Dienstag, 2. August 2016

Moralisch bauen?

aus nzz.ch, 29.7.2016, 13:45 Uhr                                                                                       Ist Giuseppe Terragnis Casa del Fascio in Como, die heute diskret Casa Terragni genannt wird, ein Meisterwerk der Moderne oder ein aus politisch-moralischen Gründen verwerfliches Konstrukt?

Moral und Architektur
Emotionen wecken und Erwartungen erfüllen

In den Architekturdebatten werden immer wieder moralische Argumente vorgebracht, um bestimmte Richtungen zu forcieren; eine tragfähige Ethik muss die Baukunst aber im eigenen Metier wiederfinden.

von Vittorio Magnago Lampugnani 

Kürzlich zeigte ich einem Kollegen ein Projekt für ein Etagenwohnhaus an einer städtischen Strasse. Ungläubig fragte er mich, ob es mein Ernst sei, zwei Erker in der Fassade vorzuschlagen. Als ich zu erklären versuchte, dass davon nicht nur die Wohnungen profitieren würden, sondern auch das Strassenbild, schnitt er mir empört das Wort ab und dekretierte, jede nicht zwingend notwendige Ausweitung der Aussenhülle eines Hauses sei Energieverschwendung. Meine Architektur sei, das müsse er leider in aller Deutlichkeit sagen, unverantwortlich, ja unmoralisch.

Ethische Dimension

Die Verknüpfung von Moral und Bauen ist nicht so alt wie das Bauen selbst. Zwar war Architektur von Anbeginn an mit der Gesellschaft verbunden, der sie eine physische Form zu verleihen hatte: Damit besass und besitzt sie immer noch eine ethische Dimension. Doch diese Dimension war lange lediglich implizit. Leon Battista Alberti, der mit «De re aedificatoria» das erste grosse Traktat der Baukunst der Neuzeit verfasste, verstand Architektur als die Disziplin, welche die Grundlage und die Wünsche der Gesellschaft verkörpern sollte, unterschied aber nicht zwischen ethischer und unethischer, sondern nur zwischen guter und schlechter Architektur.

Erst im frühen 19. Jahrhundert sollte sich dies grundlegend ändern. Augustus Welby Northmore Pugin, ein englischer Architekt, der 22-jährig zum Katholizismus konvertiert war, veröffentlichte 1836 sein Buch «Contrasts». Darin trat er leidenschaftlich für den neugotischen Stil ein, in dem er die gleiche «Wahrheit» sah, welche der Lehre der römisch-katholischen Kirche eignete. Den Klassizismus hielt er für eine Folge der Reformation; und weil er die Reformation für moralisch verwerflich hielt, war in seinen Augen die gesamte klassische Architektur ebenso verwerflich. Mit dem Uhrenturm des Palastes von Westminster in London, 22 Kirchen, 2 Kathedralen und 4 Klöstern realisierte er das, was er nicht nur für schön, sondern auch für wahr und ethisch hielt.


Wäre das von Herzog & de Meuron in Peking errichtete olympische Nationalstadion ein moralisch besserer Bau, wenn er in einem westlich-demokratischen Land stehen würde?
 

Ähnlich argumentierte nur wenige Jahre später der Kunsthistoriker, Sozialphilosoph und Maler John Ruskin. In seiner Essaysammlung «The Seven Lamps of Architecture» knüpfte er an Pugins Argumentation an und nahm für die Architektur die Kategorien des Opfers, der Wahrheit, der Macht, der Schönheit, des Lebens, der Erinnerung und des Gehorsams in Anspruch. Die Schönheit der gotischen Kathedrale stellte er dem Glück gleich, das die gottgläubigen Steinmetzen beim Bauen empfunden hätten. Mit seiner Doktrin einer Kunst und einer Baukunst, die Religion und Moral zur Darstellung bringen sollten, beeinflusste er die gesamte «Arts and Crafts»-Bewegung um den Maler, Dichter und Kunstgewerbe-Unternehmer William Morris.

Le Corbusier erklärte 1923 in «Vers une architecture» 
unumwunden die Baukunst zu einer «Frage der Ethik».

Von diesem Moment an bildete das moralische Argument eine Konstante der Architekturdiskussion. Le Corbusier erklärte in seinem Manifest «Vers une architecture» von 1923 unumwunden die Baukunst zu einer «Frage der Ethik» und rief aus: «Die Lüge ist unerträglich. Man geht an der Lüge zugrunde.» Seine Machine à habiter bezeichnete er nicht nur als hygienisch, sondern auch als moralisch gesund. Ihm taten es so gut wie alle Vertreter der klassischen Moderne gleich, die ihre Arbeit konstruktiv und funktionell, vor allem aber ethisch begründeten.

