Dienstag, 23. August 2016

Warum die bürgerliche Kultur immer auch ein bisschen anti-bürgerlich ist.


Jakob van Hoddis, "Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut"

Die Geschöpfe der "bürgerlichen" Kultur sind Geschöpfe der Kleinbourgeoisie: Jene stellt nicht 'das Kapital' dar, sondern stellt sich dar unter der Herrschaft des Kapitals: sich als "den Menschen" - und dessen Existenz, subsumiert unter das Kapital, ist "Zerrissenheit" - nämlich das Hin und Her der kleinen Bürger, irgendwie dazu gehörend, aber eben nicht genug; mit-zeh-rend, aber unbefriedigt... So ist die "bürgerliche" Kultur immer auch ein bisschen anti-bürgerlich, die Bohème ist die Strau-ßenfeder am Hut des Philisters.

Alles, was Nietzsche über die Wagnerei sagt, ist nur Diagnose dieser Kleinbürgerlichkeit der "bürgerlichen" Kultur. Was Wunder also, daß die bürgerliche Epochen keinen gültigen Stil gefunden hat - notamment in der Architektur: Es ist im Wesen eine second-hand-Kultur - eine Stellvertreterkultur nicht der Subjekte der kapitalistischen Herrschaft, sondern nur ihrer Kost-gänger. Die ideologische Kostgängerei ist in den hochentwickelten industriellen Gesellschaften ein besonderer, ein eminenter Industriezweig, nicht etwa faux-frais, sondern ein wirtschaftlicher Faktor ersten Ranges: Das Mehrprodukt wird zu erheblichem Maß als Revenü zirkuliert und schafft dem Kapital eine massenhafte Klientel: Sie ist die wahre, mittlerweile einzig solide Basis der demokratischen Herrschaftsform: Es handelt sich, wer hätte das gedacht, um die Bürokratie "unter jeglicher Gestalt". Ihr Rekrutierungsfeld ist die Masse der längst expropriierten Kleinbourgeoisie, ihre fine fleur: die Lehrer. 

Dies ist die Masse, die die bürgerliche Kultur trägt, die sie massenhaft sekretiert, sie wird derart zur demokratisch herrschen-den Macht: Die "bürgerliche", nämlich kleinbürgerliche Kultur ist eo ipso Massenkultur. Das immer auch vorhandene Avant-garde-Element - die Trennung von plat de résistance und Avantgarde ist eine Kreation der "bürgerlichen" Kultur! - ist immer Elite, esoterisch, überheblich, sie erlaubt sich anti-Bürgerlichkeit, zu Zeiten selbst Revolutionarität, sie darf, sie soll!  Sie wird dafür bezahlt - freilich knapp, sonst erschlafft der Elan.

Ja, es ist wahr, es ist die Kleinbourgeoisie, die in der bürgerlichen Gesellschaft der Quell, der fruchtbare Boden aller kulturellen Schöpfung ist - der Ideen wie der Werke; vor allem indessen der kulturellen Massenproduktion - und die ist eben der letzte Dreck, von R. Wagner bis E. Blech, vom Antisemitismus bis zu gesunden und gewaltarmen Alternativen, es ist samt und sonders décadence, wie Nietzsche sagt.   

Nietzsche kommt selbstverständlich auch da her, aber bevor er auch da hin kommen konnte, musste er in die Krallen der Frau Dr. Foerster fallen.

aus e. Notizheft, 10. 3. 1986


Nota. - Von der kulturellen Massenproduktion habe ich inzwischen eine mildere Meinung, fast ein bisschen auch von R. Wagner. Ansonsten hat sich in den seither vergangenen dreißig Jahre nichts ereignet, war mein Urteil über die bürgerliche Klasse im Wortsinn zu verbessern geeignet wäre. Es ist eigentlich alles nur noch schlimmer geworden. Was ich dagegen über die Kleinbourgeoisie schrieb, klingt ja fast schon enthusiastisch; aber sie ist längst schon im großen Sumpf der Angestelltenzivilisation versunken, was früher Avantgarde war, ist jetzt nur noch Gezier.

Worauf ich im Nachhinein besonders den Finger legen will: Das lebende Zeugnis dafür, dass die bürgerliche Kultur nicht bürgerlich, sondern kleinbürgerlich ist, ist - war! - die Schlüsselrolle der Avantgarde. Die gibt es nun allerdings auch nicht mehr.
JE



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