Sonntag, 22. Dezember 2013

Architektonische Verelendung: das Beispiel Mailand.

aus NZZ, 14. 12. 2013                                                                                                  Fotocollage von Filip Dujardin
  
Metaphern eines Niedergangs
Die grossen Meister der italienischen Architektur sind abgetreten - neue sind keine in Sicht.  

Von Vittorio Magnago Lampugnani

Noch vor dreissig Jahren zählte Italiens architektonische Kultur zur internationalen Avantgarde. Nach einem rasanten Niedergang, der parallel zur politischen und sozialen Krise verlief, findet man heute kaum noch nennenswerte Architektur, auch wenn mehr denn je gebaut wird. Bezeichnend ist der Fall Mailand.

Im ersten Heft der Zeitschrift «Domus», das er herausgab, beschwor Ernesto Nathan Rogers in einem berührenden Editorial über das «Haus des Menschen» ein stark beschädigtes Gebäude, das Wind und Regen ausgesetzt und von dem Wehgeschrei der Frauen und Kinder erfüllt war. Er schrieb diese Metapher im Januar 1946: Sie bezog sich auf die Architektur, aber auch und vor allem auf die Gesellschaft, deren Gefüge der Faschismus und der Krieg zerstört hatten. Der Wiederaufbau, den sich der intellektuelle Architekt erhoffte, der wenige Jahre später mit seinen Kollegen vom Studio BBPR für den Bau des Torre Velasca im Zentrum von Mailand verantwortlich zeichnete, war nicht nur jener der Architektur, sondern auch jener der moralischen, ästhetischen, sozialstaatlichen und politischen Werte und Strukturen.

Torre Velasca, Mailand

Gesellschaftliche Aspekte

Das heutige Italien ist nicht durch einen Krieg geschwächt, sondern durch politische Ereignisse, welche die Bürgerrechte erodiert und die Gesellschaft geschwächt haben. Die wirtschaftliche Krise, die das Land im Griff hält, ist nur ein Symptom dieser Zerstörung. Die Architektur, die notwendigerweise der Gesellschaft die Form gibt, die sie verlangt und die ihr entspricht, befindet sich in demselben desolaten Zustand.

Der Niedergang war rasch und überaus dramatisch. Noch vor dreissig Jahren gehörte Italiens architektonische Kultur zur internationalen Avantgarde: In Italien fanden die anregendsten Debatten statt, in Italien wurden die wichtigsten Bücher und Zeitschriften publiziert, in Italien wurden die bedeutendsten Architekturprojekte gezeichnet und realisiert. Tatsächlich waren die Entwürfe zahlreicher als die realisierten Projekte, aber die architektonisch Interessierten diskutierten sie weltweit und liessen sich von ihnen inspirieren.

Giorgio Grassi, Casa dello studente di Chieti 1971

Von alledem findet sich heute nichts und auch kaum mehr die Erinnerung. Der italienische theoretische Diskurs ist inexistent, und wo Architekturkritik noch vorhanden ist, beschränkt sie sich auf die platte und lobende Beschreibung der Objekte. Die Bücher sind nahezu ausnahmslos solche, die um der akademischen Karriere willen produziert werden müssen: Sie genügen den wissenschaftlichen Anforderungen immer weniger und entspringen immer seltener der Forscherneugier der Autoren. Die historischen Zeitschriften, unter starken kommerziellen Druck geraten, geben zunehmend jede kulturelle Kontinuität auf und ergeben sich den Zeitströmungen, die sie nicht infrage zu stellen wagen.

Vittorio Gregotti, Quartiere Bicocca, Milano

Kein Raum des Nachdenkens

Die neuen Magazine scheinen kein Raum des Nachdenkens mehr zu sein, sondern ausschliesslich Orte meist unredlicher Allianzen. Und die Architekten? Die grossen Meister sind tot, sehr alt oder resigniert; mancher baut weiter, aber ohne Lust, etwas anderes zu suchen als den Grossauftrag und die starke formale Präsenz. Auch ihre Schüler sind nicht mehr die Jüngsten, und fast keiner hat es geschafft, einen eigenen, autonomen und inhaltlich überzeugenden Weg zu finden: Entweder imitieren sie ihre Mentoren, was deren (gebaute) Poesie zur Karikatur verkommen lässt, oder sie verweigern sich mit verzweifelter Halsstarrigkeit allem, was jener Poesie nahekommt. Die neue Generation ist mehrheitlich prinzipienlos wie das soziale und politische Umfeld, das sie genährt hat: Sie wählt die intellektuell leichte und oftmals lukrative Abkürzung des wohl unpassenden, aber einnehmenden Spektakels. Dies auch deshalb, weil die Bauherrschaft, ob öffentlich oder privat, nicht mehr, aber auch nicht weniger verlangt. Mit anderen Worten: Sie wollen keine Risiken eingehen, das Ergebnis soll aber dennoch experimentell erscheinen.

