aus Über Ästhetik, Rohentwurf, 19.
'Form ist geronnene Tätigkeit.'Recte: Absichtsvolle Tätigkeit, die ihren Zweck erreicht, zeitigt jedesmal bestimmte Form. Je mehr aber die (bürgerliche) Lebenswelt (die Stadt) mit Dingen angefüllt ist, die aus absichtsvoller Tätigkeit stammen (Arbeitsprodukte=Waren), kann es nicht ausbleiben, daß auch die anderen Dinge, die nicht aus Arbeit stammen, sondern von Natur aus ('in der Natur') da sind, so angeschaut werden, als ob sie aus absichtsvoller Tätigkeit stammten; also als ob ihre Form nicht eine zufällige, sondern eine beabsichtigte sei; als ob 'die Natur' ein Arbeiter sei! Das nennt Kant dann "zweckmäßig ohne Zweck".
(Im Mittelalter galt 'Natur' noch als das schlechthin Formlose, Ungestalte - Wilde (nicht den Theologen vielleicht, aber den Lebenden; dagegen die Stadt Abbild des 'himmlischen Jerusalem'; vid. romanische Kathedrale, Stadtgründungen im 12. Jahrhundert; Kloster-Gärten). - In der Renaissance erscheint sie als das zu-Gestaltende; Stadtplanung! Schloß-Parks (Villa D'Este/Tivoli, 1549)! - Rationalismus: 'französischer Garten' gegen die rohe Natur. - Mit der Aufklärung werden dann Kant & Co. nicht müde, sich immer wieder an der "wunderbaren Zweckmäßigkeit" zu ergötzen, nach der die Natur angeblich sich selbst eingerichtet hätte (englischer Garten als die Natur, wie sie sein sollte; Kants "Zweckmäßigkeit ohne Zweck" par excellence. - Was nach anderthalb Jahrhunderten Darwinismus, da die Evolutionslehre in den Bestand des Volksvorurteils eingegangen ist, keiner mehr recht "nachvollziehen" kann...) Wenn aber in einer Naturform eine Absicht prima facie nicht zu erkennen war, dann machte das ihren Rätselcharakter aus - ihren ästhetischen Reiz!
Den Anblick des aufgepeitschten Meeres findet Kant bezeichnenderweise weder "schön" (verborgen zweckmäßig) noch "erhaben" (jenseits allen Maßes), sondern bloß... "grässlich"! [KU/WW X, S. 166; man müsse sein "Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben", um dem Anblick was abzugewinnen.] Aber schon ein paar Jahre später - mit der Romantik, Anbruch der Moderne - hat man (=die Avantgarde, nicht der Vulgus) es dann satt, allenthalben von Zweckmäßig- keit (als dem Philistrium par excellence) umgeben zu sein, und ergötzt sich gerade an den Dingen, die nicht aus absichtsvoller Tätigkeit hervorgegangen sind - und nennt sie Natur, mit einer Emphase, die der Vokabel nie zuvor beigelegt worden ist.
[vgl. 22]
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