Mittwoch, 21. Oktober 2015

Evolutionäre Ästhetik.

aus Über Ästhetik; Zwischenbericht

Der Anlaß der Erkenntniskritik seit Kant war das evolutionsgeschichtliche Datum, daß uns die Welt sozusagen zweimal wider-fährt: einmal (sinnlich) in ihrer unmittelbar gegenständlichen Gegebenheit in Raum und Zeit; und ein zweitesmal (logisch) als Sinn-System. (Nota: der 'Sinn' [Geltung , Bedeutung] des je-Einzelnen ist a priori immer nur im Zusammenhang ('Diskurs') mit andern gegeben; während man die gegenständlichen Erscheinungen so anschauen kann, als ob sie jeweils an und für sich da wären.)

Diese Verdoppelung ist nicht ursprünglich, sondern wird vom reflektierenden Verstand nachträglich in die 'natürliche' Wahr-nehmung hineingetragen. Doch die Reflexion prägt, seit das diskursive Denken den öffentlichen Alltag durchzieht, das abend-ländische Bewußtsein. Das ist der Status quo, von dem wir nolens volens ausgehen, auch wenn wir in die Gattungsgeschichte zurück blicken.

Ursprünglich lag natürlich der 'Sinn' der Dinge in ihrer praktischen Bedeutung für den Erhalt des Lebens = Reproduktion/ /Selektion. Daher zum Beispiel die Gestaltgesetze, namentlich Figur/Grund-Schema: Das Bewußtsein erkennt nicht Einzel-heiten, sondern interpretiert eine erlebte Situation: es hält Ausschau nach Konfigurationen, die für Erhalt/Auslese 'bedeutsam' sind (etwa 'Angreifer von links hinten'); denn das interessiert, alles andre nicht. Unter gewissen Umständen kann aber gerade dies die 'Information' aus einem Bild sein: Da ist keine 'Figur', und also kein 'Grund', alles verläuft sich "in Wohlgefallen".

Das reicht stammesgeschichtlich (weit hinter die Hominisation) ins Tier- und womöglich ins Pflanzenreich zurück. Da wird jede Sensation vom Organismus a priori als nützlich oder schädlich gewertet. Ursprünglich lassen sich 'Empfindung' und 'Wertung' empirisch gar nicht trennen (sondern nur nachträglich im Begriff des reflektierenden Betrachters). Alle Nervenrei-zungen werden a priori in Hinblick auf ihre Relevanz für 'das Leben' interpretiert: als angenehm oder unangenehm. Sie sind ästhetisch in diesem präzisen Sinn, daß die 'Wertnehmung' uno actu mit der 'Wahrnehmung' zugleich geschieht (=Urteil ohne 'Gründe', vor aller Reflexion). Gilt darum bei Baumgarten, qua aisthesis, als das "niedere" Erkenntnisvermögen! So weit bleibt die die evolutionäre Ästhetik im Recht. Je komplexer sich die Organismen entwickeln, um so öfter kommt es aber vor, daß die 'sensorische Wertung' uneindeutig ausfällt; daß also das Individuum nicht immer weiß, ob ihm diese oder jene Sensation eigentlich eher angenehm oder eher unangenehm ist (Schmerz-Lust in vielen Abstufungen): eine erregte Wachheit. Das ist nun 'das Ästhetische' in specie: nicht die Positivität der Empfindung, sondern ihre Problematizität.


Die kennzeichnet in Sonderheit alles Neue. Dem in seiner ökologischen Nische befangenen Organismus kommt das Neue nur als seltene Ausnahme vor. Als aber unsere Vorfahren ihre Urwaldnische verlassen hatten und in der ostafrikanischen Parklandschaft zu einer vagierenden Lebensweise übergingen (=regelmäßig aus einer Nische in eine ganz-andere wechselten), wurde das Neue zu einem dauernden Lebensingrediens; zumal als vor 10 000 Jahren (Sedentarisierung-Ackerbau-Kultur) eine Welt entstand, die nicht nur von 'Naturgesetzen', sondern historisch, nämlich von menschlichem Willen gestaltet war. Seither bauschte sich das 'aisthetisch' Uneindeutige von einem (jederzeit möglichen) Zufall zu einer mentalen Konstante auf, die seither von vornherein in Betracht kommt und die Wahr-(Wert-)nehmung leitet.


Bilder: H. Rousseau; P. Klee; J. Pollock; J. S. Chardin; W. Baumeister

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen