aus nzz.ch, 29.7.2016, 13:45 Uhr                                                                                       Ist Giuseppe Terragnis Casa del Fascio in Como, die heute diskret Casa Terragni genannt wird, ein Meisterwerk der Moderne oder ein aus politisch-moralischen Gründen verwerfliches Konstrukt?
Moral und Architektur
Emotionen wecken und Erwartungen erfüllen
In den Architekturdebatten werden immer wieder moralische Argumente vorgebracht, um bestimmte Richtungen zu forcieren; eine tragfähige Ethik muss die Baukunst aber im eigenen Metier wiederfinden.
von Vittorio Magnago Lampugnani
Kürzlich zeigte ich einem Kollegen ein Projekt für ein Etagenwohnhaus an einer städtischen Strasse. Ungläubig fragte er mich, ob es mein Ernst sei, zwei Erker in der Fassade vorzuschlagen. Als ich zu erklären versuchte, dass davon nicht nur die Wohnungen profitieren würden, sondern auch das Strassenbild, schnitt er mir empört das Wort ab und dekretierte, jede nicht zwingend notwendige Ausweitung der Aussenhülle eines Hauses sei Energieverschwendung. Meine Architektur sei, das müsse er leider in aller Deutlichkeit sagen, unverantwortlich, ja unmoralisch.
Ethische Dimension
Die
 Verknüpfung von Moral und Bauen ist nicht so alt wie das Bauen selbst. 
Zwar war Architektur von Anbeginn an mit der Gesellschaft verbunden, der
 sie eine physische Form zu verleihen hatte: Damit besass und besitzt 
sie immer noch eine ethische Dimension. Doch diese Dimension war lange 
lediglich implizit. Leon Battista Alberti, der mit «De re aedificatoria»
 das erste grosse Traktat der Baukunst der Neuzeit verfasste, verstand 
Architektur als die Disziplin, welche die Grundlage und die Wünsche der 
Gesellschaft verkörpern sollte, unterschied aber nicht zwischen 
ethischer und unethischer, sondern nur zwischen guter und schlechter 
Architektur.
Erst
 im frühen 19. Jahrhundert sollte sich dies grundlegend ändern. Augustus
 Welby Northmore Pugin, ein englischer Architekt, der 22-jährig zum 
Katholizismus konvertiert war, veröffentlichte 1836 sein Buch 
«Contrasts». Darin trat er leidenschaftlich für den neugotischen Stil 
ein, in dem er die gleiche «Wahrheit» sah, welche der Lehre der 
römisch-katholischen Kirche eignete. Den Klassizismus hielt er für eine 
Folge der Reformation; und weil er die Reformation für moralisch 
verwerflich hielt, war in seinen Augen die gesamte klassische 
Architektur ebenso verwerflich. Mit dem Uhrenturm des Palastes von 
Westminster in London, 22 Kirchen, 2 Kathedralen und 4 Klöstern 
realisierte er das, was er nicht nur für schön, sondern auch für wahr 
und ethisch hielt.
Ähnlich 
argumentierte nur wenige Jahre später der Kunsthistoriker, 
Sozialphilosoph und Maler John Ruskin. In seiner Essaysammlung «The 
Seven Lamps of Architecture» knüpfte er an Pugins Argumentation an und 
nahm für die Architektur die Kategorien des Opfers, der Wahrheit, der 
Macht, der Schönheit, des Lebens, der Erinnerung und des Gehorsams in 
Anspruch. Die Schönheit der gotischen Kathedrale stellte er dem Glück 
gleich, das die gottgläubigen Steinmetzen beim Bauen empfunden hätten. 
Mit seiner Doktrin einer Kunst und einer Baukunst, die Religion und 
Moral zur Darstellung bringen sollten, beeinflusste er die gesamte «Arts
 and Crafts»-Bewegung um den Maler, Dichter und Kunstgewerbe-Unternehmer
 William Morris.
Le Corbusier erklärte 1923 in «Vers une architecture»
unumwunden die Baukunst zu einer «Frage der Ethik».
Von diesem Moment an bildete das moralische Argument eine Konstante der Architekturdiskussion. Le Corbusier erklärte in seinem Manifest «Vers une architecture» von 1923 unumwunden die Baukunst zu einer «Frage der Ethik» und rief aus: «Die Lüge ist unerträglich. Man geht an der Lüge zugrunde.» Seine Machine à habiter bezeichnete er nicht nur als hygienisch, sondern auch als moralisch gesund. Ihm taten es so gut wie alle Vertreter der klassischen Moderne gleich, die ihre Arbeit konstruktiv und funktionell, vor allem aber ethisch begründeten.
Diese
 Haltung sekundierte und erhärtete die militante Geschichtsschreibung. 
Nikolaus Pevsner, ein brillanter deutscher Kunsthistoriker, der 1934 
nach England emigrierte, erklärte in seinem Buch «Pioneers of the modern
 movement from William Morris to Walter Gropius» die Bauhausarchitektur 
zur historischen, ja ethischen Notwendigkeit, weil allein sie den 
Zeitgeist darstelle. Damit legte er die Grundlage nahezu der gesamten 
Architekturgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, die Hegels 
Geistesgeschichte ebenso viel verdankt wie den kunsthistorischen 
Theorien von Einen Höhepunkt erreichte die Gleichsetzung von guter, also
 moderner Architektur und moralischer Rechtschaffenheit in Sigfried 
Giedions Arbeit, die 1948 im Bestseller «Space, Time and Architecture» 
einen ebenso fulminanten wie einflussreichen Niederschlag fand: Darin 
deutete Giedion die Entwicklung der architektonischen Moderne als 
grossen moralischen Kampf um die richtige Lösung der Probleme der Zeit. 
Den Beginn dieses Kampfes sah er im «Kreis um William Morris», der nach 
«einer moralischen, sauberen Form» strebte und damit der überfälligen 
Erfüllung des Zeitgeistes entgegenwirkte.
Mit
 dem Aufkommen der totalitären politischen Systeme in Europa, vor allem 
des Faschismus in Italien und des Nationalsozialismus in Deutschland, 
aber auch der stalinistischen Diktatur in der Sowjetunion sowie nach den
 Schrecken des Zweiten Weltkriegs kam zum weltanschaulichen Moralismus 
der politische hinzu: Architektur war nur dann ethisch, wenn sie einem 
demokratischen System diente. Dabei wurden beide Argumente vermischt und
 ebenso vereinfachende wie leichtfertige Gleichsetzungen verkündet: Die 
klassizistische Baukunst galt als unmoralisch, weil sie für die 
Repräsentation der Regime von Hitler und teilweise auch von Mussolini 
eingesetzt worden war, die moderne Architektur als moralisch, weil sie 
zu einer Widerstandsbewegung stilisiert wurde, die sie in Wirklichkeit 
nie gewesen war. Dass fast alle modernen Architekten Italiens zumindest 
in der ersten Phase des Faschismus begeisterte Parteigänger waren, wurde
 ebenso übergangen wie die Tatsache, dass nicht wenige moderne deutsche 
Architekten in der frühen Phase des Nationalsozialismus versuchten, für 
das Regime zu bauen – freilich vergeblich.
Es
 ist wahr, dass Architektur einen Staat nicht nur mit den erforderlichen
 Räumlichkeiten, sondern auch mit Bildern und Metaphern versorgt. 
Dadurch wird sie zu einer wichtigen Stütze seines politischen Systems. 
Aber diese Bilder und Metaphern sind mitnichten eindeutig und zuweilen 
sogar austauschbar: Giuseppe Terragnis Casa del Fascio in Como, ein 
Höhepunkt der klassischen Moderne, verbildlicht das faschistische Regime
 ebenso wie Albert Speers plump klassizistische Neue Reichskanzlei in 
Berlin die Terrorherrschaft Hitlers.
Die Architekten müssen mit ihrem Gewissen ausmachen, für wen sie bauen wollen und für wen nicht.
Doch
 auch jenseits von derlei Aporien droht die Frage nach der Moral des 
Auftraggebers in einen architektonischen Moralismus abzugleiten. Sind 
die modernen Dörfer, die in den 1950er und 1960er Jahren im Zusammenhang
 mit Spaniens «Innerer Kolonisation» entstanden, die das Franco-Regime 
zur Unterstützung seiner Agrarwirtschaft initiierte, ungeachtet ihrer 
städtebaulichen, architektonischen und funktionalen Qualitäten als 
schurkenhaft abzutun? Oder die neuen Städte und neuen Architekturen, die
 im totalitären China entstanden sind, das nicht nur politisch 
Andersdenkende, sondern auch Tibet brutal unterdrückt? Oder die 
ambitionierten Prachtbauten im semidemokratischen Russland und in den 
autokratischen arabischen Emiraten?
Der
 Vorwurf der Kollaboration mit politischen Systemen, die 
menschenrechtliche und demokratische Prinzipien missachten, trifft nicht
 die Architektur, sondern allenfalls die Architekten. Die Architekten müssen mit ihrem Gewissen ausmachen, für wen sie bauen wollen und für wen nicht. Wenn
 sie gut ist, ist ihre Arbeit zweckdienlich und künstlerisch zugleich, 
entwickelt eine Wirkungsmacht jenseits aller Herrschaftsgelüste, pflegt 
einen ästhetischen Eigensinn. Sie mit den Mächten gleichzusetzen, die 
sie gleichzeitig bedient und unterläuft, greift zu kurz. Und unterstellt
 der Architektur einen instrumentellen Charakter, der ihr nicht eigen 
ist – zumindest nicht in linearer und eindimensionaler Form. Genau dies 
aber tun die moralisierenden Architekturdiskurse, die sich bei genauerer
 Betrachtung als mehr oder weniger durchsichtige Tricks entpuppen, um 
mit hehren Scheinargumenten einen Architekturstil als den einzig 
richtigen herauszustellen: die Neugotik, die klassische Moderne, den 
ökologischen Pragmatismus.