Diese Haltung sekundierte und erhärtete die militante Geschichtsschreibung. Nikolaus Pevsner, ein brillanter deutscher Kunsthistoriker, der 1934 nach England emigrierte, erklärte in seinem Buch «Pioneers of the modern movement from William Morris to Walter Gropius» die Bauhausarchitektur zur historischen, ja ethischen Notwendigkeit, weil allein sie den Zeitgeist darstelle. Damit legte er die Grundlage nahezu der gesamten Architekturgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, die Hegels Geistesgeschichte ebenso viel verdankt wie den kunsthistorischen Theorien von Einen Höhepunkt erreichte die Gleichsetzung von guter, also moderner Architektur und moralischer Rechtschaffenheit in Sigfried Giedions Arbeit, die 1948 im Bestseller «Space, Time and Architecture» einen ebenso fulminanten wie einflussreichen Niederschlag fand: Darin deutete Giedion die Entwicklung der architektonischen Moderne als grossen moralischen Kampf um die richtige Lösung der Probleme der Zeit. Den Beginn dieses Kampfes sah er im «Kreis um William Morris», der nach «einer moralischen, sauberen Form» strebte und damit der überfälligen Erfüllung des Zeitgeistes entgegenwirkte.
Mit dem Aufkommen der totalitären politischen Systeme in Europa, vor allem des Faschismus in Italien und des Nationalsozialismus in Deutschland, aber auch der stalinistischen Diktatur in der Sowjetunion sowie nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs kam zum weltanschaulichen Moralismus der politische hinzu: Architektur war nur dann ethisch, wenn sie einem demokratischen System diente. Dabei wurden beide Argumente vermischt und ebenso vereinfachende wie leichtfertige Gleichsetzungen verkündet: Die klassizistische Baukunst galt als unmoralisch, weil sie für die Repräsentation der Regime von Hitler und teilweise auch von Mussolini eingesetzt worden war, die moderne Architektur als moralisch, weil sie zu einer Widerstandsbewegung stilisiert wurde, die sie in Wirklichkeit nie gewesen war. Dass fast alle modernen Architekten Italiens zumindest in der ersten Phase des Faschismus begeisterte Parteigänger waren, wurde ebenso übergangen wie die Tatsache, dass nicht wenige moderne deutsche Architekten in der frühen Phase des Nationalsozialismus versuchten, für das Regime zu bauen – freilich vergeblich.

Es ist wahr, dass Architektur einen Staat nicht nur mit den erforderlichen Räumlichkeiten, sondern auch mit Bildern und Metaphern versorgt. Dadurch wird sie zu einer wichtigen Stütze seines politischen Systems. Aber diese Bilder und Metaphern sind mitnichten eindeutig und zuweilen sogar austauschbar: Giuseppe Terragnis Casa del Fascio in Como, ein Höhepunkt der klassischen Moderne, verbildlicht das faschistische Regime ebenso wie Albert Speers plump klassizistische Neue Reichskanzlei in Berlin die Terrorherrschaft Hitlers.

Die Architekten müssen mit ihrem Gewissen ausmachen, für wen sie bauen wollen und für wen nicht.
Doch auch jenseits von derlei Aporien droht die Frage nach der Moral des Auftraggebers in einen architektonischen Moralismus abzugleiten. Sind die modernen Dörfer, die in den 1950er und 1960er Jahren im Zusammenhang mit Spaniens «Innerer Kolonisation» entstanden, die das Franco-Regime zur Unterstützung seiner Agrarwirtschaft initiierte, ungeachtet ihrer städtebaulichen, architektonischen und funktionalen Qualitäten als schurkenhaft abzutun? Oder die neuen Städte und neuen Architekturen, die im totalitären China entstanden sind, das nicht nur politisch Andersdenkende, sondern auch Tibet brutal unterdrückt? Oder die ambitionierten Prachtbauten im semidemokratischen Russland und in den autokratischen arabischen Emiraten?

Der Vorwurf der Kollaboration mit politischen Systemen, die menschenrechtliche und demokratische Prinzipien missachten, trifft nicht die Architektur, sondern allenfalls die Architekten. Die Architekten müssen mit ihrem Gewissen ausmachen, für wen sie bauen wollen und für wen nicht. Wenn sie gut ist, ist ihre Arbeit zweckdienlich und künstlerisch zugleich, entwickelt eine Wirkungsmacht jenseits aller Herrschaftsgelüste, pflegt einen ästhetischen Eigensinn. Sie mit den Mächten gleichzusetzen, die sie gleichzeitig bedient und unterläuft, greift zu kurz. Und unterstellt der Architektur einen instrumentellen Charakter, der ihr nicht eigen ist – zumindest nicht in linearer und eindimensionaler Form. Genau dies aber tun die moralisierenden Architekturdiskurse, die sich bei genauerer Betrachtung als mehr oder weniger durchsichtige Tricks entpuppen, um mit hehren Scheinargumenten einen Architekturstil als den einzig richtigen herauszustellen: die Neugotik, die klassische Moderne, den ökologischen Pragmatismus.

