Donnerstag, 22. Oktober 2015

Gotische Revolution in Straßburg.


aus Badische Zeitung, 22. 10. 2015                                                                         La Nativité aus Chartes

Pracht der bewegten Formen
"Straßburg 1200 bis 1230: Die gotische Revolution" im Musée de l’Œuvre Notre-Dame.

von Bärbel Nückles

Sie sind das Ausrufezeichen einer Entwicklung, die Straßburg am Beginn des 13. Jahrhunderts in ein neues stilistisches Zeitalter katapultiert hat: Ecclesia und Synagoge, die Frauenfiguren am südlichen Doppelportal des Straßburger Münsters, sie sind der Inbegriff eines neuen Schaffens. Nicht mehr statisch, dem Block verhaftet, aus dem sie gehauen wurden, sondern anmutig in sich gedreht, das Gewand elegant in Falten gelegt.


Ecclesia

Wie diese Entwicklung in Gang kommt und sich im Einflussbereich des Heiligen Römischen Reiches fortsetzt, beschreibt eine Ausstellung im Straßburger Musée de l’Œuvre Notre-Dame: die gotische Revolution. Straßburg ist um 1200 eine prosperierende Handelsstadt. Im Unterschied zur einfachen Bevölkerung können hohe Würdenträger sich andernorts ein Bild von der neuen Architektur machen. Sie müssen überwältigt gewesen sein von der Wucht der französischen Kathedralbauten, die mit dem Neubau von Saint-Denis um 1130 begonnen hatte, von den überwölbten Decken, einer neuen Statik, die dem Mauerwerk die Last nimmt und so den Weg frei macht für durchbrochene, immer feinere Strukturen, prachtvolle Fenster und dem Skulpturenschmuck gehobene Aufmerksamkeit schenkt. 


Synagoge

Diese Pracht der bewegten und farbigen Formen wollte man auch nach Straßburg holen. "So beschließt das Domkapitel", erläutert der Genfer Kunsthistoriker und Kurator der Ausstellung, Jean Wirth, "jemanden anzustellen, der den neuen Stil beherrscht, jemand, der an der Kathedrale von Chartres gearbeitet hat und in Straßburg maßgeblich das südliche Querschiff prägen wird." Die Entwicklung nimmt überraschend schnell ihren Lauf. Von der Ankunft des neuen Meisters und wahrscheinlich einiger Gesellen bis zur Entfaltung des neuen Stils vergehen jedoch nur zehn Jahre. 

Bereits um 1220 ist Straßburg ein Zentrum der Gotik. Für Wirth zeigt sich die Ausnahmestellung des Meisters aus dem rund 600 Kilometer entfernten Chartres an der außergewöhnlichen Kohärenz des Skulpturenprogramms des südlichen Doppelportals und dem Engelspfeiler im dahinterliegenden Querschiff. "Daraus ist eine starke Persönlichkeit abzuleiten, die ihr Umfeld stilististisch dominiert hat."

Törichte Jungfrauen und der Versucher

Straßburg wird damit eines der bedeutenden Einfallstore der Gotik auf deren Weg nach Osten – die Ausstellung fügt die Hinweise wie ein Puzzle zusammen. Belegt werden wichtige Impulse aus anderen Künsten, etwa zeitgenössischen Handschriften wie dem im Elsass geschaffenen "Hortus Deliciarum" oder der im mittelalterlichen Straßburg hoch entwickelten Goldschmiedekunst. Straßburg nimmt nicht nur Einflüsse auf, sondern wirkt seinerseits durch den neuen Meister stilbildend. In diesem Sinne erinnert die Bamberger Figur der Synagoge mit einer die Gewandfalten zusammenraffenden Brosche auffällig an das Straßburger Modell.


Kluge Jungfrauen und Christus

In Zusammenhang mit der Ausstellung wurde einer der verschollen geglaubten Skulpturenköpfe des Querschiffportals wieder aufgefunden. Der Heilige Johannes, klassisch anmutend und beeinflusst durch den burgundischen Stil, befand sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch im Besitz des Münsterarchitekten Johannes Knauth. Nachdem Knauth 1918 aus dem nun wieder französischen Elsass ausgewiesen worden war, verliert sich seine Spur. Sabine Bengel, die Archiv und Dokumentation der Straßburger Münsterbauhütte verantwortet und als wissenschaftliche Beraterin der Ausstellung mitwirkte, hat ihn in einem Offenburger Hotel ausfindig gemacht. Höchstwahrscheinlich bestand zwei Generationen zurück eine Verbindung zwischen der Eigentümerfamilie und Knauth, der von Straßburg in die Nähe von Offenburg gezogen war.


