für lange Zeit bestimmen. Die
«Metaphysica» von 1739 galt als Standardwerk und brachte Baumgarten
endgültig in den Ruf, der bedeutendste Philosoph seiner Generation zu
sein. Seine noch einflussreichere «Aesthetica» verfasst er nach Antritt
einer Professur in Frankfurt an der Oder 1740 und veröffentlicht sie in
zwei Bänden 1750 und 1758. Es ist die schulphilosophische
Begrifflichkeit und Systematik des Werks, die ihm Herder ankreidet: «Und
so stand auch für die Aesthetik die Form bereit, ehe der Einguss da
war: die Lieblingsworte der Wolffischen Schule, ihre Einteilungen und
Zauberformeln, waren schon wie Grundfäden im Weberstuhl gespannet, und
nun wurden die Begriffe des Schönen hindurchgeschlagen: Gessner's
thesaurus gab Blumen dazu her: und hiemit war das Gewebe fertig.» Aber
Herder schätzte zugleich die Fruchtbarkeit von Baumgartens «Ästhetik»:
«immer barbarisch, aber auch immer so schwanger von Gedanken, dass ich
kurz kein ander Wort, keine Umschreibung dagegen mag.»
Die
«Ästhetik» macht die Künste und insbesondere die Literatur, die
Baumgarten seit jungen Jahren fasziniert, erstmals zum Gegenstand einer
eigenen Disziplin der modernen Philosophie. Ihre Sprengkraft besteht
darin, dass sie die Kunst auf die Erkenntnisvermögen des Menschen
bezieht, die wie die Wahrnehmung oder die Phantasie unterhalb von
Verstand und Vernunft angesiedelt wurden und kaum der Aufmerksamkeit
würdig schienen. Baumgarten begreift die Künste als das Feld, in dem
sich diese «niederen» Erkenntniskräfte üben und vervollkommnen können,
und schildert den «glücklichen Ästhetiker (felix aestheticus)» als einen
Menschen, der imstande ist, Wahrnehmung und Phantasie, künstlerische
Gestaltung und vernünftige Einsicht in ein ausgewogenes Verhältnis
zueinander zu bringen.
Der Grund der Seele
Die Ästhetik
ist bei Baumgarten daher nicht nur eine Philosophie der schönen Künste,
sondern zugleich eine Lehre von den sinnlichen Erkenntniskräften und dem
undurchsichtigen «Grund der Seele». Er befördert damit wesentlich die
Psychologie seiner Zeit, die sich zunehmend der Wirklichkeit des
menschlichen Seelenlebens zuwandte. Baumgarten war, so Herder, einer der
«ersten Philosophen neuerer Zeit [. . .], der in diese Gegenden der
Seele eine helle philosophische und oft dichterische Fackel getragen»
habe.
Baumgarten ging es um eine Erweiterung des tradierten
Wolffischen Systems, doch er brachte die Fundamente dieses Systems ins
Schwimmen. Er stellt nämlich die traditionelle Hierarchie der
Erkenntniskräfte zwangsläufig infrage, indem er den sinnlichen Vermögen
eine eigene Form der Erkenntnis zuspricht und für sie eine besondere
«ästhetische Wahrheit» in Anspruch nimmt. Diese Wahrheit fasst, anders
als die Vernunft, nicht alle Dinge unter möglichst allgemeine Begriffe.
Vielmehr zielt sie auf die einzelnen Dinge und deren konkrete wie
vielfältige Bestimmungen ab. Baumgarten weist damit zum einen auf die
Verluste hin, die alle allgemeinen Wahrheiten in Kauf nehmen müssen:
«Denn was ist die Abstraktion, wenn nicht ein Verlust? Ebenso brächtest
du aus einem Marmor von unregelmässiger Form keine Marmorkugel heraus,
wenn nicht durch wenigstens so viel Einbusse an Material, in welchem
Masse sie der höhere Wert der Rundheit verlangen wird.»
Zum
anderen eröffnet die ästhetische Wahrheit eine Alternative zur
traditionellen «logischen Wahrheit»: Sie misst nicht nur unsere
Vorstellungen am Einzelnen und am «Reichtum» seiner konkreten
Bestimmungen, sondern bringt auch die eigenen Ansprüche und die
«Lebendigkeit» der künstlerischen Darstellung in den Blick. Der
glückliche Ästhetiker ist durchaus ein Freund der logischen Wahrheit, er
ist aber nicht ihr Sklave und bewahrt ihr gegenüber seine «poetische
Freiheit». In den Künsten hat eine mit den Sinnen verbundene Gestalt der
Wahrheit ihr eigenes Refugium. –
Baumgartens Denken entfaltete grosse
Wirkung, seine «Aesthetica» ging dennoch bald vergessen. Dieses Werk
blieb nicht nur unvollständig, da Baumgarten bereits 1762, knapp
achtundvierzig Jahre alt, starb. Es war auch einer breiteren Leserschaft
beraubt: Baumgarten hatte am Lateinischen festgehalten, als die
Nationalsprachen mehr und mehr Einzug in die Philosophie hielten, und
verwob seinen eigenen Text mit einer Fülle von Zitaten lateinischer
Klassiker, was einige Jahrzehnte später bereits ausser Mode war. Die
unmittelbare Wirkung Baumgartens verdankte sich daher in erster Linie
seinem Schüler Georg Friedrich Meier, der noch vor dem Erscheinen der
«Aesthetica» Baumgartens Gedanken in den «Anfangsgründen aller schönen
Wissenschaften» (1748–1750) popularisierte. In Vergessenheit geriet
Baumgartens Werk schliesslich durch Immanuel Kant, der die Philosophie
in der Tradition Wolffs grundlegend kritisierte und ihrer Dominanz damit
ein Ende bereitete.
Abschwung und Wiederaufschwung
Als
die Ästhetik als philosophische Disziplin um 1800 eine erste Konjunktur
erlebte, stand sie bereits unter anderen Prämissen – daher wirkte die
«Aesthetica» ihres Namensgebers überholt. A. W. Schlegel, F. W. J.
Schelling und G. W. F. Hegel lösten die Kunst aus dem anthropologischen
und vermögenspsychologischen Zusammenhang heraus, in dem sie Baumgarten
und noch Kant gesehen hatten. Stattdessen betrachteten die Ästhetiker um
1800 die Kunst wie die Religion oder die Philosophie als eine
kulturelle und historische Form des Welt- und Selbstverständnisses des
Menschen.
Die Ästhetik widmete sich von da an ausschliesslich den
Künsten und ihrer Geschichte, sie war zur Philosophie der Kunst
geworden. Diese Auffassung der Ästhetik wird jedoch seit den 1980er
Jahren zunehmend als zu eng befunden. Die Kunst und die Kunstwerke
werden erneut auf ihren Zusammenhang mit den Bedingungen des Menschseins
befragt. Nicht nur fordert die Kunst dazu heraus, die sinnlichen
Vermögen zu vervollkommnen und damit die Potenziale unserer
reflektierten Wahrnehmung anzuerkennen. Mit Verweis auf Baumgartens
dunklen «Grund der Seele» wird die Kunst zugleich als ein Ort gesehen,
an dem sich eine Kraft des Sinnlichen entfaltet, die sich unserer
Beherrschung entzieht, uns als Menschen aber doch auch ausmacht. Das
Kunstwerk lässt uns, wo es uns erfasst und wir es nicht auf eine
«Message» reduzieren, eine Bedingung des Menschlichen anerkennen, die
wir allzu leicht ausblenden, wenn wir – wie meist im Alltag – eigene
oder uns gesetzte Ziele zu erreichen versuchen.
Baumgartens
Ästhetik stösst so wieder auf grosses Interesse und erfährt geradezu
eine Renaissance. Über zweihundertfünfzig Jahre nach dem lateinischen
Original erschien 2007 (bei Felix Meiner) eine erste vollständige
Übersetzung der «Aesthetica» ins Deutsche. Sie findet neue Leser und
wird neue Fragen hervorbringen. Eine solche verspätete und «umwegige»
Wirkung ist in der Philosophie nicht selten. Für Baumgartens «Ästhetik»
ist sie aber geradezu charakteristisch. Sie verflüssigte ein
philosophisches System, das schon bald überholt schien, und verblieb
selbst meist ungelesen in den Regalen, als die durch sie begründete
philosophische Disziplin ihre erste Hochzeit hatte. Als diese Ästhetik
selbst an ihre Grenzen stiess und sich mit neuen Fragen verband, stand
Baumgartens «Aesthetica» nach wie vor in den Bibliotheken. Sie musste
nur etwas entstaubt werden, um ihre Aktualität erneut unter Beweis zu
stellen.
Prof. Dr. Arno Schubbach lehrt
Philosophie an der Universität Basel. Im Winter 2014/15 erscheint seine
Monografie zur Entstehung von Ernst Cassirers Kulturphilosophie im
Meiner-Verlag.
Nota.
Baumgarten hat sein neugeschaffenes 'Fach' gleich selber mit den Fußangeln versehen, die es dann lange Zeit gefangen hielten.
Die Beschränkung des Ästhetischen auf die Kunstwerkehat zwar schon bei Kant die Einsicht befördert, dass historisch die Wahrnehmung des Naturschönen ein Abkömmling des Kunstschönen war; hat das Phänomen, dass die Kunst (seit der Renaissance) nur dann als schön erkannt wurde, wenn sie... die Natur nachahmte, aber leider gedanklich unfruchtbar bleiben lassen. Noch lange sollte "das Schöne" an sich Gegenstand ästhetischer Betrachtung bleiben, statt als eine kultur- und mentalitätsgeschichtlich spezifische Gestalt dessen verstanden zu werden, was dem (pp.) ästhetischen Empfinden je als das Erhebliche ins Auge springt. - Die Verengung 'des Ästhetischen' auf das Schöne ist eine Aporie, weil sie die Bestimmung des Schönen außerhalb der ästhetischen Anschauung im Begriff vermuten und suchen lässt; wo sie freilich nicht zu finden ist. Vielmehr ist das Verständnis des ästhetischen Phänomens zirkulär, weil 'das Ästhetische' nur als Gegensatz zum haushälterisch-Nützlichen, d. h. uno acto mit ihm zusammen 'gefasst', d. h. angeschaut werden kann.
Die zweite große Fußangel ist sie Auffasung der ästhetischen Wahrnehmung als das "niedere Erkenntnisver- mögen". Damit wird einerseits Erkenntnis als eigentliche Bestimmung des Menschen unterschoben und andererseits das Ästhetische dem "dunklen Grund der Seele" zugewiesen. Beides hat sich seither in der ästhetischen Literatur als stetes Schwanken zwischen geistreichem Wortgeklingel hier und mystifizierendem Schwulst dort niedergeschlagen.