Donnerstag, 5. Februar 2015

Wie der ästhetische Mensch entsteht.

aus Zwischenbericht in Über das Ästhetische
Turner, Dudley

Bestimmen heißt mehr als nur (im logischen Sinn) vereindeutigen; nämlich: eine Sache anhand ihrer Merkmale erfassen und operationalisierbar machen = ihre Merkmale einem möglichen Handlungszweck zuordnen. Der Handlungszweck mag seinerseits einstweilen ein rein logischer sein. Man kann Theorie durchaus auch um ihrer selbst willen betreiben. Das ändert aber nichts daran, daß die fortschreitende logische Durchdringung der Welt seit der Herausbildung der Arbeitsgesellschaft ihren mächtigen Antrieb im praktischen Interesse gefunden hat. Die Logik sei 'selber eine praktische Wissenschaft', steht bei F. Schlegel. (Hat er freilich anders gemeint; nämlich: sie lehrt, wie es sein soll.)

Wobei also 'Bestimmung' mit der Zerlegung (Analyse) des Gegenstands in Merkmale beginnt. Der Zusammenhang der Dinge ergibt sich aus der jeweiligen Übereinstimmung dieses oder jenes operationalisierbaren 'Merkmals'; folgt die logische Verknüpfung (Synthesis). Dieses Verfahren ist das diskursive Denken; es beruht darauf, daß die jeweiligen Merkmale sich durch eindeutige Symbole bezeichnen lassen: digitalisieren.


gotisch

Das ästhetische Phänomen ist aber eines, das sich (als solches) nicht analytisch in Merkmale zerlegen, digitalisieren und operationalisieren läßt. "Es läßt sich" nicht? Selbstverständlich kann ich, wenn ich klug genug bin, jedes Phänomen nach Merkmalen beschreiben! Selbstverständlich kann ich nicht nur ein Kunstwerk, sondern auch jedes Naturbild analysieren. Ergo: 'Das Ästhetische' entsteht dadurch, daß ich mich entscheide, es als nicht-analysierbar anzuschauen: Bestimmung als ein Un-Bestimmtes! Es entsteht (historisch) als eine Entgegen-Setzung zur operationalisierten Welt der industriellen Zivilisation; als der Entschluß, die Dinge nicht als funktional, sondern als autonom aufzufassen; so, wie sie an sich sind. Aber nicht, wie die Bilder von C. D. Friedrich vermuten lassen können, aus einem genuinen metaphysischen Bedürfnis des Menschen heraus; nicht, weil er im Ästhetischen das Objektive anzuschauen meint; sondern aus dem subjektiven Motiv heraus, daß er sich selbst schäbig vorkommt, wenn er all die Dinge der Welt lediglich unterm Gesichtspunkt ihrer Brauchbarkeit, d. h. seines Vorteils anschaut. Also weil er von sich selber erwartet, mehr als ein bloßer Ökonom zu sein.

Chardin 

Er kommt sich besser vor, wenn er die Welt anders anschaut denn als ein bloßes Reservoir seiner Bedürfnisse. Was er sich offenbar erst dann leisten kann, wenn seine Bedürfnisse ihn nicht mehr rund um die Uhr in Anspruch nehmen und er sich den Luxus der 'reinen Anschauung' leisten kann. Eine aristokratische Haltung zur Welt, die kein Privileg der Wenigen mehr (wie seit den alten Griechen), sondern (in der mediatischen Überflußgesellschaft) eine Möglichkeit für die Vielen geworden ist. Aber darum fällt sie den Individuen nicht mehr "von Hause aus" zu, sondern sie will gewählt werden. Und das ist die Sache der Pädagogen.

Der ästhetische Mensch entsteht dadurch, daß er an sich höhere Anforderungen stellt. Dabei kann er selbstverständlich den homo oeconomicus nicht ersetzen - etwa als der "wahre" anstelle des falschen; sondern ihn lediglich ironisch paraphrasieren: neben der (bewährten) Wirklichkeit der Bestimmtheiten die (gewagte) Möglichkeit des Ganz-Andern. Umso mehr ist das die Sache der Pädagogen. Nämlich sofern sie damit anfangen, an sich höhere Ansprüche zu stellen!


Annibale Caracci, Palazzo Farnese

Nota. - Aus einem Brief an ein Mitglied des Kuratoriums Landschulheim Fürstlich Drehna e. V..




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