Dauerhaftigkeit ist nachhaltig
Und
 doch hat die Architektur eine moralische Dimension inne: Sie leitet 
sich aus ihrer Verpflichtung gegenüber dem Bauherrn ab. Der Architekt 
ist dessen Treuhänder: Die Gebäude, die er entwirft, müssen nutzbar und 
nützlich sein, also aufs Beste die Aufgaben erfüllen, für die sie 
bestimmt sind. Sie müssen sparsam sein, um keine überflüssigen Kosten zu
 verursachen. Sie müssen werthaltig sein, um den Unterhalt zu minimieren
 und eine lange Lebenszeit zu haben. Das mag selbstverständlich 
erscheinen, ist es aber kaum. Zahlreiche Wohnungen, die heute gebaut 
werden, sind unbequem geschnitten, Stauraum sucht man darin vergebens, 
die Decken sind zu niedrig, fensterlose Bäder sind gang und gäbe. Die 
öffentlichen Bauten, vor allem die Museen, erfüllen ihre ureigene 
Aufgabe mehr schlecht denn recht, weisen dafür überflüssige 
Repräsentationsräume auf und sind aus Materialien konstruiert, die 
schnell und unansehnlich altern.
Der
 Architekt ist aber nicht nur dem Bauherrn gegenüber moralisch 
verpflichtet, sondern auch und vor allem der Gesellschaft. Seine Gebäude
 müssen über die Aufgaben hinaus, die ihr Programm enthält, auch 
öffentliche erfüllen. Sie müssen nicht nur die Ressourcen des Bauherrn, 
sie müssen auch jene unserer Welt schonen: und nicht nur ihre Energie, 
sondern auch ihre Bodenschätze. Ausserdem sollen sie so wenig Müll und 
Verschmutzung wie möglich verursachen. Das erreichen sie in erster Linie
 nicht dadurch, dass sie einem modischen Öko-Stil frönen und sämtliche 
Erker abschaffen, sondern indem sie lange halten. Die Dauerhaftigkeit 
ist der Schlüssel der Nachhaltigkeit.
Die Dauerhaftigkeit ist der Schlüssel der Nachhaltigkeit.
Auch
 dies trifft heute nur selten zu. Die Lobbys der Bauindustrie, von 
rigiden Energiesparverordnungen und willigen 
Zertifizierungsinstitutionen sekundiert, nötigen geradezu die 
Wärmeverbundkonstruktionen mit Aussendämmung und Zwangsbelüftung auf, 
die nicht nur einen exzessiven Aufwand und überflüssige Kosten 
verursachen, sondern auch eine schlechte ökologische Bilanz bei ihrer 
Produktion aufweisen, von kurzer Lebensdauer sind und kaum Behaglichkeit
 in den luftdicht versiegelten Wohnungen erzeugen – um von der 
trostlosen ästhetischen Anmutung gar nicht zu sprechen. Dabei gäbe es 
alternative Bauweisen, vom Einsteinmauerwerk über 
Holzmassivkonstruktionen bis zum Lehmbau, die effizienter, 
kostengünstiger, langlebiger, gesünder und schöner sind. Solcherlei 
Experimente, die gegenwärtig kaum ein Investor oder dessen Bauabteilung 
auf sich zu nehmen bereit ist, erfordern Mut, Beharrlichkeit und eine 
klare ethische Haltung.
Emotionen wecken
Zu
 den kostbaren und endlichen Ressourcen unserer Welt gehört auch die 
Landschaft. Die Neubauten müssen möglichst wenig davon verbrauchen, also
 eine angemessene Höhe aufweisen und klug und dicht aneinandergestellt 
werden – so, wie es fast alle Altbauten bereits sind. Noch eine weitere 
Verpflichtung obliegt der Architektur, und zwar sowohl dem Bauherrn als 
auch der Gesellschaft gegenüber: Sie muss schön sein. Nur dann kann sie 
sämtliche Bedürfnisse erfüllen, die materiellen sowie die immateriellen,
 und neben den pragmatischen Erwartungen, die an sie gestellt werden, 
auch Emotionen wecken. Zudem wird sie damit zur Nachhaltigkeit 
beitragen: Denn ein schönes Gebäude wird eher gepflegt und lange 
erhalten als ein hässliches. Ist es damit ethisch? Vielleicht. Denn 
nicht jede schöne Architektur ist moralisch, aber jede moralische 
Architektur ist schön.
Prof. Dr. Vittorio Magnago Lampugnani lehrt 
Städtebaugeschichte an der ETH Zürich



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