linker Flügel des Hauptportals

Nicht nur für Spezialisten: Die isolierte Präsentation von Skulpturen und Reliefs, die sonst als Winzigkeit und Teil eines monumentalen Bauerwerks in Erscheinung treten, schärft den Blick. Und die exemplarischen Exponate Straßburger Provenienz und zahlreichen Leihgaben aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz besitzen einen ästhetischen Reiz, der für sich spricht und den beschriebenen Kulturwandel vom romanischen Stil zur Gotik konzentriert nachvollzieht.

Bis 14. Februar, täglich außer Montag 10-18 Uhr.




aus Badische Zeitung, 20. 12. 2014

Jahrtausendwerk: Straßburger Münster feiert Jubiläum
Das Straßburger Münster, erbaut auf den Fundamenten einer romanischen Basilika, ist vor 1000 Jahren entstanden. Bärbel Nückles hat sich auf eine Spurensuche begeben

Niedrige Holzhäuser ducken sich zu Füßen der gotischen Kathedrale. In den Wochen vor dem Fest bilden sie schmale Gassen, durch die sich Tausende Menschen zwängen. Es ist wieder soweit. Der Weihnachtsmarkt hat Straßburg fest im Griff. Bis auf das Münster. Aus dem Sandstein der Vogesen gehauen, ragt es in luftige Höhen, beherrscht alles, seit es vor 1000 Jahren "aus seinen Fundamenten" erstanden ist. Zumindest legt dies die einzige Quelle nahe, die auf die romanische Basilika verweist, erbaut an derselben Stelle wie die prächtige gotische Kathedrale von heute. "Anno Domino 1015 monasterium Sancte Marie in Argentina surgit primo a fundatione sua", heißt es in den mittelalterlichen Annalen des in der Nähe von Colmar gelegenen Stifts Marbach. Mit Monasterium ist das Münster gemeint, die Bischofskirche, die im Jahr 1015 im Herzen Straßburgs Stein auf Stein aus dem Boden wächst.

Die Kathedrale ist ein Fels im Meer der Geschichte. 1000 Jahre, scheint es, liegen offen zutage. Wie aber mag es ausgesehen haben, das Münster, das Bischof Werner von Habsburg, ein gebildeter, einflussreicher Mann, als Demonstration der Macht der Reichskirche errichten ließ? Die Suche nach den Ursprüngen führt hinab in sieben Meter Tiefe, unter die im 16. Jahrhundert errichtete, dem nördlichen Seitenschiff vorgelagerte Laurentiuskapelle. Im Mittelalter gab es Friedhöfe nahe beim Münster. Bei der durchbrochenen Innenseite der Kapelle handelt es sich um die ursprüngliche Außenmauer des Münsters. Unbefugte haben hier keinen Zutritt. Eric Salmon, der technische Leiter der Straßburger Münsterbauhütte, ist ein großer, kräftiger Mann, der mit Sandstein umzugehen weiß. Er klappt eine in den Boden eingelassene Flügeltür auf, die sich mit lautem Knarzen öffnet. Eine Gitterstiege führt unter die Kapelle, hier beginnt die Suche nach den ältesten Teilen des Bauwerks, verborgen unter der Last des gotischen Ungetüms. Es riecht feucht und steinig. Die Decke ist mit einer Schicht Stahlbeton verstärkt.

Unter der Kapelle liegen die Reste römischer Villen

Die Wand, auf die es jetzt ankommt, befindet sich rechts neben dem Eingang. Kleine Quader aus hellem Sandstein liegen Schicht auf Schicht. In den unteren Reihen sind sie eher grob behauen. "Folgt man den Schichten nach oben" – Salmon macht mit der Hand eine weit ausladende Bewegung – "haben die Handwerker die Sandsteinquader deutlich feiner bearbeitet". So unscheinbar dieser Mauerabschnitt ist, es handelt sich um den einzig freigelegten Teil der Fundamente von Werners Basilika. Die Quader sind 30 mal 40 Zentimeter groß, kleiner als man bei einem solch imposanten Bauwerk erwarten könnte. "Man kann es hier sehr schön erkennen", erklärt Eric Salmon, "dass erst ein Jahrhundert später diese monumentalen Blöcke dann zum Bau der gotischen Fundamente verwendet wurden." Die Quader messen meist zwei Meter entlang der Kanten.


