aus nzz.ch, 7.2.2015, 05:30 Uhr Felix Vallotton, Der Hafen von Pully, 1891
«La symphonie des contraires» in Lens
Himmlische Gesänge – nasse Füsse
Die Fondation Pierre Arnaud in Lens zeigt eine Ausstellung, die sich mit den verschiedenen Realismen in der Malerei vor allem der letzten gut hundert Jahre auseinandersetzt.
von Samuel Herzog
Wer mit einem Magen, der noch den Ereignissen des letzten Abends nachhängt, per Bus von Sitten nach Lens hinauffährt, wünscht sich spätestens nach der achtundsechzigsten Kurve, Pierre Arnaud hätte sein Museum doch irgendwo im Mittelland aufgestellt. Und wer dann, als Folge der gastrischen Indisponiertheit, am falschen Ende des Dorfes aus dem Bus stolpert, verflucht bald die feinen Stadtschuhe an seinen Füssen, die sich wie schwarze Fische durch den gläsernen Schneematsch schieben. Ein übertrieben lebendiger Magen und dafür starr gefrorene Zehen – das sind Tatsachen. Man ist so indes nicht schlecht disponiert für eine Ausstellung, die sich dem Thema «Réalisme – La symphonie des contraires» widmet – verbindet man mit dem Begriff Realismus doch generell eher die etwas weniger spassigen Aspekte des Lebens.
Im Atelier
Aber natürlich gibt es in der Malerei nicht nur einen Realismus, sondern ganz verschiedene Ausformungen, die mitunter sehr gegensätzliche Bilder derselben Welt liefern können. Das will uns die Ausstellung in Lens zeigen. Eine gewagte These ist das nicht gerade – aber es ist der Fondation wieder gelungen, einige hochkarätige Bilder zusammenzutrommeln. Und Kurator Christophe Flubacher hat sie zu einem Parcours arrangiert, der keine allzu heftigen Verkrümmungen des Geistes fordert und dabei doch durchaus anregende Beziehungen zwischen den einzelnen Werken und den thematischen Klammern stiftet.
Albert Anker, Cidre und Kastanien, 1897
Der Gang beginnt «Dans l'atelier des peintres réalistes», wo wir auf Studiobilder von Ernest Meissonnier, George Grosz und Aurèle Barraud stossen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Ebenso kontrastreich geht es unter dem Titel «Un sujet à part entière» weiter, das verschiedene Landschaftsmalereien vorführt. Da gibt es zum Beispiel einen in lieblichen Pastelltönen gemalten «Port de Pully» von Félix Vallotton, gleich daneben eine lichtdurchflutete «Forêt à Buchen» von Robert Zünd, und nochmals zwei Meter weiter verliert sich das Auge in den fotorealistisch in Übergrösse auf eine monumentale Leinwand gebannten «Herbst I.» von Franz Gertsch. Auch da sind die Differenzen offenbar – und wir kommen uns, zugegeben, schon ein wenig vor wie in der Schule. Aber warum auch nicht – es wird am Ende ja wohl doch keine Prüfung geben.
Pieter Claesz
Im gleichen Stile geht es weiter. «Un courant sans école» bezieht sich auf ein Zitat von Gustave Courbet, in dem er sich gegen die ihm zugedachte Rolle als Gründer einer Schule des Realismus wehrt. Hier prallen unterschiedlichste Stillleben aufeinander. Zum Beispiel ein barockes Prachtstück von Pieter Claesz und eine stark abstrahierte «Nature morte à la lanterne» von Le Corbusier. Da triefende Pastete, golden funkelnde Zitrone (natürlich mit hängender Schale), gleissendes Metall, schimmernder Wein – Pinselstrich um Pinselstrich der Beweis, dass man alles malen kann. Dort Verschachtelung von Flächen, Verzicht auf jede Imitation von Materialität – der Beweis, dass man gar nichts mehr malen muss.
Le Corbusier, Nature morte à la lanterne, 1922
«Une langueur monotone» lässt uns einige der eindrücklichen Bilder der aus La Chaux-de-Fonds stammenden Malerfamilie Barraud entdecken – zum Beispiel das Selbstporträt von «Aimé et Simone», durchaus in der Tradition der Neuen Sachlichkeit jener Jahre, aber mit einem Zug ins Depressive, der einen Schaudern lässt.
Jean-Francois Barraud, Portrait, 1932
«La vie en mieux» versammelt Werke, welche die Wirklichkeit beschönigen. Zu den Höhepunkten zählt hier sicher «La Cantilène. Sottomarina» von Edmond de Pury: Das Grossformat zeigt sechs singende Mädchen, die eine mit Raps, Senf oder Kamille gefüllte Barke über einen Fluss rudern – und dabei so zerstreut und so verträumt wirken, dass man unvermittelt selbst kurz die Augen zudrücken muss. Himmlisch! Als zentralperspektivische Komposition überraschend ist «Barquiers déchargeant des Pierres» von William Röthlisberger, denn da rollt ein Mann mit einer Schubkarre voller Steine sozusagen aus dem Bild heraus auf uns zu.
