Ein schönes Zeugnis bürgerlichen Kunstsinns
100 Jahre Grafische Sammlung im Kunsthaus Zürich.
von Hans Dieter Fronz
Anders als die Sammlungsbestände vieler europäischer Museen sind die des Kunsthauses Zürich weder einer fürstlichen Wunderkammer entsprungen noch das Produkt königlicher Sammelleidenschaft. Sie gründen in bürgerlichem Kunstsinn, in einer geselligen Vereinigung, deren Mitglieder sich im "Künstlergütli" trafen und dem gemeinschaftlichen Fundus an Kunstwerken stetig neue zuführten. Die Zürcher Kunstgesellschaft, Trägerverein des Kunsthauses, besteht seit 1787. Ein Inventar der Grafischen Sammlung wurde 1915 erstellt. So lässt sich heute rechtmäßig deren hundertjähriges Bestehen feiern – mit einem Querschnitt der reichen Bestände, 120 "Meisterzeichnungen", wie der Titel der Schau verspricht.
Dürer, Apollo
Der Gang durch fünf Jahrhunderte Zeichenkunst in drei Etappen beginnt, mit Blättern von der Renaissance bis zum Spätbarock, im Erdgeschoss; Dürers wehrhafter "Apollo" mit Pfeil und Bogen fungiert als Türsteher. Hat sich die Zeichnung erst spät zur autonomen Kunstgattung entwickelt, befreite sie sich von ihrer dienenden Funktion sporadisch schon zu Beginn der Neuzeit. In der Federzeichnung des Nürnberger Meisters ist sie wissenschaftliches Experimentierfeld bei der künstlerischen Suche nach den idealen Proportionen des menschlichen Leibs. Autonomen Charakter besitzt, wenngleich als Studie für ein Fresko entstanden, auch Taddeo Zuccaros fein komponierte Tusche- und Kreidezeichnung "Zwei schlafende Jünger im Garten Gethsemane" – und Tobias Stimmers mit martialischem Seitenblick auf den Betrachter vor bewegtem Schlachtgeschehen paradierender "Bannerträger von Bern".
Raffael, Vertreibung Heliodors, Studie
Raffaels Figurenstudie zu dem Fresko "Die Vertreibung Heliodors" treten exquisite Skizzenblätter seines Bewunderers Bertoia sowie Cavaliere d’Arpinos zur Seite. In Castigliones Tusche "Noah leitet die Tiere in die Arche" verschwimmen die Grenzen zur Malerei. So wenig wie Jan Hackaerts Ideallandschaften in Tusche sind zwei aquarellierte Zeichnungen des Zürcher Landschafters Conrad Meyer an einen Zweck gebunden; die Szenen aus dem Dreißigjährigen Krieg seines älteren Bruders Rudolf Meyer dagegen bereiten einen Radierzyklus vor. Erscheinen Hendrik Kobells "Drei Boote" mit ihren bauchig schönen Volumen und dem reizvoll dazu kontrastierenden Filigran der Takelage auf den ersten Blick als purer Augenschmaus, so klingt in der Federzeichnung des Niederländers auf den zweiten dezent die barocke Metaphorik des Lebens als Schiffsreise an.
Salomon Gessner, Das Bad in der Felsengrotte.
Eine malerisch zerklüftete "Ossianische Landschaft" von Joseph Anton Koch empfängt den Besucher im ersten Obergeschoss. Die Naturszenerien von Caspar Wolf und Salomon Gessner, dem berühmten Idyllendichter, Johann Georg Dillis und Robert Zünd oszillieren zwischen dem Erhabenen als Kategorie der Ästhetik des 18. Jahrhunderts und einer Tendenz zu realistischer Abbildlichkeit. "Der Künstler verzweifelnd vor der Größe der Antike": Johann Heinrich Füsslis berühmter Rötelzeichnung treten eine Figurenstudie Géricaults zum Gemälde "Das Floß der Medusa", ein sphärisch entrückter Turnerscher "Festtag in Zürich" oder ein mit Courbetschem Selbstbewusstsein aus dem Blatt blickendes Selbstbildnis Cuno Amiets zur Seite. Nicht zu vergessen Rudolf Kollers "Ruhender Löwe": In der griesgrämigen Mimik erscheint der König der Tiere als Spiegelbild des Menschen, dieser Krone der Schöpfung, und Sinnbild der Condition humaine.
Cézanne, Provenzalische Landschaft
Den größten Raum nehmen, wiederum im Erdgeschoss, Zeichnungen der Moderne und der Gegenwart ein. Schier alle Großen sind hier – und mit welch meisterhaften Blättern! – versammelt: Degas, Cézanne oder van Gogh; Nolde, Kirchner und Heckel; Hodler, natürlich, Giacometti ohnehin. Und so weiter: von Wols über Dubuffet bis zu Cy Twombly; auch Enzo Cucchi mit seinem trotz Titel bewegenden wandfüllenden "Disegno tonno" oder Jorinde Voigt mit ihrer wunderbaren Wahrnehmungspartitur "3 Horizonte; 237 Melodien".
Kunsthaus Zürich, Heimplatz 1. Bis 19. April, Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr, Mittwoch, Donnerstag bis 20 Uhr.
Emil Nolde, Das Schiff, 1910
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