Computersimulation

Die im 11. Jahrhundert gemauerten Fundamente tragen noch immer die Last des Kolosses. Damit befindet sich in Straßburg die einzige gotische Kathedrale, die vollständig auf den Fundamenten eines romanischen Vorgängerbaus steht. Betrachtet man den Grundriss, so weichen nur wenige Bauteile von den Ausmaßen ab, wie sie wohl Bischof Werner von Habsburg selbst bestimmt hat. Erkannt hat man diesen Zusammenhang erst, als die Laurentiuskapelle in den 1970er Jahren restauriert wurde und unter ihr eine der wenigen Forschungsgrabungen entlang der Münsterfundamente stattfanden. "Erst damals stellte man fest, dass die ursprünglichen, ottonischen Grundmauern vollständig weiterverwendet wurden", sagt Sabine Bengel. Die Kunsthistorikerin leitet das Archiv der Straßburger Münsterbauhütte.


um 1340 (Stéphane Potier)

In der Tiefe der Laurentius-Kapelle führten die Grabungen noch viel weiter zurück in die Geschichte. Eric Salmon zeigt auf den Abschnitt vor der ottonischen Mauer. Die Fundamente im Boden stammen nicht von einer frühen Kirche – sie sind die Überbleibsel römischer Villen: Hier residierten die Tribune der 8. Legion des Augustus, die sich um das Jahr 90 an der Ill niedergelassen hatte. Gefunden wurden hier auch die Reste eines Terrazzobodens und Teile eines Mosaiks sowie einer antiken Hypokaustenheizung. Wo heute Münster und Fachwerkhäuser stehen, befanden sich einst Militärbaracken und römische Villen. Es war damals die Geburtsstunde von Argentoratum, dem späteren Straßburg.

Als die Bauarbeiten für das romanische Münster beginnen, ist Straßburg mit circa 2000 Einwohnern eine der mächtigsten Städte im Heiligen Römischen Reich. Werner steht dem Herrscher Heinrich II. nahe, dessen Wahl auf den Thron er unterstützt hat. Heinrich dankt es dem Kirchenmann mit Geld für seinen prestigeträchtigen Kathedralenbau, der gegen 1050 abgeschlossen war. 1049 besucht der in Eguisheim im Elsass geborene Papst Leo IX. das zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend vollendete Münster. Werner von Habsburg muss den Plan der Kirche maßgeblich beeinflusst haben – in einer Epoche, als es Baumeister und Architekten, die an einer Bauhütte wirken, noch nicht gegeben hat. Noch nicht einmal ein festes Atelier besteht, als die Vorarbeiten für die Fundamente beginnen und Holzpflöcke in den lehmigen Untergrund gerammt werden, bevor die heute noch stehenden Mauern aufgeschichtet werden. Die früheste Nennung der Straßburger Bauhütte stammt aus dem Jahr 1224.


Stich: Bernhard Jobin, 1574

Womöglich war es so wie in Hildesheim. Bernward von Hildesheim, Bauherr der zeitgleich zu Werners Münster errichteten Kirche Sankt Michael in Hildesheim, soll deren Plan entworfen haben. Warum also soll es nicht auch Werner so gemacht haben?

Werners "Monasterium" wird zu einer der größten Kirchen seiner Zeit. Das ergibt sich aus der Gesamtlänge des Münsters von 112 Meter. "Nur Cluny hatte damals noch gewaltigere Dimensionen", sagt Kunsthistorikerin Sabine Bengel. Die Klosterkirche von Cluny ist der Vernichtungswut der Französischen Revolution zum Opfer gefallen, sie hat nur in Plänen, als Mythos und in Mauerresten überdauert.


Auch Werners Münster besteht nicht lange. Mehrere Brände, spätestens jener von 1176, lassen die mächtigen Mauern in Flammen versinken. Vier Jahre später beginnt der Wiederaufbau einer neuen, spätromanischen Kathedrale. Weder von dem unter Bischof Werner erbauten Münster noch irgendeinem seiner Vorgängerbauten – um 500 etwa muss irgendwo auf der heutigen Ill-Insel eine merowingische Basilika, den Legenden nach aus Holz, existiert haben – gibt es eine greifbare Spur.