Aldo Rossi, Quartiere Gallaratese 

Ist dieser Befund zu pessimistisch? Nehmen wir den Fall Mailand. Nach den ruhmreichen dreissiger und fünfziger Jahren hat die selbsternannte moralische Hauptstadt Italiens nicht einmal in den wirtschaftlich und kulturell aussergewöhnlichen sechziger und achtziger Jahren grosse Architekturen geschaffen, obwohl viele der besten Architekten in ihr lebten. Giorgio Grassi hat nichts gebaut; Aldo Rossi wenigstens das eine und das andere, darunter nichts Geringeres als das legendäre Wohngebäude im Quartiere Gallaratese und das Denkmal in der Via Manzoni; Vittorio Gregotti das Stadtviertel Bicocca. Doch ausser diesem waren damals kaum grössere Überbauungen geplant, und die wenigen waren in der Hand von Spekulanten, die an alles dachten ausser an Architektur. Heute gibt es wichtige Projekte, von dem neuen Quartier an der Porta Nuova bis zu jenem auf dem ehemaligen Messegelände, aber es werden höchstens mittelmässige Bauten realisiert. Sie wirken fast alle alt, und dies nicht nur, weil sowohl die Entwürfe als auch deren Autorinnen und Autoren inzwischen betagt dastehen: Sie sind kulturell angestaubt.

Milanoprogetto Porta Nuova

Unweit des Hauptbahnhofs entsteht ein Gemisch von architektonisch belanglosen Wolkenkratzern, ausgenommen vielleicht das Verwaltungsgebäude der Regione Lombardia von Henry N. Cobb, mit öffentlichen Plätzen, die so wenig einladend sind, dass sie es mit der unglücklichsten amerikanischen Stadt aufnehmen können. Und an der alten Messe zelebrieren die exaltierten und überflüssigen Extravaganzen von Zaha Hadid, Arata Isozaki und Daniel Libeskind unter dem einfallslosen Etikett «City Life» das Debakel der italienischen Architektur, die, statt eigene Forschungen voranzubringen oder jener ausländischer Baumeister Raum zu geben, die Repräsentanten des internationalen Starsystems auffordert, experimentell überholte (und fragwürdige) Häuser, die anderswo bereits ähnlich gebaut worden sind, mit kleinsten Veränderungen zu reproduzieren.

Zona Fiera Milano

Die beiden letzten noch verfügbaren grossen innerstädtischen Areale werden nicht benutzt, um die Stadt mit ihrem Netz von Strassen, Plätzen und Parks auszubessern, zu ergänzen und zu bereichern; stattdessen werden sie den Spekulanten zum Frass vorgeworfen und mithilfe anerkannter Architektenmarken wenn nicht respektabel, so doch wenigstens akzeptabel bebaut.

Aber der Fall Mailand ist noch bezeichnender - und noch viel peinlicher. Weil in Mailand gebaut wird, viel gebaut wird; jedenfalls weit mehr als die genannten Projekte. Es sind Operationen, die heimlich umgesetzt werden, ohne publizistischen Lärm und ohne Namen von Architekten zu nennen. Tatsächlich sind es Operationen, die ohne Architektur realisiert werden. Das hat immer stattgefunden, und es ist zu befürchten, dass es weiterhin stattfinden wird: Unzählige Vororte der grossen Städte sind so entstanden und wuchern auf diese Weise weiter. Aber dass ein öffentliches Gebäude wie die Stazione Milano Centrale klammheimlich so verunstaltet wird, wie es gerade geschehen ist und noch geschieht, ist ein neues und erstaunliches Phänomen.

Riqualificazione di Milano Centrale

Es handelt sich um eine Verunstaltung, die einen grossartigen funktionellen und monumentalen Bahnhof in ein billiges Einkaufszentrum verwandelt hat - und zwar unter der Indifferenz sowohl des Publikums, das sich, um die Züge zu erreichen, resigniert mit einer Abfolge von unnötigen und zeitaufwendigen Umleitungen arrangiert, als auch der zeitgenössischen Architekturkritik, die scheinbar verstummt vor einer unsäglich unbeholfenen Restaurierung und einer Reihe von stümperhaften Eingriffen.

Hoffnung auf einen Wandel

Dieses neue Phänomen widerspiegelt jedoch getreu den derzeitigen Zustand der italienischen Gesellschaft, die das Bewusstsein ihrer selbst und den Mut, die eigenen Rechte einzufordern, verloren zu haben scheint; unter anderem das Recht, bei der Pflege und der Bestimmung der öffentlichen Räume mitzuwirken. Der Befund ist und bleibt dramatisch, aber nicht ohne Hoffnung. Hoffnung auf eine politische Rehabilitation, Hoffnung auf eine ökonomische Neuordnung, Hoffnung auf einen Wandel der Architektur. Positive Anzeichen sind da, in einigen Zeitschriften, in ein paar Büchern, bei verschiedenen Projekten, von ausländischen, aber auch von italienischen Architekten. Hoffentlich sehen wir bald noch mehr davon, und hoffentlich von immer besserer Qualität.

Prof. Dr. Vittorio Magnago Lampugnani lehrt Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich, ist Architekt in Mailand und Autor zahlreicher Publikationen, darunter «Stadt-Bau als Handwerk. 11 Gespräche und 7 Projekte, 1999-2011», erschienen im GTA-Verlag, Zürich.


Gabriele Basilico, Via Giovanni Bensi

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