aus nzz.ch, 21.2.2015, 05:30 Uhr Rudolf Koller, Badender Knabe, 1858
Griechenland am Zürichhorn
von Gabriel Katzenstein
Auktionsvorbesichtigungen haben etwas Faszinierendes: König Zufall wirkt hier als freier Kurator. Zuweilen stösst der Besucher auf Unerwartetes, ja Verblüffendes: Verborgene Seiten im Œuvre eines Künstlers kommen wieder zum Vorschein.
Am 2. Dezember 2014 gelangte bei Sotheby's in Zürich unter Los-Nr. 16 ein «Jünglingsakt im Freien» von Rudolf Koller (1828–1905) zur Auktion. Die Angaben im Katalog waren spärlich: der Name des Künstlers, dessen Lebensdaten, der heutige, deskriptive Bildtitel, Technik und Masse, schliesslich die Schätzung. Im Werkkommentar wird lediglich vermerkt, dass das Gemälde im Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK) unter der Nr. 13 913 inventarisiert ist, eine Angabe, die einem Echtheitszertifikat gleichkommt. Mit 10 000 Franken lag der Zuschlagpreis zu tief, als dass das Werk als Rekord auf dem Radar der Medien erschienen wäre. Bei einem offenen Kunstwerk nach einem Sinngehalt zu fragen, gilt als verpönt. Die Kunstliebhaber sind zahlreich, welche bei ihren Bildansichten «Kunst ohne Geschichte» betreiben und die Meinung vertreten, ein Kunstwerk sei selbstredend und das Geschwätz von Kunsthistorikern völlig überflüssig. Trotzdem wandten wir uns ratsuchend anlässlich der Vorbesichtigung an den Swiss-Art-Experten Urs Lanter mit der Frage, was es mit diesem Rückenakt auf sich habe. Es sei ein «schönes Gemälde», und der Experte hob die «malerische Virtuosität und kompositorische Raffinesse» hervor. Auch die «Diagonale» blieb ihm nicht verborgen. Diese Äusserungen zählen zum Bausteinvokabular des Kunsthandels. Es ist ökonomisch und diplomatisch, da es sich ohne kostspielige Quellenrecherchen auf eine Vielzahl von Werken anwenden lässt und einen potenziellen Käufer nicht vom Kauf abschreckt.
Wie soll sich der Bildbetrachter den weiteren Verlauf dieser Begegnung ausmalen? In der Titelgebung auf der Karteikarte des SIK wird das Huftier als Kuh identifiziert, was aufgrund des Hornansatzes fraglich erscheint. Die Datierung von 1858 tritt in Konflikt mit der Datierung des Skizzenbuchs P81 «um 1862».
Secret Cabinet
Wie kommt es, dass ein Künstler wie Koller, der mit der «Gotthardpost» ein Hauptwerk der Schweizer Kunst schuf und mit dem Prädikat «Tiermaler» vor allem mit der Darstellung von Kühen, Pferden und Schafen assoziiert wird, plötzlich auf einen nackten Jüngling umschwenkt? Handelt es sich um ein Auftragswerk? Einen selbstbewussten Auftraggeber wie Federico Gonzaga, der in einem Brief an den Künstler Sebastiano del Piombo unverblümt forderte: «Ich will keinen Heiligenkram, sondern Bilder, die reizvoll und schön anzuschauen sind.» Handelt es sich um eines jener Werke, die verstohlen im Secret Cabinet verwahrt werden, die Feigenblatt-Titel wie «La Source» oder «L'Origine du monde» aufweisen und wo der Betrachter zuerst einen Vorhang zur Seite zieht? Im Sotheby's-Katalog fehlt ein Hinweis auf die Provenienz, nicht einmal ein «Property of a Gentleman» ist vermerkt. Obwohl das Gemälde als vollendet gelten darf, wurde es vom Künstler weder signiert noch datiert.