Bis eben auf die 1000 Jahre alten Grundmauern und zwei Pilaster (Wandpfeiler) aus dieser Zeit, die sich in der Krypta befinden. Deshalb haben die Steinmetze der Straßburger Münsterbauhütte ein Modell gemeißelt. Es ist im Maßstab 1 zu 100 aus rotem Sandstein gefertigt, wie das Original. Aber was heißt schon Original. Es handelt sich eher um eine Stein gewordene Hypothese. Die Decke der dreischiffigen Basilika ist flach wie einst der Speyrer Dom. Denn erst in der späten Romantik waren die Handwerker in der Lage, große steinere Gewölbe zu errichten. Länge und Breite sind aufgrund der Fundamente verbrieft. Die Höhe des Hauptschiffs wurde entsprechend der Proportionen von den Grundmaßen bestimmt. Die Baumeister des Mittelalters legten ein Quadrat als Basis zugrunde, von dem die Maße für Längs- und Querschiff sowie die Vorhalle abgeleitet wurden. Im Falle von Straßburg hat man eine Seitenlänge von 50 Fuß rekonstruiert.



Wahrscheinlich besaß die im 11. Jahrhundert erbaute Werner-Kirche ein dreiteiliges Portal vor einer Eingangshalle, über der sich zwei Türme erhoben. "Straßburg", sagt Sabine Bengel, "ist eines der frühesten belegten Beispiele mit zwei Türmen." Hinter dem Querschiff schloss eine halbrunde Apsis den Plan ab. Auch eine Kaiserempore könnte es gegeben haben, vermutet Bengel. Der kleinteilige Sandstein war verputzt. Flachziegel, wie man sie aus Hildesheim kennt, wurden auch in Straßburg bei Ausgrabungen gefunden. Das Modell besitzt auch zahlreiche Fenster. Wie groß sie waren und wie sie über die Fassade verteilt waren, das ist Spekulation. Zwangsläufig beruht die Rekonstruktion auf Vermutungen, Parallelen, Rückschlüssen – und dem größtmöglichen Konsens der Straßburger Münster-Spezialisten.

Die Zeiten, als Besucher sich frei durch die Kirche bewegen durften, sind längst vorbei. Jean-Paul Lingelser vergeudet mit dem Absperrband keine Sekunde. Er hebt den Trennständer an, gerade soweit, dass er sich hindurchzwängen kann. Die Frau am Postkartenstand zögert eine Viertelsekunde, doch dann hat sie ihn erkannt – den kleinen Mann mit Aktentasche im dunklen Pullover und Jackett, der ein Pastor sein könnte und bis vor kurzem noch Präsident eines altehrwürdigen Straßburger Vereins war. Im Jahr 1902, als Straßburg und das Elsass zum deutschen Kaiserreich gehörten, hatte sich die Gesellschaft der Freunde des Straßburger Münsters gegründet und Bürger versammelt, die auf den Fortbestand und die Pflege des alten Gemäuers bedacht waren. Sie veranstalten Tagungen zu historischen Themen und sammelten schon Spenden für seine Restauration.



Lingelser ist längst im Ruhestand. In seinem Berufsleben hat er als Chemiker geforscht, das Münster aber fasziniert ihn schon sein ganzes Leben. Er zückt sein in Leder gebundenes Notizbuch. Gestochen scharf hat er es Seite für Seite mit Anekdoten, Zeichnungen und Notizen zu Beobachtungen und Ereignissen gefüllt. Und er erzählt: Nach Kriegen, religiösen Konflikten und der Französischen Revolution stellte sich Ende des 19. Jahrhunderts die Frage, ob der zweite Turm des Münsters nicht vollenden werden sollte. In Köln hatte man schon 1842 die Bauarbeiten am Dom fortgesetzt. Seit 1871 war Elsass-Lothringen deutsch. 1880 trafen Architekten und Ingenieure zu einem Kongress zusammen, der sich um das Thema Symmetrie drehte.

Es war eine Leidenschaft von Kaiser Wilhelm, unvollvollendete Bauwerke zu vollenden. Bis 1908 wird die Hohkönigsburg bei Sélestat auf Wunsch des Monarchen von Berliner Architekten rekonstruiert. Das Münster hingegen blieb, wie es war: Asymmetrisch und deshalb unverwechselbar. "Zum Glück", sagt Lingelser, "waren die Gegner in der Mehrheit." Dass der Bau des zweiten Turms, nach der Vollendung des Nordturms 1439, nicht ebenso fortgesetzt worden war, könnte an finanziellen Problemen gelegen haben. "Möglicherweise befürchtete man auch", sagt Lingelser, "dass die Fundamente die zusätzliche Last nicht tragen würden."