Dauerhaftigkeit ist nachhaltig

Und doch hat die Architektur eine moralische Dimension inne: Sie leitet sich aus ihrer Verpflichtung gegenüber dem Bauherrn ab. Der Architekt ist dessen Treuhänder: Die Gebäude, die er entwirft, müssen nutzbar und nützlich sein, also aufs Beste die Aufgaben erfüllen, für die sie bestimmt sind. Sie müssen sparsam sein, um keine überflüssigen Kosten zu verursachen. Sie müssen werthaltig sein, um den Unterhalt zu minimieren und eine lange Lebenszeit zu haben. Das mag selbstverständlich erscheinen, ist es aber kaum. Zahlreiche Wohnungen, die heute gebaut werden, sind unbequem geschnitten, Stauraum sucht man darin vergebens, die Decken sind zu niedrig, fensterlose Bäder sind gang und gäbe. Die öffentlichen Bauten, vor allem die Museen, erfüllen ihre ureigene Aufgabe mehr schlecht denn recht, weisen dafür überflüssige Repräsentationsräume auf und sind aus Materialien konstruiert, die schnell und unansehnlich altern.


Hatte die Tatsache, dass die Vereinigten Arabischen Emirate autokratisch regiert sind und die in der Bauwirtschaft tätigen Arbeiter schlechter behandelt werden als die westlichen Angestellten, Auswirkungen auf die Qualität des vom New Yorker Grossbüro SOM errichteten Burj Khalifa in Dubai? (Bild: Roman Hollenstein)

Der Architekt ist aber nicht nur dem Bauherrn gegenüber moralisch verpflichtet, sondern auch und vor allem der Gesellschaft. Seine Gebäude müssen über die Aufgaben hinaus, die ihr Programm enthält, auch öffentliche erfüllen. Sie müssen nicht nur die Ressourcen des Bauherrn, sie müssen auch jene unserer Welt schonen: und nicht nur ihre Energie, sondern auch ihre Bodenschätze. Ausserdem sollen sie so wenig Müll und Verschmutzung wie möglich verursachen. Das erreichen sie in erster Linie nicht dadurch, dass sie einem modischen Öko-Stil frönen und sämtliche Erker abschaffen, sondern indem sie lange halten. Die Dauerhaftigkeit ist der Schlüssel der Nachhaltigkeit.

Die Dauerhaftigkeit ist der Schlüssel der Nachhaltigkeit.

Auch dies trifft heute nur selten zu. Die Lobbys der Bauindustrie, von rigiden Energiesparverordnungen und willigen Zertifizierungsinstitutionen sekundiert, nötigen geradezu die Wärmeverbundkonstruktionen mit Aussendämmung und Zwangsbelüftung auf, die nicht nur einen exzessiven Aufwand und überflüssige Kosten verursachen, sondern auch eine schlechte ökologische Bilanz bei ihrer Produktion aufweisen, von kurzer Lebensdauer sind und kaum Behaglichkeit in den luftdicht versiegelten Wohnungen erzeugen – um von der trostlosen ästhetischen Anmutung gar nicht zu sprechen. Dabei gäbe es alternative Bauweisen, vom Einsteinmauerwerk über Holzmassivkonstruktionen bis zum Lehmbau, die effizienter, kostengünstiger, langlebiger, gesünder und schöner sind. Solcherlei Experimente, die gegenwärtig kaum ein Investor oder dessen Bauabteilung auf sich zu nehmen bereit ist, erfordern Mut, Beharrlichkeit und eine klare ethische Haltung.

Emotionen wecken

Zu den kostbaren und endlichen Ressourcen unserer Welt gehört auch die Landschaft. Die Neubauten müssen möglichst wenig davon verbrauchen, also eine angemessene Höhe aufweisen und klug und dicht aneinandergestellt werden – so, wie es fast alle Altbauten bereits sind. Noch eine weitere Verpflichtung obliegt der Architektur, und zwar sowohl dem Bauherrn als auch der Gesellschaft gegenüber: Sie muss schön sein. Nur dann kann sie sämtliche Bedürfnisse erfüllen, die materiellen sowie die immateriellen, und neben den pragmatischen Erwartungen, die an sie gestellt werden, auch Emotionen wecken. Zudem wird sie damit zur Nachhaltigkeit beitragen: Denn ein schönes Gebäude wird eher gepflegt und lange erhalten als ein hässliches. Ist es damit ethisch? Vielleicht. Denn nicht jede schöne Architektur ist moralisch, aber jede moralische Architektur ist schön.

Prof. Dr. Vittorio Magnago Lampugnani lehrt Städtebaugeschichte an der ETH Zürich



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