Vor dem inneren Auge läuft nun ein Vorgang ab, den man als Berufskrankheit des Kunsthistorikers bezeichnen könnte: der Versuch, den Rückenakt einzuordnen. Sicher ist da einmal die Typologie von Badenden und Akten, wo der Betrachter in die Rolle des Voyeurs schlüpft: in unserem Fall die badenden oder sich an der Sonne räkelnden Jünglinge von Ludwig von Hofmann, Henry Scott Tuke oder Wilhelm von Gloeden. Das innere Auge bleibt vor dem «Kletterer»
von Marcantonio Raimondi stehen, der Kupferstich zeigt einen Ausschnitt aus Michelangelos «Schlacht von Cascina». Dann die Motivkette nackter arkadischer Schäfer: die Skulpturen von John Gibson oder Adolf von Hildebrand. Bertel Thorvaldsen, der in der Schweiz vor allem durch das Löwendenkmal in Luzern bekannt ist, schuf auch nackte Hirten. Dann kommen uns die zahlreichen Ganymed-Werke in die Gedanken, wie Zeus den nackten Hirten in den Olymp entführt. Handelt es sich bei unserem Jüngling auch um einen Hirten, kurz vor der platonischen Entführung durch den Bildbetrachter? Es ist klar, dass ein Hinweis, der einen früheren Besitzer diskreditieren und einen Käufer irritieren könnte, in einem Auktionskatalog fehlt. Hinweise auf Homoerotik oder gar Päderastie scheut ein Auktionshaus. Auch die Kunstgeschichte tut sich zuweilen schwer: Es ist für sie einfacher, ein Sehnsuchtsbild oder gar zur sexuellen Erregung stimulierendes Werk, wo der Betrachter zum Pygmalion wird, hinter einem «Wollvorhang scheinbarer Tiefgründigkeit» (Erwin Panofsky) zu verbergen. Ausserhalb der Queer Studies nimmt sie sich oft nebulös und gestelzt des Casus an, referiert über Sublimierung und symbolhafte Ausdrucksformen und überlässt es dem Leser: «Guess who's coming to dinner.» Konzis wirkt die Überlegung Panofskys, wonach die Ganymed-Zeichnung, welche Michelangelo seinem
jungen Freund Tommaso Cavalieri schenkte, den «furor amatorius» versinnbildliche. Das helle Inkarnat und die blonden Haare des Protagonisten sowie die Utensilien verunmöglichen es, den Rückenakt unter ethnografischer 1001-Nacht-Orientalismus-Erotika zu verorten. Das Geschehen findet vor unserer Haustüre statt.
Finden sich allenfalls weitere Hinweise im Werk Kollers, die uns weiterhelfen würden? Unter dem Titel «Pferdeschwemme» besitzt das Musée cantonal des Beaux-Arts in Lausanne ein Gemälde von einem Jüngling, der nackt auf einem Pferd reitet und ein weiteres zur Tränke führt. Eine Vorstudie dazu findet sich im Kunsthaus Zürich. Auf dem Plakat sowie dem Katalog-Cover zur Koller-Jubiläumsausstellung von 1898 ist ein solcher Reiter prominent zu sehen. Typologisch führen diese Motive zum Parthenonfries. Die Elgin Marbles wurden von einer breiten Künstlerschar rege rezipiert. Das Relief einer Reitergruppe zierte in jenen Jahren gar das Frontispiz der «Gazette des Beaux-Arts». Kollers Atelier beim Zürichhorn wurde 1938 abgebrochen, indes meldete sich ein Jahr später zur Landesausstellung ein nackter «Knabe mit Pferd» von Otto Charles Bänninger zurück. Geben uns diese Naturburschen im Schweiz-Arkadien einen Hinweis auf das vorliegende Gemälde?
Der harmlose Teil der Genregeschichte: einer der Knaben wirft einen Gegenstand, dem der Hund nachspringt, und eine Kuh macht muh. Der sensitive Teil wird auf natürliche Weise verhüllt. Kollers Vorzeichnung.
Erhellung bringen Quellenrecherchen im SIK, wo eine Foto des Pendants verwahrt wird: Es handelt sich hierbei nicht um Chloë, sondern um einen weiteren nackten Daphnis. Weiter findet sich eine Foto einer Bleistiftzeichnung, welche beide Jünglinge vereint in einer Genredarstellung mit zwei Kühen und einem Hund zeigt. Detail: Wird beim vorliegenden Akt die Gesässspalte durch einen Binnenschatten der Gesässbacke dezent verhüllt, wird diese sensitive Stelle bei der Studie zudem durch Feigenblätter verdeckt. Warum Koller die Burschen in eigenständigen Akten in Öl ausführte, bleibt vorderhand offen. Weitere Dokumente im SIK-Bildarchiv belegen, dass es sich nicht um einen singulären Einfall handelt: Die Pose von Giorgiones «schlafender Venus» einverleibt, lagert auf einem weiteren Gemälde [s. o.] ein Amor im Schilf. Vom Bildmittelgrund heraus fixiert uns ein mächtiger Muni. Ob der Bulle den Boy entführen wird? Im Skizzenbuch P87, welches im Kunsthaus Zürich verwahrt wird, stossen wir auf den «Raub der Europa». Wir brauchen allein zu kombinieren und lernen Koller als einfallsreichen Vorreiter von Camp kennen. Recherchen in der Zentralbibliothek Zürich fördern zutage, dass der Rückenakt 1929 aus der Sammlung von Richard Kisling versteigert wurde. Aus dem Verkaufsinventar des Liquidators Hans Spörry geht hervor, dass Kisling seinerseits das Werk 1905 aus dem Nachlass Kollers erwarb, weiter, dass das Werk an der Jubiläumsausstellung ausgestellt war, wo der Akt als «Badender Knabe» unter Kat.-Nr. 98 verzeichnet und auf 1858 datiert ist. Als Genredarstellung zählt die Scène pastorale zu den Idyllen, wie man sie in der Schweiz von Salomon Gessner kennt. Doch wie steht es um den isolierten Rückenakt?