Plan aus dem 19. Jahrhundert

Eine Synthese aus französischem Genie und deutschem Wagemut

Bis heute fasziniert ihn am meisten, wie sich in der Geschichte und Architektur des Münsters die wechselseitigen Einflüsse zwischen Deutschland und Frankreich spiegeln. "Die Gotik brachte um 1210/1220 ein Steinmetz nach Straßburg, der zuvor in der Ile-de-France oder in der Champagne auf der Baustelle einer Kathedrale gearbeitet haben muss", erzählt Jean-Paul Lingelser. Die Gotik bahnte sich vom Elsass aus weiter ihren Weg durch Europa. Von Straßburg zogen die Handwerker weiter und prägten an jedem neuen Arbeitsort den dortigen Stil.

Die mittelalterliche Baukunst, ihre genialen Köpfe und ihre fleißigen Hände, sie genossen nicht schon immer einen hohen Stellenwert. "Der Glaube an das Genie des Architekten", sagt Jean-Paul Lingelser, gehe auf Goethe und seine in Straßburg entwickelten Gedanken zurück. "Er hat die damals vorherrschende Meinung über die Architektur des Mittelalters zurechtgerückt." 1771 hielt sich der Dichter zum Jurastudium in Straßburg auf und bestieg den 142 Meter hohen Münsterturm, damals – das Ulmer Münster wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts vollendet – noch der Welt höchster Kirchturm. Goethe geriet beim Anblick des Münsters ins Schwärmen. Der Dichter, erzählt Lingelser, habe nicht nur verzweifelt nach dem Grabstein des Baumeisters Erwin von Steinbach gesucht. "Mit seiner berühmten Schrift ,Von deutscher Baukunst’ erhob er die gotische Baukunst und ihre Meister in den Rang, den sie bis heute genießen. Und einer der berühmtesten ist der Baumeister des Straßburger Münsters, Erwin von Steinbach."


Eine rote Mütze für den Turmhelm

"Der religiöse Vandalismus", sagt Lingelser, "hat die größten Schäden angerichtet". Nicht die Kriege seien es gewesen. Erst zog der reformatorische Bildersturm über die Skulpturenpracht hinweg, dann die Rekatholisierung 1681, nachdem Ludwig XIV. das Elsass dem französischen Königreich einverleibt hatte. 1793 machten sich die Revolutionäre daran zu zerstören, was ihnen an religiösem Zierrat missfiel. Hunderte Skulpturen fielen ihrer Wut zum Opfer.


Der Plan Erwin von Steinbachs aus dem 13. Jahrhundert (rekonst.)

Als auch die Turmspitze in Gefahr geriet, schlug ein Schlossermeister und Gemeinderat namens Sulzer vor, den Turmhelm mit einer phrygischen Mütze, der typischen Kopfbedeckung der Revolutionäre, zu verhüllen. Lingelser: "Er hat sich vor dem Revolutionstribunal durchgesetzt." So grüßte die Revolution in alle Richtungen, auch jenseits des Rheins, in Gestalt einer zehn Meter hohen, roten Blechkappe. Der "Kaffeewärmer", wie die Elsässer die Mütze nannten, verbrannte 1870, als preußische Bomben beim Angriff auf Straßburg die städtische Bibliothek zerstörten.

Das Münster war mehr als einmal Symbol der Geschichte, Objekt der Begierde und Machtinstrument – die Nationalsozialisten hissten ihr Hakenkreuz 1940 beim Einmarsch in das Elsass. General Leclerc löste einen Schwur ein, als die französischen Farben wieder auf der Spitze flatterten, am Tag der Befreiung, dem 23. November 1944. Germain Muller, der große Mann des elsässischen Kabarett, spekulierte in den Nachkriegsjahren auf der Bühne: Hätte das Münster zwei Türme gehabt, man hätte eine deutsche und eine französische Fahne hissen können.

Das Münster hat in den 1000 Jahren vielen Begehrlichkeiten widerstanden. "Für mich", sagt Lingelser, "ist es vor allem eine Synthese aus französischem Genie und deutschem Wagemut."



Der Versucher

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