Edmond de Pury, La Cantilène. Sottomarina 1894
Das Leben in seiner ganzen Krudheit gibt es unter dem Titel «Une chronique de la vie ordinaire» zu sehen. Den Titel eines Königs der Rohkost verdient hier sicher Gustave Jeanneret mit seinem Bild «Sans espoir» von 1891: Wir sehen einen älteren Mann in ärmlicher Kleidung, mit Säcken an den Füssen und einem Wanderbeutel. Er hat den Kopf auf die Schienen einer Eisenbahnlinie gelegt. Seine Hände sind vor Angst in seinen Bauch und in den Schotter verkrampft, als müsse er sich festhalten. Die Augen sind weit aufgerissen. Und am oberen Bildrand sehen wir auch schon die Stossdämpfer der Lokomotive, die nur noch wenige Meter entfernt scheint. Gut möglich, dass der weisse Dampf neben den Rädern von den angezogenen Bremsen stammt – einen glimpflichen Ausgang aber wird die Geschichte ganz bestimmt nicht nehmen.
Gustave Jeanneret Sans espoir
Ein eigenes Kapitel ist dem Wallis gewidmet und fragt nach dem Verhältnis zwischen Idylle und Wirklichkeit. Da gibt es auf der einen Seite zum Beispiel die Maler der sogenannten Ecole de Savièse, deren Begeisterung für den damals noch sehr ländlichen Kanton sich in Bildern niederschlägt, die zu einer gewissen Überhöhung des Alltags neigen. Auf dem Gemälde «Après la messe», das Ernest Biéler um 1939 malte, sehen wir drei junge Frauen in traditionellen Kostümen, die sich mit so grosser Anmut durchs Bild bewegen, dass sich der Kurator veranlasst sieht, sie mit den drei Grazien der griechischen Antike zu vergleichen. Solchen Malereien werden in einer Videoprojektion Fotografien aus derselben Zeit gegenübergestellt, die ein ganz anderes Bild des Wallis jener Zeit zeichnen sollen – das einer Realität nämlich, die von Armut ebenso geprägt ist wie von ersten Kontakten mit der Industrialisierung. Die Unterschiede zwischen dem Klick der Fotografen und dem Blick der Maler scheinen indes gar nicht so gross.
Ernest Biéler Après la messe 1939
Am Lagerfeuer
Als ein weiteres Beispiel für die Beschönigung der Realität durch die Maler von Savièse werden die «Ingénieurs dans la montagne» von Raphaël Ritz gezeigt. Sie sitzen vor einer halb eingestürzten Steinhütte und wärmen sich die Hände an einem kleinen Feuer – derweilen im Hintergrund einer den Theodoliten bedient. Nebelschwaden ziehen vorüber und tauchen die ganze Szenerie in ein dramatisches, wildromantisches Licht. Gewiss könnte man Ritz unterstellen, er zeichne hier ein sehr theatralisches oder etwas zu poetisches Bild eines im Grunde doch eher prosaischen Vorgangs. Das mag sein. Wer jedoch gerne in die Berge wandern geht, weiss, dass solch unglaubliche Lichtstimmungen keine Seltenheit sind – ja sie sind für manche gar ein wesentlicher Grund, warum sie sich überhaupt die schweren Schuhe mit den dicken Sohlen anbinden. Da auch wir dazugehören, hat es fast schon einen synästhetischen Charme, wenn wir vor den «Ingénieurs» spüren, dass unsere Schuhe immer noch nass, unsere Füsse immer noch klamm sind.
Réalisme. La symphonie des contraires. Fondation Pierre Arnaud, Lens. Bis 19. April 2015. Katalog.
Raphaël Ritz, Ingenieure in den Alpen 1881
Nota. - Haben Sie gemerkt, weshalb Samuel Herzog über seine Verdauung und seine nassen Füße schreibt? Damit er nichts zu der Frage sagen muss, die ich im Titel gestellt habe: Was heißt denn Realismus in der Malerei? Ich will's Ihnen sagen - es heißt gar nichts. Man kann wohl meinen, wenn man die beiden obigen Bilder von Ritz und von Jeanneret vergleicht, die Machart sei, handwerklich betrachtet, realistisch, indem beide Bilder die 'Sachen' so darstellen wollen, 'wie sie wirklich aussehen'. Naturalistisch, würde es im engeren Sinn heißen. Aber kann man von ihnen gleichermaßen sagen, sie seien realistische Kunst? Das wäre ein emphatisch aufgeladenes Verständnis von Realität, das doch aber von den anderen als den bloß-gegenständlichen Gegebenheiten nicht absehen darf. Und so zeigt das eine Bild, gegen die Realität polemisierend, das Elend und die Verzweiflung, das andere, die Realität idyllisierend, das Einssein mit 'der Natur'. Kitschig sind sie alle beide, aber das ist es nicht gerade, was ihnen gemeinsam das Beiwort realistisch verdiente.
Oder vergleichen Sie die Prunkstilleben von Pieter Claesz mit dem kargen Cidre mit Kastanien von Albert Anker: Die fallen nun noch ins selbe Genre, aber das ist eben nicht "realistisch", sondern die Gegenstände werden an den Haaren herbeigezogen, um zu einem malerisches Ensemble gefügt zu werden; aber sie tun dabei so, als lägen sie nur ganz zufällig beieinander...
Mit andern Worten, man mag das eine oder andere Bild realistisch nennen, wenn man gleich hinzufügt, was man in diesem Fall darunter versteht. So kann man sagen, dass im Verhältnis zum allgeinen Diktat der Abstraktion in den 50er und 60er Jahren Francis Bacon 'realistisch' gemalt hat, wenn auch nur mit einer großen Portionen Mostrich. Aber einen Maler einen Realisten zu nennen ist frei von jedem intelligiblen Sinn, und von einer realistischen Kunst zu reden kann vielleicht in eine Verkuafsstragie passen, aber künstlerisch oder gar ästhetisch ist es reiner Unfug.
JE
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