Rudolf Koller, Junger Mann mit Schimmel an der Meeresküste
Im NZZ-Archiv kommt ein weiter Puzzlestein zum Vorschein: In einem Augenzeugenbericht evoziert Albert Fleiner eine durch die Urbanisierung im Verschwinden begriffene Idylle am Zürichhorn: «An einzelnen Stellen nur konnte man das Vieh zur Schwemme treiben und pflegten die Buben in paradiesischer Unschuld, von keiner gestrengen Polizei gestört, im See zu baden.» Anschliessend besucht er den Meister in dessen Atelier: «Jeder Winkel und jede Ecke zeigt irgend etwas Sehenswertes, irgend eine künstlerische Erinnerung oder Nachbildungen antiker Skulpturen; unter dem Fenster ziehen sich die Reliefs vom Parthenon hin.» Unter diesen Prämissen bekommt eine weitere archäologische Tiefenbohrung Bedeutung: Die Festrede von Julius Stiefel anlässlich der Feier zu Kollers 70. Geburtstag, worin er ihn als den meisterhaften Darsteller «aller intimsten lauschigen Reize des Zürichhorns» würdigt. Die Paysage intime dürfte er damit nicht gemeint haben. Wollen wir uns heute mit diesen Stellen abspeisen lassen und eine naturalistische Darstellung postulieren? Genährt durch die Antike hat es sich so am Zürichhorn zugespielt? Soll die heutige Kunstgeschichte den Theokrit aufschlagen und Daphnis und Damoitas beim Flötenspiel lauschen?
Rudolf Koller, Jünglingsakt, um 1858. Die Genregeschichte der badenden Jungs ist verschwunden, womit sich auch der Inhalt ändert. Doch welchen Inhalt?
Kunst mit/ohne Geschichte?
Das Vorhandensein sowie das Fehlen von Feigenblättern und die «gestrengen Blicke der Polizei» weisen darauf hin: Die Vertreibung aus dem Paradies hat auch am Zürichhorn begonnen. Soll die Kunstgeschichte über solche Details hinwegsehen, oder dürfen wir interpolieren? Für Winckelmann jedenfalls war die «edle Einfalt und stille Grösse» nicht allein in Stein gemeisselt, sie existierte auch in Fleisch und Blut. Vielleicht bringt folgende Stelle in einem Brief an H. D. Berendis vom 29. 1. 1757 eine behutsame Annäherung: «Ich habe sogar jemand gefunden, mit dem ich von Liebe rede: ein junger schöner blonder Römer von 16 Jahren, einen halben Kopf grösser als ich: aber ich kann ihn nur einmal die Woche sprechen: des Sonntags Abends speiset er bey mir.» Uns scheint, es handle sich beim Rückenakt um einen «blonden Römer» für ein imaginiertes Schäferstündchen. Der Lustknabe dient dem Betrachter als Speise zum «geistigen Coitus» (Anton Kolig). – Ach, wie viel leichter haben es da die «Kunst ohne Geschichte»-Ästheten: Sie geraten in Verzückung in der Betrachtung der malerischen Valeurs des Inkarnats und der Kraft des Haptischen der Haare sowie der Zehenspitze. Und was ist mit den nackten Tatsachen? – «Aber, aber, Herr Katzenstein: Im Land, wo die Zitronen blühn und im dunklen Laub die Gold-Orangen glühn, ist es doch im Sommer heiss draussen.»
Junge auf dem Schimmel, 1872. - Wie hat die Autorin dieses Stücke übersehen können? Es ist derselbe Schimmel wie der obige an der Meeresküste, und er findet sich überreichlich im Internet.
Nota. - Rudolf Koller ist eine Art Schweizer Nationalmaler, bekannt für Landschaftsbilder im Stil der Düsseldorfer Akademie, wo er sein Handwerk gelernt hat, und für stampfende Rösser am Rande des guten Geschmacks - fast ein Blut-und-Boden-Künstler. Die Kritikerin will sagen: Der Jünglingsakt fällt aus dem Rahmen.
JE
Am Rande des guten Geschmacks? Blut-und-Boden-Künstler? Nun, der Junge auf dem Schimmel fällt weder vom Pferd noch aus dem Rahmen. Allerdings könnte ich mir das Pferd statt dem dargestellten Halbblut ein eleganteres Vollblut vorstellen, das in seiner Kontur zum Jünglingskörper besser passen würde. Nun, KritereRINNEN fehlen ja meist "Bezugspunkte" um den WERT von Jünglingsaken überhaupt beurteilen zu können!
AntwortenLöschenhttps://www.flickr.com/photos/kinderportraits/26149217386/in/dateposted/
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